Wir wußten, daß er in der Post sein mußte, aber erst die schweren Schritte verraten mir, daß er eingetroffen ist. Deck stürmt, den Umschlag schwenkend, in mein Büro.»Er ist da! Er ist da!«
Er reißt den Umschlag auf, zieht vorsichtig den Scheck heraus und legt ihn auf meinen Schreibtisch. Wir bewundern ihn. Fünfundzwanzigtausend Dollar von State Farm! Es ist Weihnachten.
Da Derrick Dogan immer noch an Krücken geht, fahren wir mit den Papierkram zu ihm. Er unterschreibt, wo er unterschreiben soll. Wir teilen das Geld auf. Er bekommt genau 16.667 Dollar, und wir bekommen genau 8.333 Dollar. Deck wollte ihm noch ein paar Unkosten aufhalsen — Kopierer, Porto, Telefongebühren und eine Menge anderen Kleinkram, den die meisten Anwälte bei der Abrechnung aus ihren Mandanten herauszuquetschen versuchen —, aber ich habe nein gesagt.
Wir verabschieden uns von ihm, wünschen ihm alles Gute, versuchen, angesichts dieser betrüblichen kleinen Episode ein bißchen Mitgefühl zu bezeugen. Gar nicht so einfach.
Wir haben beschlossen, jeder dreitausend zu nehmen und den Rest für die unvermeidlichen mageren Monate, die noch vor uns liegen, in der Kasse zu lassen. Die Kanzlei zahlt uns ein gutes Essen in einem eleganten Restaurant in Ost-Memphis. Die Kanzlei hat jetzt eine goldene Kreditkarte, ausgestellt von einer krebsenden, offensichtlich von meinem Anwaltsstatus beeindruckten Bank. Um die Fragen auf dem Antragsformular, die sich auf frühere Konkurse bezogen, habe ich mich herumgedrückt. Deck und ich haben uns die Hand darauf gegeben, daß die Karte nie benutzt wird, sofern wir nicht beide zugestimmt haben.
Ich nehme meine dreitausend und kaufe mir einen Wagen. Er ist alles andere als neu, aber es ist der, von dem ich geträumt habe, seit der Dogan-Vergleich zur Gewißheit wurde. Es ist ein 1984er Volvo DL, blau, vier Gänge und Overdrive, in vorzüglichem Zustand und mit nur hundertzwanzigtausend Meilen auf dem Tacho. Das ist nicht viel für einen Volvo. Der einzige Vorbesitzer des Wagens war ein Bankier, der Spaß daran hatte, ihn selbst instand zu halten.
Ich habe mit dem Gedanken gespielt, mir etwas Neues zu kaufen, aber es widerstrebte mir, mich abermals zu verschulden.
Es ist mein erstes Anwaltsauto. Der Toyota bringt dreihundert Dollar, und von diesem Geld kaufe ich mir ein Autotelefon. Rudy Baylor kommt allmählich voran.
Ich habe den Entschluß, Weihnachten nicht in Memphis zu verbringen, schon vor Wochen getroffen. Die Erinnerungen an das vorige Jahr sind noch zu schmerzlich. Ich werde allein sein, und das ist leichter zu ertragen, wenn ich einfach wegfahre. Deck hat erwähnt, daß wir vielleicht zusammen fahren könnten, aber es war nur ein verschwommener Vorschlag ohne irgendwelche Details. Ich habe gesagt, daß ich wahrscheinlich meine Mutter besuchen würde.
Wenn meine Mutter und Hank nicht in ihrem Winnebago herumreisen, stellen sie das verdammte Ding hinter seinem kleinen Haus in Toledo ab. Ich habe das Haus und den Winnebago nie gesehen, und ich werde Weihnachten nicht mit Hank verbringen. Mutter hat kurz nach Thanksgiving angerufen und mich ziemlich schwächlich eingeladen, die Feiertage mit ihnen zu verbringen. Ich habe abgelehnt, weil ich angeblich zuviel zu tun hätte. Ich schicke ihr eine Karte.
