Kapitel 25

Ich weiß, daß es Deck in diesen Tagen nicht leichtfällt, auf dem Teppich zu bleiben. Der Gedanke, ein eigenes Büro zu haben und ohne Anwaltslizenz die Hälfte der Honorare einstecken zu können, ist ungeheuer aufregend. Wenn ich ihm nicht in die Quere komme, wird er unser neues Büro binnen einer Woche auf Hochglanz gebracht haben. Ich habe noch nie so viel Energie auf einem Haufen gesehen. Vielleicht ist er ein bißchen übereifrig, aber daraus werde ich ihm keinen Vorwurf machen.

Als jedoch das Telefon die zweite Nacht hintereinander läutet, bevor die Sonne aufgegangen ist, und ich seine Stimme höre, fällt es mir schwer, nett zu sein.

«Haben Sie schon die Zeitung gelesen?«fragt er putzmunter.

«Ich habe geschlafen.«

«Tut mir leid. Sie werden es nicht glauben. Die ganze Titelseite ist voll von Bruiser und Prince.«

«Hätte das nicht noch eine Stunde warten können, Deck?«frage ich. Ich bin fest entschlossen, dieser rüden Angewohnheit jetzt gleich einen Riegel vorzuschieben.»Wenn Sie um vier aufwachen wollen, dann ist das Ihre Sache. Aber rufen Sie mich bitte nicht vor sieben, nein, sagen wir lieber acht Uhr an.«

«Tut mir leid. Aber das ist noch nicht alles.«

«Was?«

«Raten Sie mal, wer gestern abend gestorben ist.«

Wie in aller Welt soll ich wohl wissen, wer von allen Menschen in Memphis gestern abend gestorben ist?» Keine Ahnung«, fauche ich ins Telefon.

«Harvey Hale.«

«Harvey Hale!«

«Ja. Ist an einem Herzanfall abgekratzt und tot in seinen Swimmingpool gefallen.«

«Richter Hale?«

«Genau der. Ihr spezieller Freund.«

Ich setze mich auf die Bettkante und versuche, mir die Spinnweben aus dem Kopf zu schütteln.»Unfaßbar.«

«Ja, genau, nehmen Sie's nur nicht zu schwer. Auf der ersten Seite des Lokalteils ist eine hübsche Story über ihn mit einem großen Foto in seiner schwarzen Robe, sehr würdevoll. Was für ein Widerling.«

«Wie alt war er?«frage ich, als ob das eine Rolle spielte.

«Zweiundsechzig. Seit elf Jahren Richter. Ein ziemlich langer Stammbaum. Steht alles in der Zeitung. Müssen Sie unbedingt lesen.«

«Ja. Das werde ich tun, Deck. Wir sehen uns später.«

Die Zeitung kommt mir heute morgen etwas schwerer vor, und ich bin sicher, es liegt daran, daß zumindest die Hälfte davon den Unternehmungen von Bruiser Stone und Prince Thomas gewidmet ist. Bisher hat man sie noch nicht gefunden.

Ich überfliege den vorderen Teil und wende mich dann dem Lokalteil zu, wo mir ein sehr altes Foto des Ehrenwerten Harvey Hale ins Auge springt. Ich lese die betrübten Nachrufe seiner Kollegen, eingeschlossen den seines Freundes und einstigen Zimmergenossen Leo F. Drummond.

Von besonderer Wichtigkeit sind die Spekulationen darüber, wer an seine Stelle treten wird. Der Gouverneur wird einen Nachfolger ernennen, der das Amt bis zur nächsten regulären Wahl versehen soll. Das Land ist halb schwarz und halb weiß, aber nur sieben der neunzehn Richter am Bezirksgericht sind schwarz. Es gibt Leute, denen diese Zahlen nicht gefallen. Im vorigen Jahr, als ein alter Richter in den Ruhestand trat, wurden große Anstrengungen unternommen, die Vakanz mit einem schwarzen Richter zu besetzen. Aber es hat nicht geklappt.

Bemerkenswerterweise war der Hauptkandidat im Vorjahr mein neuer Freund Tyrone Kipler, der Partner in Bookers Kanzlei, der in Harvard studiert hat und uns neulich, als wir uns auf das Anwaltsexamen vorbereiteten, einen Vortrag über Verfassungsrecht hielt. Obwohl Richter Hale noch keine zwölf Stunden tot sei, heißt es in der Zeitung, spräche vieles dafür, daß Kipler sein Nachfolger werden wird. Der Bürgermeister von Memphis, der schwarz ist und ein wortgewaltiger Mann, wird mit dem Ausspruch zitiert, daß er und andere führende Persönlichkeiten sich intensiv für Kiplers Ernennung einsetzen werden.

Der Gouverneur war nicht in der Stadt und zur Zeit nicht erreichbar, aber er ist Demokrat und möchte nächstes Jahr wiedergewählt werden. Diesmal wird er mitspielen.

