Kapitel 26

Für ein Zeitalter wie dieses, in dem die Gerichtssäle verstopft und die Richter überlastet sind, hat der verschiedene Harvey Hale eine Liste von anhängigen Verfahren hinterlassen, die bemerkenswert gut organisiert ist und frei von hingeschleppten Fällen. Dafür gibt es mehrere Gründe. Erstens war er faul und spielte lieber Golf. Zweitens hat er sofort jede Klage abgewiesen, die den seiner Ansicht nach so schützenswerten Versicherungen und anderen großen Unternehmen unangenehm werden konnte. Und deshalb wurde er auch von den meisten Anwälten, die eine Klage zu vertreten hatten, gemieden.

Es gibt Möglichkeiten, bestimmte Richter zu umgehen, kleine Tricks, die ein erfahrener Anwalt anwenden kann, wenn er mit den die Klage entgegennehmenden Kanzlisten auf gutem Fuße steht. Ich werde nie begreifen, warum Bruiser, ein Anwalt mit zwanzigjähriger Berufserfahrung, der alle Tricks kannte, mich die Black-Klage hat einreichen lassen, ohne vorher die nötigen Schritte zu unternehmen, damit wir um Harvey Hale herumkommen. Darüber würde ich unter anderem gern mal mit ihm reden, falls er jemals wiederauftauchen sollte.

Aber Hale ist tot und das Leben wieder gerecht. Tyrone Kip-ler wird bald eine Verfahrensliste erben, die danach schreit, bearbeitet zu werden.

Als Reaktion auf die jahrelange Kritik von Anwälten und Laien gleichermaßen wurden vor nicht allzu langer Zeit die Verfahrensrichtlinien geändert, um zu einer schnelleren Rechtsprechung zu gelangen. Es wurden höhere Strafmaßnahmen für nicht stichhaltige Verfahren eingeführt. Das Hin-und Hergeplänkel im Vorverfahren wurde durch strenge Fristen auf ein Minimum beschränkt. Die Richter erhielten größere Befugnisse beim Abweisen von Klagen; außerdem wurde ihnen nahegelegt, sich aktiver für Vergleiche einzusetzen. Unmengen von neuen Gesetzen und Vorschriften wurden erlassen, um zivilrechtliche Verfahren zu beschleunigen.

Zu dieser Masse von neuen Bestimmungen gehörte auch etwas, das als» Schnellspurverfahren «bezeichnet wird und womit bestimmte Fälle schneller zur Verhandlung gebracht werden können als andere. Die Prozeßparteien können beantragen, daß ihr Fall vorgezogen wird. Aber das geschieht nur selten. Kaum ein Verteidiger würde sich freiwillig bereit erklären, ohne die üblichen, eingehendsten Vorbereitungen im Gerichtssaal zu erscheinen. Deshalb hat der Richter die Möglichkeit, ein solches Verfahren von sich aus anzuordnen. Das geschieht gewöhnlich dann, wenn der Fall klarliegt und die Fakten scharf umrissen und ebenso heftig umstritten sind und alles, was noch fehlt, der Spruch einer Jury ist.

Da Black gegen Great Benefit im Grunde mein einziger Fall ist, hätte ich gern ein Schnellverfahren. Das erläutere ich Booker eines morgens beim Kaffee. Booker gibt es an Kipler weiter. So funktioniert die Justiz.

Am T ag nach seiner Ernennung durch den Gouverneur bestellt Kipler mich in sein Arbeitszimmer, dasselbe, das noch vor gar nicht so langer Zeit Harvey Hale gehört hat. Jetzt sieht es ganz anders aus. Hales Bücher und Erinnerungsstücke wurden in Kartons verpackt. Die staubigen Regale sind leer. Die Vorhänge sind geöffnet. Hales Schreibtisch ist bereits hinausgeschafft worden, und wir unterhalten uns auf Klappstühlen sitzend.

Kipler ist ein kaum vierzigjähriger Mann mit leiser Stimme und Augen, denen nichts entgeht. Er ist ungeheuer intelligent und wird nach Ansicht vieler Leute dereinst zum Bundesrichter aufsteigen. Ich danke ihm für seine Hilfe bei der Vorbereitung des Anwaltsexamens.

Wir plaudern über dieses und jenes. Er sagt nette Dinge über Harvey Hale, ist aber erstaunt, wie wenig anhängige Verfahren er hinterlassen hat. Er hat sich bereits sämtliche Fälle angesehen und sich vorgenommen, einige davon beschleunigt abzuwickeln. Er steht sozusagen in den Startlöchern.

