Kapitel 40

Die Prozeßvorbesprechung fndet Mitte Januar in Richter Kip-lers Gerichtssaal statt. Er hat uns um den Tisch der Verteidigung herum versammelt und seinen Gerichtsdiener an der Tür stationiert, damit er herumwandernde Anwälte fernhält. Er sitzt an einem Ende des Tisches, ohne seine Robe, flankiert von seiner Sekretärin auf der einen und seiner Protokollantin auf der anderen Seite. Ich sitze rechts von ihm, mit dem Rük-ken zum Gerichtssaal, und auf der anderen Seite des Tisches sitzt das gesamte Team der Verteidigung. Es ist meine erste Begegnung mit Drummond seit der Vernehmung von Kord am 12. Dezember, und es fällt mir sehr schwer, höflich zu sein. Jedesmal, wenn ich in meinem Büro telefoniere, sehe ich diesen gut gekleideten, makellos gepflegten und hochgeachteten Ganoven vor mir, wie er mein Gespräch mithört.

Kipler war nur mäßig überrascht, als ich ihm die Handbücher zeigte, die ich mir von Cooper Jackson ausgeborgt habe. Er hat sie sorgfältig mit den von Drummond zur Verfügung gestellten Handbüchern verglichen. Seines Erachtens bin ich nicht verpflichtet, Drummond zu informieren, daß ich jetzt weiß, daß sie Dokumente unterschlagen haben. Es ist absolut Rechtens, wenn ich damit bis zum Prozeß warte und die Mine gegen Great Benefit vor den Geschworenen hochgehen lasse.

Die Wirkung sollte eigentlich verheerend sein. Ich ziehe ihnen vor den Geschworenen die Hosen runter und schaue zu, wie sie versuchen, in Deckung zu gehen.

Wir kommen zu den Zeugen. Ich habe die Namen von so ungefähr jedermann aufgelistet, der etwas mit dem Fall zu tun hat.

«Jackie Lemancyzk arbeitet nicht mehr für meine Mandanten«, sagt Drummond.

«Wissen Sie, wo sie ist?«fragt Kipler mich.

«Nein. «Das stimmt. Ich habe an die hundert Anrufe in Cleveland und Umgebung gemacht und keine Spur von Jackie

Lemancyzk gefunden. Ich habe sogar Butch zu dem Versuch überredet, sie telefonisch ausfindig zu machen, aber auch ihm ist es nicht gelungen.

«Wissen Sie es?«fragt er Drummond.

«Nein.«

«Also ist sie ein Vielleicht.«

«So ist es.«

Drummond und T. Pierce Morehouse finden das lustig. Sie tauschen ein frustriertes Grinsen. Aber das Grinsen wird ihnen vergehen, wenn es uns gelingt, sie zu finden und aussagen zu lassen. Doch das ist ziemlich unwahrscheinlich.

«Was ist mit Bobby Ott?«fragt Kipler.

«Ein weiteres Vielleicht«, sage ich. Beide Seiten können die Leute auflisten, bei denen Anlaß zu der Hoffnung besteht, daß sie zum Prozeß erscheinen. Ott scheint zweifelhaft, aber wenn er kommt, will ich das Recht haben, ihn als Zeugen aufzurufen. Auch nach Bobby Ott ist Butch auf der Suche.

Wir sprechen über die Sachverständigen. Ich habe nur zwei, Dr. Walter Kord und Randall Gaskin, den Verwaltungschef der Krebsklinik. Drummond hat einen aufgeführt, einen Dr. Milton Jiffy aus Syracuse. Ich habe mich aus zwei Gründen dagegen entschieden, ihn zu vernehmen. Erstens wäre es teuer geworden, dorthin zu fahren und es zu tun, und zweitens, was wichtiger war, weiß ich genau, was er sagen wird. Er wird bezeugen, daß Knochenmarkstransplantationen zu experimentell sind, um als geeignete und sinnvolle medizinische Behandlung gelten zu können. Walter Kord ist wütend darüber und wird mir helfen, ein Kreuzverhör vorzubereiten.

Kipler bezweifelt, daß Jiffy überhaupt aussagen wird.

Wir streiten eine Stunde lang um Dokumente. Drummond versichert dem Richter, daß sie reinen Tisch gemacht und alles ausgehändigt haben. Jeden anderen würde er überzeugen, aber ich bin ziemlich sicher, daß er lügt. Kipler ebenfalls.

