Kapitel 3

Es ist kein Geheimnis, daß es in Memphis zu viele Anwälte gibt. Das hat man uns bereits gesagt, als wir mit dem Jurastudium anfingen: daß der Beruf total überlaufen ist, nicht nur hier, sondern überall, daß einige von uns sich drei Jahre lang quälen, sich durchs Anwaltsexamen kämpfen und dann trotzdem keinen Job finden würden. Deshalb, teilte man uns freundlicherweise beim Orientierungskurs im ersten Semester mit, würde mindestens ein Drittel unseres Jahrgangs vorzeitig eliminiert werden. Und das haben sie dann auch getan.

Ich kann mindestens zehn Leute benennen, die nächsten Monat zusammen mit mir ihren Abschluß machen und danach massenhaft Zeit haben werden, für das Anwaltsexamen zu lernen, weil sie immer noch keinen Job gefunden haben. Sieben Jahre College und Studium und dann arbeitslos. Mir fallen auch mehrere Dutzend Mitstudenten ein, die als Gehilfen von Pflichtverteidigern und Staatsanwälten arbeiten werden oder als schlechtbezahlte Kanzlisten für ebenso schlechtbezahlte Richter, also in Jobs, von denen man uns nichts erzählt hat, als wir mit dem Studium anfingen.

Deshalb war ich in mancher Hinsicht ziemlich stolz auf meine Anstellung bei Broadnax and Speer, einer richtigen Kanzlei. Ja, manchmal habe ich sogar ein bißchen herabgesehen auf geringere Talente, von denen einige immer noch herumlaufen und um Vorstellungsgespräche betteln. Aber diese Arroganz ist plötzlich wie weggeblasen. Ich fahre mit einem Knoten im Bauch in Richtung Innenstadt. In einer Firma wie Trent & Brent ist für mich kein Platz. Der Toyota spuckt und stottert wie gewöhnlich, aber er fährt wenigstens.

Ich versuche, die Fusion zu analysieren. Vor zwei Jahren hat Trent & Brent eine Dreißig-Mann-Firma geschluckt, und das hat in der Stadt viel Aufsehen erregt. Aber ich kann mich nicht erinnern, ob dabei Leute entlassen wurden. Was liegt ihnen an einer Fünfzehn-Mann-Firma wie Broadnax and Speer? Mir wird plötzlich bewußt, wie wenig ich im Grunde über meinen künftigen Arbeitgeber weiß. Der alte Broadnax ist vor ein paar Jahren gestorben, und sein feistes Gesicht wurde in einer scheußlichen Bronzebüste verewigt, die neben der Eingangstür zu den Büros steht. Speer ist sein Schwiegersohn, aber seit langem von seiner Tochter geschieden. Ich habe Speer kurz kennengelernt, und er war recht freundlich. Beim zweiten oder dritten Gespräch hat man mir mitgeteilt, ihre wichtigsten Mandanten wären einige Versicherungsgesellschaften und ihre Arbeit bestünde zu achtzig Prozent aus der Verteidigung in Verkehrssachen.

Vielleicht hat Trent & Brent ein bißchen Power in seiner Verkehrsrechtsabteilung gebraucht. Wer weiß?

Auf der Poplar herrscht dichter Verkehr, aber der schiebt sich hauptsächlich in der entgegengesetzten Richtung voran. Ich kann bereits die hohen Gebäude der Innenstadt sehen. Loyd Beck und Carson Bell und die anderen Burschen in der Firma würden mich doch bestimmt nicht einstellen, Verpflichtungen eingehen und alle möglichen Pläne machen, nur um mir jetzt um des Geldes willen die Kehle durchzuschneiden. Es ist doch undenkbar, daß sie mit Trent & Brent fusionieren und dabei ihre eigenen Leute nicht schützen, oder?

Im letzten Jahr haben meine Studienkollegen, die nächsten Monat zusammen mit mir graduieren werden, diese Stadt auf der Suche nach Arbeit regelrecht durchkämmt. Ich halte es für ausgeschlossen, daß irgendwo noch eine andere Stelle frei ist. Nicht einmal das kleinste Bröckchen Job kann durch die Ritzen gerutscht sein.

Obwohl der Parkplatz leer und massenhaft Platz vorhanden ist, parke ich vorschriftswidrig auf der anderen Straßenseite, gegenüber dem Gebäude, in dem Broadnax and Speer residiert. Zwei Blocks weiter steht ein Bankgebäude, das höchste in der Innenstadt, und natürlich hat Trent & Brent die obere Hälfte davon gemietet. Von ihrer hohen Warte aus können sie verächtlich auf den Rest der Stadt herabblicken. Ich hasse sie.