Ich habe nichts gegen meine Mutter. Wir haben einfach aufgehört, miteinander zu reden. Die Kluft hat sich allmählich aufgetan, ganz ohne einen bestimmten, unerfreulichen Zwischenfall mit harten Worten, die zu vergessen Jahre dauern würde.
Wie Deck weiß, macht die gesamte Juristerei vom 15. Dezember bis kurz nach Neujahr Pause. Richter setzen keine Prozesse und Anhörungen an. Anwälte und ihre Kanzleien sind mit Büroparties und Essen fürs Personal beschäftigt. Für mich ist es eine ideale Zeit, die Stadt zu verlassen.
Ich packe die Unterlagen des Black-Falles in den Koffer raum meines Volvo, werfe ein paar Sachen zum Anziehe dazu, und fahre los. Dann rolle ich ziellos über kleine, zwe: spurige Straßen in grob nordwestlicher Richtung, bis ich i Kansas und Nebraska auf Schnee treffe. Ich schlafe in billige Motels, esse Fast food, schaue mir an, was es an Sehenswü] digkeiten gibt. Über die nördlichen Ebenen ist ein Winte] sturm hinweggefegt. Tiefe Schneeverwehungen säumen di Straßen. Die Prärien sind so weiß und still wie heruntergefal lene Kumuluswolken.
Die Einsamkeit der Straße gibt mir neue Kraft.
Am 23. Dezember treffe ich endlich in Madison, Wisconsii ein. Ich finde ein kleines Hotel, ein gemütliches Restaurant m warmem Essen, und ich durchwandere die Straßen der Inner stadt, als wäre ich ein ganz gewöhnlicher Mensch, der vo einem Geschäft zum nächsten eilt. Einige Dinge, die zu einei normalen Weihnachtsfest gehören, vermisse ich ganz und gE nicht.
Ich setze mich auf eine vereiste Parkbank, mit Schnee unte den Füßen, und höre einem Chor zu, der voller Inbrunst sein Weihnachtschoräle absingt. Niemand auf der Welt weiß, w ich mich im Augenblick befinde, weder in welcher Stadt, noc in welchem Staat. Ich liebe diese Freiheit.
Nach dem Essen und ein paar Drinks an der Hotelbar ruf ich Max Leuberg an. Er ist auf seinen Lehrstuhl als Juraprofes sor an der hiesigen Universität zurückgekehrt, und ich hab ihn ungefähr jeden Monat einmal angerufen, um seinen Re einzuholen. Ich habe ihm Kopien der meisten wichtigen Do kumente geschickt, dazu Kopien der Schriftsätze, der Beweis aufnahmen und fast aller Vernehmungen. Das FedEx-Pake hat vierzehn Pfund gewogen und fast dreißig Dollar gekoste' Deck war einverstanden.
Max scheint sich ehrlich zu freuen, daß ich in Madison bin Weil er Jude ist, spielt Weihnachten für ihn keine große Rolle und kürzlich hat er am Telefon gesagt, es wäre eine ideale Zei zum Arbeiten. Er hat mir den Weg beschrieben.
Als ich um neun Uhr am nächsten Morgen die Juristische
Fakultät betrete, beträgt die Temperatur minus zwölf Grad. Das Gebäude ist offen, aber menschenleer. Leuberg wartet in seinem Büro mit heißem Kaffee. Wir unterhalten uns eine Stunde so über einiges in Memphis, was er vermißt; die Juristische Fakultät gehört nicht dazu. Sein Büro hier hat sehr viel Ähnlichkeit mit seinem dort — überfüllt, unordentlich, mit politisch provokanten Postern und Aufklebern an den Wänden. Er sieht auch noch genauso aus — wirres, buschiges Haar, Jeans, weiße Turnschuhe. Er trägt Socken, aber nur, weil hoher Schnee liegt. Er ist aufgedreht und tatendurstig.
Ich folge ihm den Flur entlang zu einem kleinen Seminarraum mit einem langen Tisch in der Mitte. Er hat den Schlüssel. Auf dem Tisch sind die Unterlagen ausgebreitet, die ich ihm geschickt habe. Wir lassen uns einander gegenüber auf Stühlen nieder, und er schenkt Kaffee aus einer Thermosflasche nach. Er weiß, daß der Prozeß in sechs Wochen beginnt.