«Was ist mit dem Ersuchen des Vertreters der Anklage nach Information über die Zahl der im Laufe der letzten beiden Jahre ausgegebenen Policen und außerdem über die Zahl der im gleichen Zeitraum erhobenen Ansprüche und die Zahl der abgewiesenen Forderungen?«

Drummond holt tief Luft und macht ein unglaublich verlegenes Gesicht.»Wir arbeiten dran, Euer Ehren, ich schwöre es. Die Information ist über diverse Regionalbüros überall im Lande verstreut. Mein Mandant hat einunddreißig Staatsbüros, siebzehn Bezirksbüros und fünf Regionalbüros; da ist es äußerst schwierig…«

«Hat Ihr Mandant Computer?«

Er windet sich.»Natürlich. Aber das ist keine Sache, bei der man einfach ein paar Tasten drückt, und schwupp! schon bekommt man einen Ausdruck.«

«Der Prozeß beginnt in drei Wochen, Mr. Drummond. Ich will diese Information.«

«Wir tun, was wir können, Euer Ehren. Ich erinnere meine Mandanten jeden Tag daran.«

«Beschaffen Sie sie! — «beharrt Kipler und richtet sogar den Finger auf den großen Leo F. Drummond. Morehouse, Hill, Plunk und Grone sacken allesamt ein paar Zentimeter zusammen, hören aber trotzdem nicht auf, sich Notizen zu machen.

Wir kommen zu weniger heiklen Dingen. Wir stimmen darin überein, daß für den Prozeß zwei Wochen angesetzt werden sollten, obwohl Kipler mir anvertraut hat, daß er nichts unversucht lassen wird, den Prozeß auf fünf Tage zu beschränken. Nach zwei Stunden ist die Konferenz beendet.

«Und nun, meine Herren, wie steht es mit Vergleichsverhandlungen?«Natürlich habe ich ihm erzählt, daß ihr letztes Angebot hundertfünfundsiebzigtausend Dollar betrug. Ich habe ihm auch erzählt, daß Dot Black nichts an einem Vergleich liegt. Sie will kein Geld. Sie will Blut sehen.

«Was wäre Ihr höchstes Angebot, Mr. Drummond?«

Die fünf tauschen befriedigte Blicke aus, als stünde ein überaus dramatisches Ereignis bevor.»Also, Euer Ehren, heute morgen hat mein Mandant mich ermächtigt, zweihunderttausend Dollar als Vergleichssumme anzubieten«, sagt Drummond mit einem ziemlich schwächlichen Versuch, Eindruck zu schinden.

«Mr. Baylor?«

«Tut mir leid. Meine Mandantin hat mich angewiesen, keinen Vergleich abzuschließen.«

«Ohne Rücksicht auf den Betrag?«

«So ist es. Sie will eine Jury auf den Bänken dort drüben, und sie will, daß die ganze Welt erfährt, was ihrem Sohn widerfahren ist.«

Schock und Bestürzung auf der anderen Seite des Tisches. Ich habe noch nie soviel Kopfschütteln gesehen. Auch der Richter schafft es, einen verblüfften Eindruck zu machen.

Seit der Beerdigung habe ich kaum mit Dot gesprochen. Die paar kurzen Unterhaltungen, die ich versucht habe, sind nicht gut gelaufen. Sie trauert und ist zornig, und das ist völlig verständlich. Sie gibt Great Benefit, dem System, den Ärzten, den Anwälten und manchmal sogar mir die Schuld an Donny Rays Tod. Und auch das verstehe ich. Sie braucht das Geld nicht und will es nicht haben. Sie will Gerechtigkeit. Wie sie das letzte Mal, als ich vorbeischaute, auf der Vorderveranda sagte:»Ich will diese Schweine aus dem Geschäft.«

«Das ist ungeheuerlich«, sagt Drummond dramatisch.

«Es wird ein Prozeß stattfinden, Leo«, sage ich.»Bereiten Sie sich darauf vor.«

Kipler deutet auf eine Akte, und seine Sekretärin gibt sie ihm. Er händigt Drummond und mir eine Liste aus.»Also, das sind die Namen und Adressen der möglichen Geschworenen. Zweiundneunzig, glaube ich, aber bestimmt sind einige von ihnen inzwischen umgezogen oder anderweitig verhindert.«

Ich nehme die Liste und fange sofort an, die Namen durchzugehen. In diesem Staat lebt ungefähr eine Million Menschen. Bilde ich mir wirklich ein, ich könnte einen von ihnen kennen? Lauter Fremde.