Ich sprinte über die Straße und betrete die schmutzige Halle des Powers Building. Links befinden sich zwei Fahrstühle, aber rechts sehe ich ein vertrautes Gesicht. Es ist Richard

Spain, einer der bei Broadnax and Speer angestellten Anwälte, ein wirklich netter Mann, der mich bei meinem ersten Besuch hier zum Lunch ausgeführt hat. Er sitzt auf einer schmalen Marmorbank und starrt blicklos auf den Boden.

«Richard«, sage ich, auf ihn zugehend.»Ich bin's, Rudy Baylor.«

Er rührt sich nicht, sondern starrt weiter auf den Boden. Ich setze mich neben ihn. Die Fahrstühle sind genau vor uns, zehn Meter entfernt.

«Was ist los, Richard?«Er wirkt benommen.»Richard, fehlt Ihnen etwas?«Die kleine Halle ist im Moment leer, und um uns herum ist es still.

Langsam dreht er mir den Kopf zu, und sein Mund geht ein wenig auf.»Sie haben mich entlassen«, sagt er leise. Seine Augen sind rot, und er hat entweder geweint oder getrunken.

Ich hole tief Luft.»Wer?«frage ich leise, obwohl ich die Antwort bereits kenne.

«Sie haben mich entlassen«, sagt er noch einmal.

«Richard, bitte reden Sie mit mir. Was geht hier vor? Wer ist entlassen worden?«

«Sie haben uns alle entlassen, alle angestellten Anwälte«, sagt er langsam.»Beck hat uns in den Konferenzraum beordert und uns mitgeteilt, daß die Partner beschlossen hätten, an linley Britt zu verkaufen, und daß da für uns kein Platz wäre. Einfach so. Gab uns eine Stunde, unsere Schreibtische auszuräumen und das Gebäude zu verlassen. «Sein Kopf schwankt seltsam von einer Schulter zur anderen, während er das sagt, und jetzt starrt er auf die Fahrstuhltüren.

«Einfach so«, sage ich.

«Ich nehme an, Sie sorgen sich um Ihren Job«, sagt Richard, immer noch quer durch die Halle starrend.

«Das kann man wohl sagen.«

«Diesen Mistkerlen sind Sie völlig gleichgültig.«

Zu diesem Schluß bin ich natürlich längst selber gekommen.»Weshalb haben sie euch alle entlassen?«frage ich mit kaum hörbarer Stimme. Im Grunde ist es mir völlig gleichgültig, weshalb sie die angestellten Anwälte vor die Tür gesetzt haben. Aber ich versuche, meine Frage aufrichtig klingen zu lassen.

«Trent & Brent wollte unsere Mandanten«, sagt er.»Um die Mandanten zu bekommen, mußten sie die Partner kaufen. Wir, die angestellten Anwälte, waren dabei nur im Wege.«

«Das tut mir leid«, sage ich.

«Mir auch. Bei dem Treffen wurde auch Ihr Name erwähnt. Jemand fragte, was mit Ihnen wäre, da Sie der einzige Neuzugang sind. Beck sagte, er würde versuchen, Sie anzurufen und Ihnen die schlechte Nachricht beizubringen. Sie hat es gleichfalls erwischt, Rudy. Es tut mir leid.«

Mein Kopf sackt ein paar Zentimeter herunter, und ich starre auf den Boden. Meine Hände sind schweißnaß.

«Wissen Sie, wieviel ich im vorigen Jahr verdient habe?«fragt er.

«Wieviel?«

«Achtzigtausend. Ich habe sechs Jahre hier geschuftet, siebzig Stunden in der Woche, habe meine Familie vernachlässigt, Blut vergossen für die gute alte Firma Broadnax and Speer, und dann sagen mir diese Schweine, ich hätte eine Stunde, um meinen Schreibtisch auszuräumen und mein Büro zu verlassen. Sie hatten sogar einen Wachmann, der auf mich aufpassen sollte, während ich meine Sachen zusammenpackte. Achtzigtausend Dollar haben sie mir gezahlt, und ich habe zweitausendfünfhundert Stunden a hundertfünfzig in Rechnung gestellt, das macht also dreihundertfünfundsiebzig Tausender, die ich ihnen im vorigen Jahr eingebracht habe. Sie belohnen mich mit achtzig, schenken mir eine goldene Uhr, sagen mir, wie großartig ich bin, vielleicht machen sie mich in ein oder zwei Jahren zum Partner, Sie wissen schon, eine große, glückliche Familie. Und dann kommt Trent & Brent mit seinen Millionen, und ich bin arbeitslos. Und Sie sind auch arbeitslos, mein Junge. Ist Ihnen klar, daß Sie gerade Ihren ersten Job verloren haben, noch bevor Sie mit der Arbeit angefangen haben?«

Darauf fällt mir keine Erwiderung ein.

Er kippt sanft den Kopf auf die linke Schulter und ignoriert mich.»Achtzigtausend. Ein ganz hübsches Sümmchen, meinen Sie nicht, Rudy?«

«Ja. «Für mich hört sich das an wie ein kleines Vermögen.