«Irgendwelche Vergleichsangebote?«
«Ja, mehrere. Inzwischen sind sie bei hundertfünfundsiebzigtausend angekommen, aber meine Mandantin sagt nein.«
«Das ist ungewöhnlich, aber es überrascht mich nicht.«
«Weshalb nicht?«
«Weil Sie sie am Kanthaken haben. Sie haben Angst vor der Bloßstellung, Rudy. Das hier ist einer der besten Versicherungsfälle, die mir je begegnet sind, und ich habe mir Tausende angesehen.«
«Da ist noch mehr«, sage ich, und dann erzähle ich von den Wanzen in unseren Telefonen und dem Beweis dafür, daß Drummond unsere Gespräche abhört.
«Das hat es auch schon mal gegeben«, sagt er.»Bei einem Fall in Florida. Aber der Vertreter der Anklage hat seine Telefone erst nach dem Prozeß überprüft. Er war argwöhnisch geworden, weil die Verteidigung immer zu wissen schien, was er vorhatte. Aber dies ist etwas anderes.«
«Sie müssen Angst haben«, sage ich.
«Sie sind starr vor Angst, aber lassen Sie uns nicht übermütig werden. Die sind da unten auf freundlichem Territorium. Ihr Staat hält nicht viel von Geldstrafen.«
«Also was schlagen Sie vor?«
«Stecken Sie das Geld ein.«
«Das kann ich nicht. Ich will es nicht. Meine Mandantin will es nicht«
«Gut. Es wird Zeit, diese Leute ins zwanzigste Jahrhundert zu bringen. Wo ist Ihr Aufnahmegerät?«Er springt auf und wandert im Zimmer herum. An einer Wand hängt eine Tafel, und der Professor ist bereit, seine Vorlesung zu halten. Ich hole den Recorder aus meinem Aktenkoffer und stelle ihn auf den Tisch. Stift und Notizblock liegen bereit.
Max legt los, und eine Stunde lang schreibe ich hektisch mit und bombardiere ihn mit Fragen. Er redet über meine Zeugen, ihre Zeugen, die Dokumente, die verschiedenen Strategien. Max hat das Material, das ich ihm geschickt habe, eingehend studiert. Der Gedanke, diese Leute festzunageln, macht ihm Spaß.
«Heben Sie sich das Beste bis zuletzt auf«, sagt der Professor.»Das Band mit diesem armen Jungen, kurz bevor er gestorben ist. Ich nehme an, er sah bemitleidenswert aus.«
«Schlimmer.«
«Großartig. Das wird einen tollen Eindruck auf die Geschworenen machen. Wenn es richtig funktioniert, können Sie in drei Tagen fertig sein.«
«Und dann?«
«Dann lehnen Sie sich zurück und sehen zu, wie sie versuchen, sich da rauszuwinden. «Er hält plötzlich inne, greift nach etwas auf dem Tisch und schiebt es mir zu.
«Was ist das?«
«Das ist die neue Police von Great Benefit, vorigen Monat für einen meiner Studenten ausgestellt. Ich habe dafür bezahlt, und nächsten Monat werden wir sie wieder kündigen. Ich wollte nur einen Blick auf den Text werfen. Raten Sie mal, was jetzt ausgeschlossen ist, in Fettdruck.«
«Knochenmarkstransplantationen.«
«Alle Transplantationen, einschließlich der von Knochenmark. Behalten Sie sie, und benutzen Sie sie beim Prozeß. Ich finde, Sie sollten den Generaldirektor fragen, weshalb die Police nur ein paar Monate, nachdem die Blacks Klage eingereicht hatten, geändert worden ist. Weshalb sind Knochenmarkstransplantationen jetzt eindeutig ausgeschlossen? Und wenn sie in der Black-Police nicht ausgeschlossen waren, weshalb haben sie dann nicht gezahlt? Gutes Material, Rudy. Vielleicht komme ich sogar nach Memphis und sehe mir den Prozeß an.«
«Bitte, tun Sie das. «Es wäre tröstlich, wenn außer Deck noch ein Freund da wäre, der mich beraten kann.