«Wir wählen die Geschworenen eine Woche vor dem Prozeß aus, also stellen Sie sich auf den 1. Februar ein. Sie dürfen ihren Hintergrund recherchieren. Jeder direkte Kontakt ist natürlich ein schweres Vergehen.«

«Wo sind die Fragebögen?«fragt Drummond. Jeder voraussichtliche Geschworene muß einen Fragebogen ausfüllen und Angaben über Alter, Rasse, Geschlecht, Arbeitgeber, Art der von ihm betriebenen Arbeit und Schulbildung machen. Oft sind dies die einzigen Informationen, die ein Anwalt über einen Geschworenen hat, wenn es ans Auswählen geht.

«Wir arbeiten daran. Sie werden morgen abgeschickt. Sonst noch etwas?«

«Nein, Sir«, sage ich.

Drummond schüttelt den Kopf.

«Ich will diese Information über die Policen und Ansprüche bald haben, Mr. Drummond.«

«Wir bemühen uns, Euer Ehren.«

Ich esse allein zu Mittag in dem vegetarischen Restaurant in der Nähe des Büros. Schwarze Bohnen und Risotto, Kräutertee. Jedesmal, wenn ich hier hereinkomme, fühle ich mich gesünder. Ich esse langsam, stochere in meinen Bohnen herum und starre auf die zweiundneunzig Namen auf der Geschworenenliste. Drummond mit seinen unbegrenzten Ressourcen wird ein Team von Rechercheuren damit beauftragen, diese Leute ausfindig zu machen und ihr Leben zu erforschen. Sie werden heimlich ihre Wagen und ihre Häuser fotografieren, herausfinden, ob sie in irgendwelche Rechtsstreitigkeiten verwickelt waren, sich ihre Kreditunterlagen beschaffen, die Geschichte ihrer Arbeitsverhältnisse zurückverfolgen und nach Schmutz wie eventuellen Scheidungen, Konkursen oder Anklagen wegen irgendwelcher Vergehen wühlen. Sie werden der Öffentlichkeit zugängliche Unterlagen durchstöbern und herausfinden, wieviel diese Leute für ihre Häuser bezahlt haben. Das einzige streng Verbotene ist persönlicher Kontakt, entweder direkt oder durch einen Mittelsmann.

Wenn wir dann alle im Gerichtssaal versammelt sind, um die endgültigen zwölf auszuwählen, werden Drummond und Genossen über jeden dieser Leute eine hübsche Akte haben. Diese Akten werden nicht nur von ihm und seinen Mitstreitern begutachtet, sondern außerdem von einem Team von professionellen Juryberatern gründlich analysiert werden. In der Geschichte der amerikanischen Jurisprudenz sind die Juryberater eine relativ neue Spezies. Sie sind gewöhnlich Anwälte, die über eine gewisse Fähigkeit und Erfahrung im Beurteilen der menschlichen Natur verfügen. Viele von ihnen sind gleichzeitig Psychiater oder Psychologen. Sie ziehen durchs

Land und verkaufen ihre exzessiv teuren Fähigkeiten an Anwälte, die sie sich leisten können.

Während des Studiums habe ich eine Geschichte über einen Juryberater gehört, der von Jonathan Lake für ein Honorar von achtzigtausend Dollar angeheuert worden war. Die Geschworenen sprachen ein Urteil über mehrere Millionen Dollar, das Honorar war also nicht mehr als eine Kleinigkeit.

Drummonds Juryberater werden im Gerichtssaal sitzen, wenn wir die Geschworenen auswählen. Sie werden diese nichtsahnenden Leute unauffällig beobachten. Sie werden Gesichter und Körpersprache analysieren, Kleidung und Verhalten und Gott weiß was sonst noch.

Ich dagegen habe Deck, der selbst bereits ein Fall für eine Studie in menschlicher Natur ist. Wir werden Butch und Booker eine Kopie der Liste geben und allen anderen Leuten, denen vielleicht ein oder zwei Namen bekannt sein körnten. Wir werden ein paar Anrufe tätigen, vielleicht ein paar Adressen überprüfen, aber unser Job ist wesentlich härter. Wir werden in erster Linie darauf angewiesen sein, die Leute anhand ihres Auftretens im Gerichtssaal auszuwählen.

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