Um genau neun Uhr bin ich in der Kanzlei des Bezirksgerichts und blättere die Akte Black gegen Great Benefit durch. Seine Ehren Harvey Hale hat vor seinem plötzlichen Dahinscheiden keine Abweisung des Falles verfügt. Wir sind noch im Geschäft.

An der Tür seines Gerichtssaals hängt ein Trauerkranz. Wie rührend.

Ich rufe von einem Münzfernsprecher aus bei Tinley Britt an, frage nach Leo F. Drummond und bin überrascht, als ich ein paar Minuten später seine Stimme höre. Ich spreche ihm mein Beileid zum Tod seines Freundes aus und teile ihm mit, daß meine Mandanten sein Vergleichsangebot nicht annehmen werden. Er scheint überrascht, hat aber wenig zu sagen. Der Gute, er hat im Moment wahrlich andere Sorgen.

«Ich halte das für einen Fehler, Rudy«, sagt er geduldig, als wäre er im Grunde auf meiner Seite.

«Das kann sein, aber die Entscheidung haben meine Mandanten getroffen, nicht ich.«

«Na schön, dann wird es eben Krieg geben«, sagt er mit traurig monotoner Stimme. Mehr Geld bietet er mir nicht.

Booker und ich haben zweimal am Telefon miteinander gesprochen, seit wir das Ergebnis des Anwaltsexamens erfahren haben. Wie erwartet, spielt er die Sache runter. Ein kleiner Rückschlag. Nichts weiter. Ebenfalls wie erwartet, freut er sich aufrichtig für mich.

Als ich hereinkomme, sitzt er bereits im hinteren Teil des kleinen Restaurants. Wir begrüßen einander, als hätten wir uns seit Monaten nicht mehr gesehen. Ohne die Speisekarte zu konsultieren, bestellen wir Tee und Gumbo. Den Kindern geht es gut. Charlene ist wunderbar.

Er ist bester Stimmung, weil sein Abschluß möglicherweise doch noch anerkannt wird. Er war wirklich nahe dran. Seine Gesamtnote lag nur einen Punkt unter dem erforderlichen Minimum. Er hat Einspruch eingelegt, und der Prüfungsausschuß wird seine Arbeit noch einmal überprüfen.

Marvin Shankle hat die Nachricht von seinem Scheitern denkbar schlecht aufgenommen. Er solle zusehen, daß er beim nächstenmal besteht, sonst müsse die Kanzlei sich nach jemand anderem umsehen. Booker steht sichtlich unter Streß, als er auf Shankle zu sprechen kommt.

«Wie geht's Tyrone Kipler?«frage ich.

Booker glaubt, daß er die Ernennung in der Tasche hat. Kipler hat heute morgen mit dem Gouverneur gesprochen, kommt alles auf die Reihe. Es könnte höchstens noch am Geld scheitern. Als Partner in der Kanzlei Shankle verdient er zwischen hundertfünfundzwanzig und hundertfünfzigtausend im Jahr. Das Gehalt eines Richters beträgt nur neunzigtausend. Kipler hat Frau und Kinder, aber Shankle möchte ihn am Richtertisch haben.

Booker erinnert sich an den Black-Fall. Er erinnert sich sogar an Dot und Buddy, die er bei unserem ersten Besuch im Cypress Gardens Senior Citizens Building kennengelernt hat. Ich informiere ihn über den Stand der Dinge, und er lacht laut auf, als ich ihm erzähle, daß der Fall bei der Abteilung Acht des Bezirksgerichts liegt und nur darauf wartet, daß ein Richter sich seiner annimmt. Ich liefere Booker einen Bericht über die Vorfälle im Zimmer des verstorbenen Richters Hale vor nur drei Tagen und wie mich die einstigen Zimmergenossen Drummond und Hale als Spielball benutzt haben. Booker hört interessiert zu, als ich ihm von Donny Ray und seinem Zwillingsbruder und der Transplantation erzähle, die wegen Great Beneft nicht vorgenommen werden konnte.

Er hört mit einem Lächeln zu.»Kein Problem«, sagt er mehr als einmal.»Wenn Tyrone die Ernennung bekommt, wird er über den Fall Black bestens informiert sein.«

«Du kannst also mit ihm reden?«

«Mit ihm reden? Ich werde ihm eine regelrechte Predigt halten. Er kann Trent & Brent nicht ausstehen, und er haßt Versicherungsgesellschaften, vertritt ständig Klagen gegen sie. Was glaubst du, wo sie sich ihre Opfer suchen? Unter Weißen der Mittelschicht?«

«Unter allen möglichen Leuten.«

«Ganz genau. Es wird mir ein Vergnügen sein, mit Tyrone zu reden. Und er wird mir zuhören.«

Der Gumbo kommt, und wir geben Tabasco dazu, Booker mehr als ich. Ich erzähle ihm von meinem neuen Büro, aber nicht von meinem neuen Partner. Er stellt eine Menge Fragen über meine bisherige Kanzlei. Die ganze Stadt redet über Bruiser und Prince.

Ich erzähle ihm alles, was ich weiß, wobei ich die eine oder andere Kleinigkeit vielleicht ein ganz klein wenig beschönige.

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