Max hat ein paar Probleme mit unserer Analyse der Schadensakte, und bald stecken wir bis über beide Ohren in Papier. Ich hole die vier Kartons aus meinem Kofferraum, und gegen Mittag sieht der Seminarraum aus wie eine Müllkippe.
Seine Energie ist ansteckend. Beim Lunch erhalte ich die erste von mehreren Lektionen über die Buchhaltung von Versicherungsgesellschaften. Da die Branche nicht dem Bundeskartellrecht untersteht, hat sie ihre eigenen Buchführungsmethoden entwickelt. Praktisch kein noch so erfahrener Buchprüfer kann das Finanzgebaren einer Versicherungsgesellschaft verstehen. Es soll auch nicht verstanden werden, denn keine Versicherungsgesellschaft will, daß die Außenwelt einen Einblick in ihre Machenschaften bekommt. Aber Max hat ein paar Anhaltspunkte.
Das Kapital von Great Benefit beträgt zwischen vierhundert und fünfhundert Millionen Dollar, von denen ungefähr die Hälfte in Rücklagen versteckt ist. Das ist es, was den Geschworenen erklärt werden muß.
Ich wage nicht, das Undenkbare vorzuschlagen, am ersten Weihnachtsfeiertag zu arbeiten, aber Max ist nicht zu bremsen. Seine Frau ist in New York bei ihrer Familie. Er hat nichts anderes zu tun und möchte tatsächlich, daß wir uns auch durch die restlichen beiden Kartons mit Dokumenten hindurcharbeiten.
Ich fülle drei Blöcke mit Notizen und ein halbes Dutzend Kassetten mit seinen Gedanken über alles mögliche. Als er, am 25. Dezember irgendwann nach Einbruch der Dunkelheit, endlich sagt, wir wären durch, bin ich völlig erschöpft. Er hilft mir, die Kartons wieder vollzupacken und sie zu meinem Wagen zu schleppen. Es schneit wieder heftig.
Max und ich sagen uns an der Vordertür der Fakultät auf
Wiedersehen. Ich kann ihm gar nicht genug danken. Er wünscht mir alles Gute, läßt mich versprechen, daß ich ihn vor dem Prozeß mindestens einmal die Woche anrufe und während des Prozesses jeden Tag. Es wäre durchaus möglich, daß er dazu nach Memphis käme, wiederholt er noch mal.
Zum Abschied winke ich ihm durch das Schneegestöber zu.
Ich brauche drei Tage, um nach Spartanburg, Ohio, zu kommen. Der Volvo liegt gut auf der Straße, vor allem im Schnee und Eis des Upper Midwest. Ich rufe Deck einmal über mein Autotelefon an. In der Kanzlei ist es ruhig, sagt er. Niemand hat nach mir gefragt.
Ich habe die letzten dreieinhalb Jahre damit verbracht, lange Stunden zu studieren, um meinen Abschluß zu schaffen, und zwischendurch, wann immer ich konnte, bei Yogi's zu arbeiten. Ich hatte kaum Freizeit. Diese Billigreise durch das Land mag den meisten Leuten öde vorkommen, aber für mich ist es ein Luxusurlaub. Er reinigt meinen Kopf und meine Seele, und er erlaubt mir, an andere Dinge als nur die Juristerei zu denken. Ich werfe einigen Ballast über Bord. Sara Plankmore zum Beispiel. Alter Groll wird abgetan. Das Leben ist zu kurz, um Leute zu verabscheuen, die einfach nichts dafür können, daß sie so etwas tun. Die schmerzhaften Sünden von Loyd Beck und Barry X. Lancaster erhalten irgendwo in West Virginia Absolution. Ich schwöre, damit aufzuhören, mir wegen Miss Birdie und ihrer elenden Familie Sorgen zu machen. Sollen sie ihre Probleme doch ohne mich lösen.
Über viele Meilen hinweg träume ich von Kelly Riker, von ihren perfekten Zähnen, den gebräunten Beinen und der melodischen Stimme.
