Kapitel 32

Ich vermute, Booker hat dieses elegante Restaurant ausgesucht, weil er gute Nachrichten hat. Echtes Silberbesteck. Leinenservietten. Er muß einen Mandanten haben, der das bezahlt.

Er kommt eine Viertelstunde zu spät, sonst gar nicht seine Art, aber er ist neuerdings ein vielbeschäftigter Mann, und seine ersten Worte sind:»Ich habe bestanden«. Wir trinken unser Wasser, während er mir in allen Einzelheiten die Geschichte seiner Berufung beim Juristischen Prüfungsausschuß erzählt. Sein Examen wurde noch einmal überprüft, die Punktezahl um drei heraufgesetzt, und jetzt ist er ein richtiger Anwalt. Ich habe ihn noch nie so oft lächeln sehen. Außer ihm haben aus unserer Gruppe nur noch zwei mit Erfolg Berufung eingelegt. Sara Plankmore gehört nicht zu ihnen. Booker hat ein Gerücht gehört, daß sie absolut miserabel abgeschnitten hat und sogar Gefahr läuft, ihren Job beim Bundesanwalt zu verlieren.

Trotz seiner Proteste bestelle ich eine Flasche Champagner und weise den Kellner an, mir die Rechnung zu geben. Geld kann man eben nicht verstecken.

Das Essen kommt. Es sind unglaublich winzige, aber sehr hübsch angerichtete Scheibchen Lachs, und wir bewundern ihn eine Weile, bevor wir ihn verspeisen. Shankle läßt Booker in dreißig Richtungen gleichzeitig rennen, fünfzehn Stunden am Tag, aber Charlene ist eine Frau mit sehr viel Geduld. Ihr ist klar, daß er in diesen Anfangsjahren Opfer bringen muß, um später die Belohnung einkassieren zu können. Fürs erste bin ich froh, daß ich weder Frau noch Kinder habe.

Wir unterhalten uns über Kipler. Er und Shankle hatten eine nette kleine Unterhaltung, von der so einiges durchgesickert ist. Anwälten fällt es sehr schwer, Geheimnisse zu bewahren. Shankle hat Booker gegenüber erwähnt, daß Kipler ihm gegenüber erwähnt habe, daß sein Freund, also ich, einen Fall hätte, der Millionen wert sein könnte. Offensichtlich ist Kipler inzwischen überzeugt, daß ich Great Benefit am Kanthaken habe und es jetzt nur noch darum geht, wieviel die Geschworenen uns zusprechen werden. Kipler ist entschlossen, dafür zu sorgen, daß ich in einem Stück vor die Jury trete.

Welch wundervoller Klatsch.

Booker will wissen, was ich sonst noch so mache. Hört sich an, als hätte Kipler vielleicht außerdem etwas in dem Sinne erwähnt, daß ich offensichtlich nur wenig zu tun habe.

Beim Käsekuchen sagt Booker, er hätte ein paar Akten, die ich mir vielleicht gern ansehen würde. Das zweitgrößte Möbelgeschäft in Memphis heißt Ruffin's, eine im Besitz von Schwarzen befindliche Firma mit Läden überall in der Stadt. Jeder kennt Ruffin's, vor allem deshalb, weil sie die Abendshows im Fernsehen mit Spots überschwemmen, in denen alle möglichen Sonderangebote ohne Anzahlung angepriesen werden. Die machen etwa acht Millionen Dollar pro Jahr, sagt Booker, und Shankle ist ihr Anwalt. Sie vergeben ihre eigenen Kredite, und sie haben Unmengen von säumigen Schuldnern. Das liegt in der Natur ihres Geschäfts. Und jetzt hat die Kanzlei Shankle Hunderte von Inkassoakten für Ruffin's-Kunden.

Ob ich ein paar von diesen Akten haben wollte?

Das Inkassorecht ist nicht der Grund dafür, daß intelligente junge Leute Jura studieren. Die Beklagten sind Leute, die billige Möbel gekauft haben und jetzt mit ihren Zahlungen im Verzug sind. Der Mandant will die Möbel nicht wiederhaben, sondern nur das Geld. In den meisten Fällen wird kein Widerspruch eingelegt, der Beklagte erscheint nicht vor Gericht, also muß der Anwalt persönliche Besitztümer oder den Lohn pfänden lassen. Das kann gefährlich sein. Vor drei Jahren wurde ein Anwalt in Memphis von einem wütenden jungen Mann angeschossen, dessen Gehaltsscheck gerade gepfändet worden war.

Wenn es sich lohnen soll, braucht ein Anwalt einen ganzen Stapel derartiger Akten, denn bei jeder Klage geht es nur um ein paar hundert Dollar. Das Gesetz erlaubt das gleichzeitige Eintreiben von Anwaltshonoraren und Kosten.