«Und Sie glauben, der Black-Fall sollte auf der Schnellspur verhandelt werden?«fragt er langsam und bedächtig.

«Ja, Sir. Der Fall liegt ziemlich klar. Es wird nicht viele Zeugen geben.«

«Wie viele Zeugenvernehmungen?«

Bisher habe ich noch nie einen Zeugen vernommen.»Das weiß ich noch nicht genau. Weniger als zehn.«

«Sie werden Probleme mit den Dokumenten haben«, sagt er.»Das ist bei Versicherungsgesellschaften immer so. Ich habe schon eine Menge von ihnen verklagt, und sie geben einem nie den ganzen Papierkram. Es wird eine Weile dauern, bis wir alle Dokumente in der Hand halten, auf die Sie Anspruch haben.«

Mir gefällt die Art, auf die er» wir «sagt. Und das ist völlig in Ordnung. Ein Richter hat unter anderem auch die Aufgabe, Druck auszuüben. Es ist seine Pflicht, alle Parteien bei ihren Bemühungen zu unterstützen, im Vorfeld des Prozesses alles Beweismaterial zusammenzubekommen, das ihnen zusteht. Allerdings scheint Kipler ein wenig parteiisch zu unseren Gunsten zu sein. Aber vermutlich ist auch dagegen nichts einzuwenden — schließlich hatte Drummond Harvey Hale viele Jahre lang am Gängelband.

«Stellen Sie einen Antrag auf beschleunigtes Verfahren«, sagt er und macht sich eine entsprechende Notiz.»Die Verteidigung wird Einspruch erheben. Dann kommt es zur Anhörung. Sofern ich nicht von der Gegenseite etwas sehr Überzeugendes höre, werde ich dem Antrag stattgeben. Ich gewähre vier Monate für die Beweisaufnahme, das sollte Zeit genug sein für alle Vernehmungen, das Austauschen von Dokumenten, schriftliche Verhöre und so weiter. Wenn die Beweisaufnahme abgeschlossen ist, setze ich einen Prozeßtermin fest.«

Ich hole tief Luft und schlucke. Für mich hört sich das unheimlich schnell an. Die Vorstellung, Drummond und Genossen schon so bald im offenen Gerichtssaal und vor einer Jury gegenüberstehen zu müssen, ist beängstigend.»Wir werden bereit sein«, sage ich, obwohl ich nicht einmal weiß, wie die nächsten drei Schritte auszusehen haben. Ich hoffe nur, ich höre mich wesentlich zuversichtlicher an, als ich es bin.

Wir plaudern noch ein wenig länger, und dann gehe ich. Er sagt, ich soll ihn anrufen, wenn ich irgendwelche Fragen habe.

Eine Stunde später hätte ich ihn fast angerufen. Als ich in mein Büro zurückkehre, wartet dort ein dicker Umschlag von Tin-

ley Britt auf mich. Leo F. Drummond ist, obwohl er seinen Freund betrauern muß, sehr fleißig gewesen. Die Antragsmaschinerie läuft auf Hochtouren.

Er hat einen Antrag auf Sicherheitsleistung für die Prozeßkosten gestellt, eine sanfte Ohrfeige für mich und meine Mandanten. Da wir beide arm sind, behauptet Drummond, er mache sich Sorgen, ob wir überhaupt in der Lage sein werden, die Kosten zu tragen. Die Frage könnte tatsächlich eines Tages auftauchen, wenn wir den Fall verlieren sollten und vom Richter aufgefordert werden, die Prozeßkosten für beide Seiten zu übernehmen. Außerdem hat er Strafantrag gestellt, das Gericht möge sowohl gegen mich als auch gegen meine Mandanten eine Geldstrafe verhängen, weil wir eine derart unhaltbare Klage eingereicht haben.

Der erste Antrag ist reine Pose. Der zweite ist ausgesprochen niederträchtig. Beide werden von langen, wohlformulierten Schriftsätzen inklusive Fußnoten, Register und Bibliographie begleitet.

Als ich sie zum zweitenmal aufmerksam lese, komme ich zu dem Schluß, daß Drummond sie eingereicht hat, um mir etwas zu beweisen. Derartigen Anträgen wird nur selten entsprochen, und ich glaube, ihr eigentlicher Zweck besteht darin, mir zu zeigen, wieviel Papierkram die Truppen bei Trent & Brent in kürzester Zeit produzieren können — und zwar zu jeder Nichtigkeit. Da jede Seite auf die Anträge der anderen reagieren muß und ich einen Vergleich abgelehnt habe, bringt Drummond mir damit bei, daß sie mich unter Papierbergen begraben werden.