Wenn ich mich mit juristischen Dingen beschäftige, konzentriere ich mich auf den bevorstehenden Prozeß. In meiner Kanzlei gibt es nur eine einzige Akte, die Aussicht hat, in die Nähe eines Gerichts zu kommen. Also gibt es auch nur einen Prozeß, an den ich denken muß. Ich übe meine Eröffnungsrede vor den Geschworenen. Ich knöpfe mir die Gangster von Great Benefit vor. Ich weine fast, als ich mein Schlußplädoyer halte.
Ich werde von ein paar Autofahrern, die mich überholen, angestarrt, aber wenn schon — niemand kennt mich.
Ich habe mit vier Anwälten gesprochen, die Great Benefit verklagt haben oder gerade verklagen. Die ersten drei waren nicht sehr hilfreich. Der vierte Anwalt wohnt in Spartanburg. Er heißt Cooper Jackson, und an seinem Fall ist irgend etwas eigenartig. Er wollte es mir am Telefon nicht sagen (dem Telefon in meiner Wohnung), aber er hat gesagt, ich könnte gern bei ihm vorbeikommen und mir seine Akte ansehen.
Er residiert in einem Bankgebäude in der Innenstadt, eine kleine Kanzlei mit sechs Anwälten in modernen Büros. Ich habe ihn gestern von irgendwo in North Carolina aus über mein Autotelefon angerufen, und er hat heute Zeit für mich. Um die Weihnachtszeit ist wenig zu tun, hat er gesagt.
Er ist ein untersetzter Mann mit massigen Gliedmaßen, einem dunklen Bart und sehr dunklen Augen, die mit ihrem Funkeln und Tanzen seine Mimik beleben. Er ist sechsundvierzig und erzählt mir, daß er sein Geld mit Produkthaftung verdient hat. Er vergewissert sich, daß seine Bürotür geschlossen ist, bevor er zum Thema kommt.
Das meiste von dem, was er mir zu erzählen gedenkt, dürfte er gar nicht erzählen. Er hat mit Great Benefit einen Vergleich geschlossen, und er und seine Mandantin mußten eine Vereinbarung unterschreiben, die sie zu strikter Vertraulichkeit verpflichtet und schwere Strafen androht, falls einer von ihnen die Bedingungen des Vergleichs publik machen sollte. Ihm sind derartige Vereinbarungen zuwider, aber sie sind nicht unüblich. Er hat die Klage vor einem Jahr für eine Dame eingereicht, die unter einem schweren Nebenhöhlenproblem litt und operiert werden mußte. Great Benefit lehnte den Anspruch mit der Begründung ab, daß die Dame auf ihrem Antrag anzugeben versäumt hätte, daß fünf Jahre bevor sie die Police kaufte, bei ihr eine Eierstockzyste entfernt worden war. Die Zyste gelte als Vorerkrankung, hieß es in dem Schreiben, mit dem ihr Anspruch abgelehnt wurde. Ihr Anspruch belief sich auf elftausend Dollar. Weitere Schreiben wurden ausgetauscht, weitere Ablehnungen, dann heuerte sie Cooper Jackson an. Er flog viermal nach Cleveland, mit seiner eigenen Maschine, und führte acht Vernehmungen durch.
«Die verschwiegensten und gerissensten Kerle, die mir je untergekommen sind«, sagt er über die Leute in Cleveland. Jackson liebt harte Prozesse und spielt das Spiel ohne Rücksicht auf Verluste. Er drängte auf einen Prozeß, und plötzlich wollte Great Benefit einen stillen Vergleich.
«Das ist der vertrauliche Teil«, sagt er. Es macht ihm offensichtlich Spaß, gegen die Vereinbarung zu verstoßen und mir sein Herz auszuschütten. Ich wette, er hat es schon hundert Leuten erzählt.»Sie haben uns die elftausend gezahlt und dann noch zweihunderttausend draufgelegt, damit wir Ruhe geben. «Seine Augen funkeln, während er auf meine Reaktion wartet. Es ist tatsächlich ein bemerkenswerter Vergleich, weil Great Benefit praktisch einen Haufen Geld als Schadenersatz gezahlt hat. Kein Wunder, daß sie auf Geheimhaltung bestanden haben.