Es ist unerfreuliche Arbeit, aber — und das ist der Grund dafür, daß Booker sie mir anbietet — es läßt sich etwas Geld damit machen. Bescheidene Honorare, aber die Masse kann genügend einbringen, um die Unkosten zu decken und Lebensmittel einzukaufen.

«Ich kann dir fünfzig schicken«, sagt er,»zusammen mit den erforderlichen Formularen. Und ich werde dir helfen, den

ersten Schwung bei Gericht einzureichen. Dafür gibt es ein System.«

«Wie hoch ist das durchschnittliche Honorar?«

«Das ist schwer zu sagen, weil du bei manchen Akten keinen Pfennig herausholen wirst. Die Leute haben entweder die

Stadt verlassen oder Konkurs angemeldet. Aber im Durchschnitt würde ich sagen, so an die hundert Dollar pro Akte. «Fünfzig mal hundert macht fünftausend Dollar.

«Für eine durchschnittliche Akte brauchst du vier Monate«, erklärt er,»und wenn du willst, kann ich dir monatlich so an

die zwanzig schicken. Reiche sie alle gleichzeitig ein, bei demselben Gericht und demselben Richter, so daß sie alle am gleichen Tag zur Entscheidung kommen. Dann brauchst du nur einmal vor Gericht zu erscheinen. Nimm das Säumnisurteil, und mache von da aus weiter. Es ist zu neunzig Prozent Papierarbeit.«

«Ich tu's«, sage ich.»Gibt es sonst noch etwas, was ihr gerne

loswerden möchtet?«

«Vielleicht. Ich halte immer Ausschau.«

Der Kaffee kommt, und wir beschäftigen uns wieder mit dem, was Anwälte am besten können — über andere Anwälte

reden. In unserem Fall reden wir über unsere Mitstudenten und darüber, wie es ihnen in der wirklichen Welt ergeht. Booker ist wieder am Leben.

Deck bringt es fertig, völlig lautlos durch den winzigsten Spalt

einer offenen Tür hindurchzuschlüpfen. Das tut er bei mir ständig. Ich sitze an meinem Schreibtisch, tief in Gedanken

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«Arbeit.«

Er nimmt eine Akte in die Hand.»Ruffin's?«

«Ja, Sir. Wir arbeiten für die zweitgrößte Möbelfirma in Memphis.«

«Das ist eine Inkassoakte«, sagt er angewidert, als hätte er sich die Hand schmutzig gemacht. Und das von einem Mann, der von weiteren Raddampferkatastrophen träumt.

«Es ist ehrliche Arbeit, Deck.«

«Es ist dasselbe, als würden Sie mit dem Kopf gegen eine Wand rennen.«

«Ziehen Sie ab, und laufen Sie hinter einem Krankenwagen her.«

Er läßt meine Post auf den Schreibtisch fallen und verschwindet so lautlos, wie er gekommen ist. Ich hole tief Luft und öffne einen dicken Umschlag von Trent & Brent. Er enthält einen mindestens fünf Zentimeter dicken Stapel Papiere.

Drummond hat meine schriftlichen Fragen beantwortet, meinen Einlassungen widersprochen und einige der Dokumente beschafft, die ich verlangt hatte. Es wird mich Stunden kosten, mich da durchzuwühlen, und noch mehr Zeit, um herauszufinden, was er nicht beigebracht hat.

Von besonderem Interesse sind seine Antworten auf meine Fragen. Ich muß jemanden von der Versicherungsgesellschaft vernehmen, und er benennt einen Herrn namens Jack Underhall in der Zentrale der Gesellschaft in Cleveland. Außerdem habe ich die offiziellen Titel und Adressen mehrerer Angestellter von Great Benefit angefordert, auf deren Namen ich in Dots Unterlagen wiederholt gestoßen bin.

Mit Hilfe eines Formulars, das Richter Kipler mir gegeben hat, verfasse ich eine Vorladung zur Vernehmung von sechs Leuten. Ich wähle einen Tag in der nächsten Woche, in dem vollen Bewußtsein, daß Drummond anderweitig beschäftigt sein wird. Als es um Dots Vernehmung ging, hat er es mit mir nicht anders gemacht, so wird das Spiel eben gespielt. Er wird zu Kipler rennen, der wenig Mitgefühl aufbringen wird.

Ich bin im Begriff, ein paar Tage in Cleveland zu verbringen, in der Zentrale von Great Benefit. Das ist etwas, was ich gern vermeiden würde, aber ich habe keine andere Wahl. Es wird ein kostspieliger Ausflug werden — Fahrtkosten, Unterkunft, Verpflegung, Protokollantinnen. Deck und ich haben noch nicht darüber gesprochen. Ich hatte offen gestanden gehofft, daß er einen schnell abzuwickelnden Verkehrsunfall an Land ziehen würde.