Die Telefone haben bisher kein einziges Mal geläutet. Deck ist irgendwo in der Innenstadt. Ich mag gar nicht darüber nachdenken, wo er sich jetzt wohl wieder herumtreibt. Ich habe massenhaft Zeit, das Antragsspiel zu spielen, und ich brauche nur an meinen bemitleidenswerten Mandanten zu denken und daran, wie übel man ihm mitgespielt hat, um mich motiviert zu fühlen. Ich bin der einzige Anwalt, den Donny Ray hat, und um nur den Wind aus den Segeln zu nehmen, braucht es wesentlich mehr als nur einen Haufen Papier.

Ich habe mir angewöhnt, Donny Ray jeden Nachmittag anzurufen, gewöhnlich gegen fünf. Nach dem ersten Anruf vor etlichen Wochen hat Dot mal erwähnt, wieviel ihm das bedeutet, und seither habe ich versucht, täglich mit ihm zu reden. Wir unterhalten uns über alle möglichen Dinge, aber nie über seine Krankheit oder den Prozeß. Ich versuche, mir im Laufe des Tages etwas Lustiges zu merken, das ich ihm später erzählen kann. Ich weiß, daß diese Anrufe inzwischen zu einem wichtigen Teil in seinem dahinschwindenden Leben geworden sind.

Heute nachmittag hört er sich recht kräftig an. Er sagt, daß er aufgestanden ist und auf der Vorderveranda sitzt und daß er gern für ein paar Stunden irgendwohin fahren würde, mal weg aus dem Haus und von seinen Eltern.

Ich hole ihn um sieben ab. Wir essen in einem Grillrestaurant in der Nachbarschaft. Ein paar Leute starren ihn an, aber er scheint es nicht zur Kenntnis zu nehmen. Wir reden über seine Kindheit, lustige Geschichten aus der Zeit, als in Granger noch alles ganz anders war und Horden von Kindern durch die Straßen streiften. Wir lachen ein wenig, er vermutlich zum erstenmal seit Monaten. Aber die Unterhaltung ermüdet ihn. Sein Essen rührt er kaum an.

Kurz nach Einbruch der Dunkelheit treffen wir in einem Park in der Nähe des Messegeländes ein, wo auf zwei nebeneinanderliegenden Feldern Softball gespielt wird. Während wir über den Parkplatz fahren, mustere ich die Teams. Ich suche nach einem in gelben Trikots.

Wir parken auf einem grasbewachsenen Hang unter einem Baum, ziemlich am Ende des rechten Feldes. Es ist niemand in unserer Nähe. Ich hole zwei Liegestühle aus meinem Kofferraum, die ich mir von Miss Birdie geliehen habe, und helfe Donny Ray in einen von ihnen. Er kann allein gehen und ist entschlossen, es mit sowenig Hilfe wie möglich zu tun.

Es ist Spätsommer und selbst nach Einbruch der Dunkelheit noch an die dreißig Grad warm. Man kann förmlich sehen, wie feucht die Luft ist. Mein Hemd klebt mir am Rücken. Die stark verwitterte Fahne an dem Mast im Mittelfeld hängt reglos herunter.

Die Spielfläche ist ordentlich und eben, der Rasen des Außenfeldes dicht und frisch gemäht. Das Innenfeld besteht aus Erde, nicht aus Gras. Es gibt Unterstände, Zuschauertribünen, Schiedsrichter, eine erleuchtete Anzeigetafel, eine Imbißbude zwischen den beiden Feldern. Dies ist die A-Liga. Hier werden erbitterte Wettkämpfe im Slow-Pitch-Softball ausgetragen zwischen Teams mit richtig guten Spielern. Oder jedenfalls halten sie sich dafür.

Das Spiel wird zwischen PFX Freight, dem Team mit den gelben Trikots, und Army Surplus, dem Team in Grün mit dem Spitznamen Gunners auf dem Rücken ausgetragen, und es geht ums Ganze. Sie reden, greifen an wie die Wahnsinnigen, feuern sich gegenseitig an und verhöhnen gelegentlich die Spieler des anderen Teams. Sie jagen nach dem Ball, stürzen sich kopfüber auf die Base, streiten mit den Schiedsrichtern, werfen ihre Schläger hin, wenn sie ein Out produzieren.

