Kapitel 30

Ich komme pünktlich zu meiner Neun-Uhr-Verabredung mit Dr. Walter Kord, aber das nützt mir nicht das geringste. Ich warte eine Stunde und lese in Donny Rays medizinischen Unterlagen, die ich längst auswendig kenne. Der Warteraum ist überfüllt mit Krebspatienten. Ich versuche, sie nicht anzusehen.

Um zehn erscheint eine Schwester, um mich zu holen. Ich folge ihr in einen fensterlosen Raum tief in einem Labyrinth. Wie kommt jemand auf die Idee, sich unter all den medizinischen Spezialgebieten ausgerechnet für Onkologie zu entscheiden? Aber vermutlich muß es wohl irgend jemand tun.

Wie kommt jemand auf die Idee, sich für die Juristerei zu entscheiden?

Ich sitze mit meiner Akte auf einem Stuhl und warte weitere fünfzehn Minuten. Stimmen auf dem Flur, dann geht die Tür auf. Ein junger Mann von ungefähr Fünfunddreißig stürmt herein.»Mr. Baylor?«sagt er und ergreift meine Hand, noch bevor ich mich richtig von meinem Stuhl erheben kann.

«Ja.«

«Walter Kord. Ich bin in Eile. Können wir das in fünf Minuten erledigen?«

«Ich denke schon.«

«Machen wir es so kurz wie möglich. Ich habe eine Menge Patienten«, sagt er und bringt sogar ein Lächeln zustande. Mir ist vollauf bewußt, wie sehr Ärzte Anwälte hassen. Irgendwie kann ich es ihnen nicht übelnehmen.

«Danke für das Gutachten. Es hat funktioniert. Wir haben Donny Ray bereits vernommen.«

«Gut. «Er ist ungefähr zehn Zentimeter größer als ich und schaut auf mich herab, als wäre ich ein Idiot.

Ich knirsche mit den Zähnen und sage:»Wir brauchen Ihre Aussage.«

Seine Reaktion ist typisch für Ärzte. Sie hassen Gerichtssäle. Und um sie zu vermeiden, erklären sie sich manchmal zu einer aufgezeichneten Vernehmung bereit, die dann anstelle ihrer persönlichen Aussage vor Gericht verwendet werden kann. Aber sie brauchen das nicht zu tun. Und wenn sie es nicht tun, sind Anwälte gelegentlich zu einem unerfreulichen Schritt gezwungen — der Vorladung. Es liegt in der Macht eines Anwalts, so gut wie jedem eine Vorladung ausstellen zu lassen, Ärzte eingeschlossen.

«Ich bin sehr beschäftigt«, sagt er.

«Ich weiß. Es ist nicht für mich. Es ist für Donny Ray.«

Er runzelt die Stirn und atmet schwer, als bereitete ihm dies starkes körperliches Unbehagen.»Ich berechne fünfhundert Dollar die Stunde für eine Zeugenaussage.«

Das schockiert mich nicht, weil ich damit gerechnet habe. Während des Studiums habe ich Geschichten von Ärzten gehört, die sogar noch mehr berechnet haben. Ich muß betteln.»Das kann ich mir nicht leisten, Dr. Kord. Ich habe meine Kanzlei erst vor sechs Wochen eröffnet und bin dem Hungertod nahe. Dies ist der einzige anständige Fall, den ich habe.«

Es ist erstaunlich, was die Wahrheit bewirken kann. Dieser Mann verdient vermutlich eine Million Dollar im Jahr, und er ist sofort entwaffnet von meiner Offenheit. Ich sehe Mitleid in seinen Augen. Er zögert eine Sekunde, denkt vielleicht an Donny Ray und daran, wie frustrierend es ist, ihm nicht helfen zu können. Vielleicht tue ich ihm auch leid. Wer weiß?

«Ich schicke Ihnen eine Rechnung, okay? Bezahlen Sie sie, wann immer Sie können.«

«Danke, Doktor.«

«Machen Sie mit meiner Sekretärin einen Termin aus. Können wir es hier machen?«

«Selbstverständlich.«

«Gut. Ich muß weitermachen.«

Als ich zurückkomme, hat Deck eine Mandantin in seinem Büro. Es ist eine Frau in mittlerem Alter, dicklich, gut angezogen. Er winkt mich herein und stellt sie mir als Mrs. Madge Dresser vor, die eine Scheidung möchte. Sie hat geweint, und als ich mich neben Deck an den Schreibtisch lehne, schiebt er mir seinen Block mit einer Notiz zu:»Sie hat Geld.«

Wir verbringen eine Stunde mit Madge, und es ist eine traurige Geschichte. Alkohol, Schläge, andere Frauen, Glücksspiel, mißratene Kinder, und sie hat sich nichts vorzuwerfen. Vor zwei Jahren hat sie schon einmal die Scheidung eingereicht, und ihr Mann hat ihrem Anwalt die Kanzleifenster zerschossen. Er spielt mit Waffen herum und ist gefährlich. Ich werfe Deck einen Blick zu, während sie diese Geschichte erzählt. Er weigert sich, mich anzusehen.