«Erstaunlich«, sage ich.
«Ja, das ist es. Ich selbst wollte keinen Vergleich, aber meine arme Mandantin brauchte das Geld. Ich bin sicher, daß wir einen haushohen Schuldspruch herausgeholt hätten. «Er erzählt ein paar Kriegsgeschichten, um mich zu überzeugen, daß er tonnenweise Geld gescheffelt hat, dann folge ich ihm in einen kleinen, fensterlosen Raum voller Regale, die mit Lagerkartons gefüllt sind. Er deutet auf drei von ihnen, dann lehnt er seinen massigen Körper an das Regal.»Hier ist ihr System«, sagt er und tippt auf einen Karton, als steckten große Geheimnisse darin.»Der Anspruch kommt herein und wird einem Sachbearbeiter zugewiesen, einem simplen Papierschieber. Die Leute in der Schadensabteilung sind die am schlechtesten ausgebildeten und am niedrigsten bezahlten. Das ist bei jeder Versicherungsgesellschaft so. Die tollen Typen beschäftigen sich mit dem Investieren, sie sitzen nicht in der Schadens- oder Haftungsabteilung. Der Sachbearbeiter sieht sich die Sache an und fängt sofort mit dem Verfahren des nachträglichen Haftungsausschlusses an. Er oder sie schreibt einen Brief an die versicherte Person und bestreitet jeglichen Anspruch. Ich bin sicher, daß Sie einen solchen Brief haben. Dann fordert der
Sachbearbeiter die medizinischen Unterlagen aus den letzten fünf Jahren an. Die Unterlagen werden geprüft. Die versicherte Person bekommt einen weiteren Brief von der Schadensabteilung, in dem es heißt: >Anspruch abgelehnt, vorbehaltlich weiterer Überprüfung<. Das ist der Punkt, an dem es lustig wird. Der Sachbearbeiter schickt die Akte an die Haftungsabteilung, und die Haftung schickt eine Aktennotiz zurück, in der so etwas steht wie >Regulieren Sie diesen Anspruch nicht, bis Sie von uns gehört haben<. Dann folgt weitere Korrespondenz zwischen Schadens- und Haftungsabteilung, Briefe und Aktennotizen, hin und her, das Papier türmt sich zu Bergen, es kommt zu Meinungsverschiedenheiten, die beiden Abteilungen ziehen in den Krieg, und Klausem und Unterklauseln werden hitzig diskutiert. Vergessen Sie nicht, diese Leute arbeiten zwar im gleichen Gebäude für die gleiche Gesellschaft, kennen sich aber kaum. Sie wissen auch nichts von dem, was die andere Abteilung tut. Das ist volle Absicht. Inzwischen sitzt Ihr Mandant in seinem Wohnwagen und bekommt diese Briefe, einige von der Schadensabteilung, andere von der Haftungsabteilung. Die meisten Leute geben auf, und das ist natürlich das, worauf sie spekulieren. Nur einer von ungefähr fünfundzwanzig wendet sich an einen Anwalt.«
Während Jackson mir das erzählt, erinnere ich mich an Dokumente und Fragmente der Vernehmungen, und plötzlich fügen sich die Teile zusammen.»Wie können Sie das beweisen?«frage ich.
Er tippt auf die Kartons.»Steckt alles hier drin. Das meiste von diesem Zeug werden Sie nicht brauchen, aber ich habe die Handbücher.«
«Die habe ich auch.«
«Sie können das hier gern durchsehen. Es ist alles bestens geordnet. Ich habe einen großartigen Anwaltsgehifen, eigentlich sogar zwei.«
Ja, aber ich, Rudy Baylor, habe einen Hilfsanwalt!
Er läßt mich mit den Kartons allein, und ich stürze mich sofort auf die dunkelgrünen Handbücher. Eines ist für die Schadensabteilung, das ändere für die Haftungsabteilung. Auf den ersten Blick scheinen sie identisch zu sein mit denen, die ich im Laufe der Beweisaufnahme bekommen habe. Die Verfahren sind in Abschnitte untergliedert. Ein Inhaltsverzeichnis vorn, ein Glossar hinten, sie sind nicht mehr als Handbücher für die Papierproduzierer.