«Unmöglich, einen anderen Job zu finden, der mir so viel einbringt. Jedenfalls nicht in dieser Stadt. Niemand stellt jemanden ein. Es gibt einfach zu viele Anwälte.«

Das kann man laut sagen.

Er wischt sich mit den Fingern über die Augen, dann steht er langsam auf.»Ich muß es meiner Frau sagen«, murmelt er, dann geht er mit hängenden Schultern durch die Halle, verläßt das Gebäude und verschwindet auf der Straße.

Ich fahre mit dem Fahrstuhl in den vierten Stock und betrete ein kleines Foyer. Durch eine gläserne Doppeltür hindurch sehe ich einen großen, uniformierten Wachmann, der neben dem Empfangstresen steht. Als ich das Büro von Broadnax and Speer betrete, mustert er mich argwöhnisch.

«Kann ich Ihnen helfen?«knurrt er.

«Ich suche Loyd Beck«, sage ich und versuche, an ihm vorbei einen Blick in den Korridor zu werfen. Er bewegt sich ein wenig, um mir den Weg zu versperren.

«Und wer sind Sie?«

«Rudy Baylor.«

Er beugt sich vor und nimmt einen Umschlag vom Tresen.»Das ist für Sie«, sagt er. Er trägt meinen Namen, handschriftlich mit roter Tinte. Ich entnehme ihm ein kurzes Schreiben. Meine Hände zittern, während ich es lese.

Eine Stimme quakt in seinem Funkgerät, und er weicht langsam zurück.»Lesen Sie den Brief, und dann verschwinden Sie«, sagt er, dann verzieht er sich ins Foyer.

Der Brief besteht aus nur einem Absatz, von Loyd Beck an mich, der mir die Neuigkeit schonend beibringt und mir alles Gute wünscht. Die Fusion kam» plötzlich und unerwartet«.

Ich werfe den Brief auf den Boden und halte Ausschau nach etwas, das ich außerdem noch werfen kann. Hinter mir ist alles ruhig. Ich bin sicher, sie haben sich hinter verschlossenen Türen verschanzt und warten ab, bis ich und die anderen Unerwünschten verschwunden sind. Auf einem Betonsockel neben der Tür steht die scheußliche Bronzeplastik mit dem feisten Gesicht des alten Broadnax, und ich spucke sie im Vorübergehen an. Sie bleibt völlig ungerührt. Also gebe ich ihr eine Art Schubs, während ich die Tür öffne. Der Sockel schwankt, und der Kopf kippt nach hinten weg.

«Hey!«dröhnt eine Stimme hinter mir, und gerade als die Büste gegen die Glaswand prallt, sehe ich, wie der Wachmann auf mich zugerannt kommt.

Eine Mikrosekunde lang denke ich daran, stehenzubleiben und mich zu entschuldigen, aber dann sprinte ich durch das Foyer und reiße die Tür zum Treppenhaus auf. Er brüllt wieder hinter mir her. Ich rase abwärts, so schnell ich kann. Er ist zu alt und zu fett, um mich einholen zu können.

Durch eine Tür in der Nähe der Fahrstühle gelange ich in die Halle. Sie ist leer. Ich gehe ruhig auf die Tür zur Straße zu und verlasse des Gebäude.

Es ist fast sieben und fast dunkel, als ich sechs Blocks entfernt an einem kleinen Supermarkt anhalte. Ein handgemaltes Schild offeriert einen Sechserpack billiges Light-Bier für drei Dollar. Ich brauche einen Sechserpack billiges Light-Bier.

Loyd Beck hat mich vor zwei Monaten eingestellt, meine Noten wären gut genug, meine Schriftsätze ordentlich, ich hätte bei den Einstellungsgesprächen einen guten Eindruck gemacht, alle wären einhellig der Ansicht, daß ich mich gut machen würde. Alles war in bester Ordnung. Eine strahlende Zukunft bei der guten alten Firma Broadnax and Speer.

Dann winkt Trent & Brent mit ein paar Dollars, und die Partner gehen vor Freude in die Luft. Diese gierigen Schweine machen dreihunderttausend im Jahr, und sie wollen noch mehr.

Ich gehe hinein und kaufe das Bier. Nach Abzug der Steuern habe ich noch vier Dollar und ein bißchen Kleingeld in der Tasche. Auf meinem Konto sieht es kaum besser aus.

Ich sitze neben der Telefonzelle in meinem Wagen und kippe die erste Dose. Seit meinem köstlichen Lunch mit Dot und Buddy und Bosco und Miss Birdie vor etlichen Stunden habe ich nichts gegessen. Vielleicht hätte ich wie Bosco eine Extraportion Götterspeise nehmen sollen. Das kalte Bier rauscht in meinen leeren Magen, und ich spüre sofort seine Wirkung.

Die Dosen sind schnell geleert. Die Stunden vergehen, während ich auf den Straßen von Memphis herumfahre.

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