Die Akte Black ist jetzt in den dritten Ordner übergequollen. Ich bewahre sie in einem Karton auf dem Fußboden neben meinem Schreibtisch auf. Jeden Tag betrachte ich sie viele Male und frage mich immer wieder, ob ich weiß, was ich tue. Wer bin ich, daß ich von einem ungeheuren Sieg im Gerichtssaal träumen könnte? Oder dem großen Leo F. Drummond eine beschämende Niederlage zu bereiten?

Ich habe noch nie ein Wort vor einer Jury gesprochen.

Vor einer Stunde war Donny Ray zu schwach, um am Telefon mit mir zu sprechen, also fahre ich zu ihrem Haus in Granger. Es ist Ende September, und ich weiß das genaue Datum nicht mehr, aber die Diagnose wurde vor mehr als einem Jahr gestellt. Als Dot an die Tür kommt, sind ihre Augen rot.»Ich glaube, es geht dem Ende zu«, sagt sie zwischen Schluchzern. Ich hätte es nicht für möglich gehalten, daß er noch schlechter aussehen könnte, aber sein Gesicht ist bleicher und zerbrechlicher als bisher. Er schläft, die Sonne steht tief am westlichen Himmel, und die Schatten fallen in exakten Rechtecken auf die weißen Laken auf seinem schmalen Bett. Der Fernseher ist ausgeschaltet. Im Zimmer herrscht Stille.

«Er hat heute überhaupt nichts gegessen«, flüstert sie, während wir auf ihn herabschauen.

«Hat er starke Schmerzen?«

«Nicht allzu große. Ich habe ihm zwei Spritzen gegeben.«

«Ich bleibe eine Weile bei ihm«, flüstere ich und lasse mich auf einem Klappstuhl nieder. Sie verläßt das Zimmer. Ich höre sie auf dem Flur schluchzen.

Soweit ich es beurteilen kann, könnte er schon tot sein. Ich konzentriere mich auf seinen Brustkorb, warte darauf, daß er sich leicht hebt und senkt, aber ich kann nichts entdecken. Das Zimmer wird dunkler. Ich schalte eine kleine Lampe auf einem

Tisch neben der Tür an, und er bewegt sich ein wenig. Seine Augen öffnen sich und fallen dann wieder zu.

So also sterben die Unversicherten. In einer Gesellschaft voll reicher Ärzte und funkelnder Krankenhäuser und mit den allerneuesten medizinischen Gerätschaften und dieser Unmenge von Nobelpreisträgern in aller Welt ist es empörend, daß jemand wie Donny Ray dahinsiechen und ohne angemessene ärztliche Behandlung sterben muß.

Er hätte gerettet werden können. Von Gesetzes wegen stand er voll und ganz unter dem Schirm von Great Benefit, so löchrig er auch war, als diese schreckliche Krankheit ausbrach. Zu dem Zeitpunkt, als die Diagnose gestellt wurde, war er durch eine Police gedeckt, für die seine Eltern gutes Geld gezahlt hatten. Von Gesetzes wegen war Great Benefit vertraglich verpflichtet, für seine Behandlung aufzukommen.

Ich hoffe, eines Tages in naher Zukunft den Menschen kennenzulernen, der für seinen Tod verantwortlich ist. Dabei kann es sich um einen bescheidenen Schadensregulierer handeln, der lediglich Anweisungen befolgte. Es kann sich um einen Vizepräsidenten handeln, der die Anweisungen erteilt hat. Ich wollte, ich könnte jetzt ein Foto von Donny Ray machen und es dann, wenn wir uns endlich begegnen, dieser armseligen Person unter die Nase halten.

Er hustet, bewegt sich wieder, und ich glaube, er versucht mir zu sagen, daß er noch am Leben ist. Ich schalte das Licht aus und sitze in der Dunkelheit.

Ich bin allein und unerfahren, habe Angst und stehe einer Übermacht entgegen, aber ich bin im Recht. Wenn die Blacks diesen Prozeß nicht gewinnen, dann ist dieses System restlos unfair.

Irgendwo in der Ferne geht eine Straßenlaterne an, und ein einzelner Lichtstrahl fällt durchs Fenster und quer über Donny Rays Brustkorb. Jetzt bewegt er sich, ganz leicht auf und nieder. Ich glaube, er versucht aufzuwachen.

Es wird nicht mehr viele Momente geben, in denen ich in diesem Zimmer sitze. Ich starre auf seinen unter den Laken kaum sichtbaren ausgemergelten Körper und schwöre Rache.

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