Dann fällt mir ein Unterschied auf. Am Ende des Handbuchs für die Schadensabteilung entdecke ich einen Abschnitt U. Mein Exemplar enthält diesen Abschnitt nicht. Ich lese ihn sorgfältig, und die Verschwörung kommt ans Licht. Auch das Handbuch für die Haftungsabteilung enthält einen Abschnitt U. Es ist die andere Hälfte des Systems, ganz genau so, wie Cooper Jackson es beschrieben hat. Zusammen gelesen, weisen die Handbücher jede Abteilung an, den Anspruch abzulehnen, natürlich vorbehaltlich weiterer Überprüfung. Dann schicken sie die Akte an die andere Abteilung mit der Instruktion, nicht zu zahlen, bis eine weitere Anweisung ergangen ist.
Die weitere Anweisung kommt nie. Keine der beiden Abteilungen kann die Forderung begleichen, solange die andere Abteilung es nicht gestattet.
Beide Abschnitte U liefern massenhaft Instruktionen, wie jeder Schritt zu dokumentieren ist, wie eine Papierspur angelegt werden muß, die eines Tages, falls es erforderlich werden sollte, die ganze schwere Arbeit nachweisen kann, die man in die sachgemäße Beurteilung des Anspruchs investiert hat, bevor er abgewiesen wurde.
Keines meiner Handbücher hat einen Abschnitt U. Sie wurden praktischerweise entfernt, bevor ich sie bekommen habe. Die Gangster in Cleveland und vielleicht auch ihre Anwälte in Memphis haben mir die Abschnitte U ganz bewußt vorenthalten. Es ist, um es milde auszudrücken, eine erschütternde Entdeckung.
Der Schock verfliegt rasch, und ich ertappe mich beim Lachen angesichts der Vorstellung, wie ich diese Abschnitte beim Prozeß hervorhole und vor den Geschworenen schwenke.
Ich verbringe Stunden damit, mich durch den Rest der Akte hindurchzuwühlen, kann meine Augen aber nicht von den Handbüchern abwenden.
Cooper trinkt gern Wodka in seinem Büro, aber erst nach sechs Uhr abends. Er lädt mich zum Mittrinken ein. Die Flasche bewahrt er in einer Kühlbox in einem Schrank auf, der als Bar dient, und er trinkt ihn pur, kein Eis, kein Wasser. Ich nippe an meinem Glas. Ungefähr zwei große Tropfen pro Schluck, und sie brennen sich den ganzen Weg hinunter.
Nachdem er sein erstes Glas geleert hat, sagt er:»Sie haben doch sicher Kopien von den verschiedenen staatlichen Ermittlungen gegen Great Benefit.«
Ich habe keine Ahnung, und es hat keinen Sinn, ihm etwas vorzulügen.»Nein, die habe ich nicht.«
«Die müssen Sie sich unbedingt ansehen. Ich habe den Justizminister von South Carolina, einen alten Studienfreund von mir, auf den Laden hingewiesen, und sie stellen jetzt Ermittlungen an. Ebenso in Georgia. In Florida hat die Versicherungsaufsichtsbehörde eine Untersuchung eingeleitet. Offenbar sind im Verlauf einer sehr kurzen Zeitspanne ungewöhnlich viele Ansprüche abgewiesen worden.«
Vor Monaten, als ich noch Jurastudent war, hat Max Leuberg einmal erwähnt, daß er bei der staatlichen Versicherungsaufsichtsbehörde eine Beschwerde eingereicht hatte. Aber er sagte auch, daß das wahrscheinlich nicht viel bringen würde, weil zwischen der Versicherungsbranche und den Behörden, die sie überwachen sollen, ein notorisch gutes Einvernehmen besteht.
Ich kann mich des Gefühls nicht erwehren, daß mir da etwas entgangen ist. Aber schließlich ist dies mein erster Versicherungsfall.
«Es ist die Rede von einer Gruppenklage«, sagt er, wobei seine Augen funkeln und mich argwöhnisch mustern. Dun ist klar, daß ich nichts von einer Gruppenklage weiß.