Sie zahlt sechshundert Dollar in bar und verspricht mehr. Wir werden die Scheidungsklage morgen einreichen. Bei der Kanzlei von Rudy Baylor ist sie in guten Händen, versichert ihr Deck.

Kurz nachdem sie gegangen ist, läutet das Telefon. Eine Männerstimme fragt nach mir. Ich nenne meinen Namen.

«Ja, Rudy, hier ist Roger Rice, Anwalt. Ich glaube nicht, daß wir uns kennen.«

Auf meiner Stellungssuche habe ich beinahe jeden Anwalt in Memphis kennengelernt, aber an einen Roger Rice erinnere ich mich nicht.»Nein, das glaube ich auch nicht. Ich bin neu im Geschäft.«

«Ja, ich mußte die Auskunft anrufen, um Ihre Nummer zu bekommen. Hören Sie, ich stecke mitten in einer Zusammenkunft mit zwei Brüdern, Randolph und Delbert Birdsong, und ihrer Mutter Birdie. Soweit ich verstanden habe, kennen Sie diese Leute.«

Ich kann mir genau vorstellen, wie sie da zwischen ihren Söhnen sitzt, dämlich grinst und» wie nett «sagt.

«Ja, Miss Birdie kenne ich sehr gut«, sage ich, als hätte ich den ganzen Tag auf diesen Anruf gewartet.

«Genaugenommen sitzen sie nebenan hier in meiner Kanzlei. Ich habe mich hinausgeschlichen, um mit Ihnen zu sprechen. Ich arbeite an ihrem Testament und, nun ja, es geht um einen Haufen Geld. Sie haben gesagt, sie hätten versucht, ihr Testament aufzusetzen.«

«Das stimmt. Ich habe vor ein paar Monaten einen Entwurf angefertigt, aber sie war offensichtlich nicht geneigt, ihn zu unterschreiben.«

«Warum nicht?«Er macht einen netten Eindruck, tut nur seinen Job, und es ist nicht seine Schuld, daß sie bei ihm sind. Also liefere ich ihm einen kurzen Bericht über Miss Birdies Absicht, ihr Vermögen dem Reverend Kenneth Chandler zu vermachen.

«Hat sie das Geld?«fragt er.

Ich kann ihm die Wahrheit nicht sagen. Es widerspräche sämtlichen ethischen Grundsätzen, wenn ich ohne ihre ausdrückliche Zustimmung irgendwelche Informationen über Miss Birdie preisgeben würde. Und die Information, auf die Rice aus ist, habe ich mir mit wenn auch nicht gerade illegalen, so doch mit dubiosen Mitteln verschafft. Mir sind die Hände gebunden.

«Was hat sie Ihnen erzählt?«frage ich.

«Nicht viel. Etwas über ein Vermögen in Atlanta, Geld, das ihr zweiter Ehemann ihr hinterlassen hat, aber wenn ich versuche, sie festzunageln, macht sie alle möglichen Ausfüchte.«

Das kommt mir sehr bekannt vor.»Weshalb will sie ein neues Testament machen?«frage ich.

«Sie will alles ihrer Familie hinterlassen — Söhnen und Enkelkindern. Ich möchte nur wissen, ob sie das Geld hat.«

«Darüber kann ich Ihnen nichts sagen. In Atlanta gibt es eine Nachlaßakte, und die ist versiegelt. Weiter bin ich nicht gekommen.«

Er ist immer noch nicht befriedigt, aber mehr kann ich ihm nicht sagen. Ich verspreche, ihm den Namen des Anwalts in Atlanta und seine Telefonnummer zu faxen.

Als ich nach neun nach Hause komme, stehen sogar noch mehr Mietwagen in der Einfahrt. Ich bin gezwungen, meinen Wagen auf der Straße stehen zu lassen, und das ärgert mich. Ich schleiche durch die Dunkelheit, und die Leute auf der Terrasse bemerken mich nicht.

Es müssen die Enkelkinder sein. Ich sitze im Dunkeln am Fenster meines kleinen Wohnzimmers, esse eine Hühnerpastete und lausche den Stimmen. Ich kann die von Delbert und Randolph heraushören. Gelegentlich dringt Miss Birdies Gekicher durch die schwüle Luft. Die anderen Stimmen sind jünger.

Das muß gelaufen sein wie bei der Notrufzentrale, eine Sache um Leben und Tod. Kommt schnell! Sie ist stinkreich! Wir dachten, die alte Krähe hätte ein paar Dollar, aber doch kein Vermögen. Sie müssen mit einer Art Telefonkette die ganze Familie aufgescheucht haben. Kommt schnell! Euer Name steht im Testament, und daneben steht eine Million Dollar. Und sie denkt daran, es zu ändern. Macht euch schleunigst auf die Socken. Es ist an der Zeit, Granny zu lieben.

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