Ich habe im College Slow-Pitch-Softball gespielt, konnte diesem Sport aber nie viel abgewinnen. Hier geht es offenbar nur darum, den Ball über den Zaun zu schlagen, alles andere spielt keine Rolle. Das passiert auch gelegentlich, und die Home Runs würden einen Babe Ruth erblassen lassen. Fast sämtliche Spieler sind Anfang Zwanzig, einigermaßen gut in Form, extrem arrogant und mit mehr Utensilien angetan als die Profis: Handschuhe an beiden Händen, breite Bandagen an den Handgelenken, über die Wangen geschmierte Wimperntusche, besondere Handschuhe für die Feldspieler.

Die meisten dieser Jungs warten immer noch darauf, entdeckt zu werden. Sie haben ihren Traum noch nicht aufgegeben.

Es sind auch ein paar ältere Spieler dabei, die schon einen Bauch angesetzt haben und nicht so schnell auf den Beinen sind. Es wirkt geradezu lächerlich, wie sie zur nächsten Base zu sprinten und Bälle aus der Luft zu holen versuchen. Man kann die Muskelzerrungen förmlich hören. Aber sie sind noch hitziger dabei als die jungen Spieler. Sie müssen etwas beweisen.

Donny Ray und ich reden wenig. Ich hole ihm Popcorn und eine Limonade vom Imbißstand. Er bedankt sich, auch dafür, daß ich ihn hierhergebracht habe.

Ich achte besonders auf den PFX-Mann an der dritten Base, einen muskulösen, sehr leichtfüßigen und geschickten Spieler. ET ist ständig in Bewegung und intensiv bei der Sache und wirft dem anderen Team unablässig irgendwelche dummen Bemerkungen an den Kopf. Als das Inning vorüber ist, beobachte ich, wie er auf den Zaun neben seinem Unterstand zugeht und etwas zu seinem Mädchen sagt. Kelly lächelt. Ich kann von hier aus ihre Grübchen und ihre Zähne sehen, und Cliff lacht. Er küßt sie füchtig auf die Lippen, dann stolziert er davon, um zu seinem Team zurückzukehren, das jetzt mit Schlagen an der Reihe ist.

Wie die Turteltäubchen. Er liebt sie wahnsinnig und seine Kumpel sollen sehen, wie er sie küßt. Die beiden können gar nicht genug voneinander bekommen.

Sie lehnt am Zaun, die Krücken neben sich und am Fuß einen kleineren Gehgips. Sie steht abseits, fern von den Tribünen und den anderen Fans. Sie kann mich hier, auf der anderen Seite des Feldes, nicht sehen, aber für alle Fälle habe ich eine Mütze aufgesetzt.

Ich frage mich, was sie tun würde, wenn sie mich erkennen sollte. Nichts vermutlich. Sie würde mich ignorieren.

Ich sollte froh sein, daß sie einen so glücklichen und gesunden Eindruck macht und mit ihrem Mann auszukommen scheint. Das Schlagen hat offensichtlich aufgehört, und dafür bin ich dankbar. Die Vorstellung, wie er mit einem Schläger auf sie eindrischt, macht mich krank. Aber es hat schon was Ironisches, daß ich Kelly nur bekommen kann, wenn er sie wieder mißhandelt.

Ich hasse mich selbst, daß ich so etwas denke.

Cliff ist am Schlagmal. Er schickt den dritten Schlag weit nach links über die Lichter hinweg außer Sichtweite. Es ist wirklich ein Mordsschlag. Er macht sich in aller Ruhe auf den Weg um die Bases und ruft Kelly etwas zu, als er bei der dritten stehenbleibt. Er ist ein begabter Sportler, viel besser als alle seine Mitspieler. Ich kann mir nicht einmal vorstellen, wie schrecklich es wäre, von diesem Mann mit seinem Softballschläger angegriffen zu werden.

Vielleicht hat er mit dem Trinken aufgehört, und vielleicht wird er in nüchternem Zustand nicht mehr auf seine Frau einschlagen. Vielleicht ist es an der Zeit, daß ich von der Bildfläche verschwinde.

Nach einer Stunde will Donny Ray ins Bett. Auf der Rückfahrt unterhalten wir uns über seine Aussage. Ich habe heute einen Antrag eingereicht und darum gebeten, seine Aussage, eine, die vor Gericht Gültigkeit hat, so bald wie möglich aufnehmen zu dürfen. Mein Mandant wird bald zu schwach sein, um eine zweistündige Frage-und-Antwort-Sitzung mit einem Haufen von Anwälten durchzustehen; also müssen wir uns beeilen.

«Wir sollten es besser bald tun«, sagt er leise, als wir in seine Auffahrt einbiegen.

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