«Wo?«
«Ein paar Anwälte in Raleigh. Sie vertreten eine Handvoll kleinerer Ansprüche gegen Great Benefit, aber sie warten erst einmal ab und haben bis jetzt noch keinen Treffer gelandet. Ich nehme an, sie schließen die Fälle, die ihnen Sorgen machen, mit einem stillen Vergleich ab.«
«Wie viele Policen sind im Umlauf?«Diese Frage habe ich bereits während der Beweisaufnahme gestellt und warte immer noch auf eine Antwort.
«Knapp hunderttausend. Wenn man von einer Anspruchsrate von zehn Prozent ausgeht, sind das zehntausend Ansprüche pro Jahr; das ist ungefähr der Durchschnitt in dieser Branche. Sagen wir, nur so über den Daumen gepeilt, daß sie die Hälfte der Ansprüche abweisen. Damit bleiben noch fünftausend. Der durchschnittliche Anspruch beläuft sich auf zehntausend Dollar. Fünftausend mal zehntausend Dollar macht fünfzig Millionen. Und sagen wir, sie geben zehn Millionen aus, eine lediglich aus der Luft gegriffene Summe, um die paar Prozesse, die gegen sie angestrengt werden, auf dem Vergleichsweg aus der Welt zu schaffen. Sie heimsen also mit ihrer kleinen Masche vierzig Millionen Dollar ein. Dann gehen sie im nächsten Jahr vielleicht dazu über, die legitimen Ansprüche zu erfüllen. Ein Jahr überspringen, dann zurück zur Abweisungsroutine. Sie scheffeln eine derartige Masse von Geld, daß sie es sich leisten können, jeden aufs Kreuz zu legen.«
Ich starre ihn lange Zeit an, dann frage ich:»Können Sie das beweisen?«
«Nein. Es ist nur eine Vermutung. Wahrscheinlich ist es unmöglich, das zu beweisen, weil es so belastend ist. Diese Gesellschaft macht Sachen, die unglaublich stupide sind, aber ich bezweifle, daß sie so stupid ist, etwas derart Niederträchtiges schriftlich festzuhalten.«
Ich bin im Begriff, den Blöde-Brief zu erwähnen, aber dann entscheide ich mich dagegen. Er ist ein erfolgreicher Anwalt und wird jeden Kampf um die erste Geige gewinnen.
«Arbeiten Sie in irgendeiner Vereinigung von Prozeßanwälten mit?«fragt er.
«Nein, ich habe meine Zulassung erst seit ein paar Monaten.«
«Ich bin ziemlich aktiv. Es gibt einen lockeren Zusammenschluß von Anwälten, denen es Spaß macht, Versicherungsgesellschaften wegen Verstoßes gegen Treu und Glauben zu verklagen. Wir halten Kontakt. Es wird eine Menge erzählt. Ich höre Great Benefit dies und Great Benefit das. Ich glaube, sie haben zu viele Forderungen abgewiesen. Alle war-ten gewissermaßen auf den ersten großen Prozeß, in dem sie bloßgestellt werden. Ein massives Urteil wird eine Lawine auslösen.«
«Ich weiß nicht, wie das Urteil aussehen wird, aber ich garantiere Ihnen, daß es einen Prozeß geben wird.«
Er sagt, er würde sich mit seinen Freunden in Verbindung setzen, sich umhören, was sie zu berichten haben, was sich im Lande so tut. Und vielleicht würde er im Februar nach Memphis kommen, um den Prozeß zu verfolgen. Ein massives Urteil, sagt er noch einmal, würde den Damm brechen.
Ich verbringe die Hälfte des nächsten Tages damit, mich noch einmal durch Jacksons Akte zu wühlen, dann danke ich ihm und verabschiede mich. Er besteht darauf, daß wir Verbindung halten. Er hat das Gefühl, daß eine Menge Anwälte unseren Prozeß verfolgen werden.
Weshalb jagt mir das Angst ein?
Ich fahre in zwölf Stunden nach Memphis. Während ich hinter Miss Birdies dunklem Haus den Volvo auslade, beginnt es leicht zu schneien. Morgen ist Neujahr.