Kapitel 2

Eine Stunde später ist Schluß mit dem trägen Hickhack über Chinesischer Dame und Gin Romme, und die letzten Gruftis verlassen das Gebäude. Ein Hausmeister wartet an der Tür, während Smoot uns zu einem abschließenden Kriegsrat um sich versammelt. Wir berichten nacheinander kurz über die verschiedenen Probleme unserer neuen Mandanten. Wir sind müde und möchten so schnell wie möglich von hier verschwinden.

Smoot macht ein paar Vorschläge, nichts Kreatives oder Originelles, und entläßt uns mit dem Versprechen, daß wir im Seminar über die juristischen Probleme der älteren Leute sprechen werden. Ich kann es kaum abwarten.

Booker und ich fahren in seinem Wagen, einem alten Pontiac, zu groß, um elegant zu sein, aber in wesentlich besserem Zustand als mein auseinanderfallender Toyota. Booker hat zwei kleine Kinder und eine Frau, die als Teilzeitlehrerin arbeitet, und deshalb existieren sie knapp oberhalb der Armutsgrenze. Er studiert fleißig und bekommt gute Noten, und deshalb ist eine reiche schwarze Kanzlei in der Innenstadt auf ihn aufmerksam geworden, eine ziemlich noble Firma, die sich mit Bürgerrechtsprozessen einen Namen gemacht hat. Sein Anfangsgehalt beträgt vierzigtausend im Jahr, sechstausend mehr, als Broadnax and Speer mir geboten haben.

«Ich hasse das Jurastudium«, sage ich, als wir vom Parkplatz des Cypress Gardens Senior Citizens Building herunterfahren.

«Daran ist nichts Ungewöhnliches«, erwidert Booker. Booker haßt nichts und niemanden, und manchmal behauptet er sogar, das Jurastudium wäre für ihn eine Herausforderung.

«Warum wollen wir Anwälte werden?«

«Um der Öffentlichkeit zu dienen, gegen Ungerechtigkeit anzukämpfen, die Gesellschaft zu verändern, du weißt schon, das Übliche. Hörst du Professor Smoot nicht zu?«»Laß uns ein Bier trinken.«

«Es ist noch nicht einmal drei Uhr, Rudy. «Booker trinkt wenig, und ich trinke noch weniger, weil es eine kostspielige Angewohnheit ist, und im Augenblick muß ich sparen, damit ich mir etwas zu essen kaufen kann.

«War nur ein Scherz«, sage ich. Er fährt in Richtung Juristische Fakultät. Heute ist Donnerstag, was bedeutet, daß ich mich morgen mit Sportrecht und dem Code Napoleon herumschlagen muß, zwei Seminaren, die ebenso wertlos sind wie Gruftirecht und sogar noch weniger Arbeit erfordern. Aber auf mich wartet ein Anwaltsexamen, und wenn ich daran denke, zittern mir die Hände. Wenn ich beim Examen durchfalle, dann werden mich diese netten, aber steifen und todernsten Typen bei Broadnax and Speer bestimmt entlassen, was bedeutet, daß ich ungefähr einen Monat arbeiten werde und dann auf der Straße stehe. Beim Anwaltsexamen durchzufallen ist unausdenkbar — die Folge wären Arbeitslosigkeit, Bankrott, Schande, Verhungern. Also weshalb denke ich jede Stunde des Tages daran?» Setz mich bei der Bibliothek ab«, sage ich.»Ich denke, ich werde mich mit diesen Fällen beschäftigen und dann fürs Examen büffeln.«

«Gute Idee.«

«Ich hasse die Bibliothek.«

«Alle hassen die Bibliothek, Rudy. Sie ist so angelegt, daß man sie hassen muß. Ihr Hauptzweck besteht darin, daß sie von Jurastudenten gehaßt wird. Du bist völlig normal.«

«Danke.«

«Diese erste alte Dame, Miss Birdie, die hat Geld?«

«Woher weißt du das?«

«Mir war, als hörte ich so etwas.«

«Ja. Sie schwimmt im Geld. Sie braucht ein neues Testament. Ihre Kinder und Enkel kümmern sich nicht um sie, deshalb will sie sie natürlich streichen.«

«Wieviel?«

«An die zwanzig Millionen.«

Booker mustert mich überaus argwöhnisch.

«Das behauptet sie jedenfalls«, setze ich hinzu.

«Und wer soll das Geld bekommen?«»Ein Fernsehprediger mit viel Sex-Appeal und eigenem Learjet.«

«Nein!«

«Doch.«

Booker versucht das zu verdauen, während er den Wagen zwei Blocks durch dichten Verkehr steuert.»Hör mal, Rudy, nimm es mir nicht übel, du bist ein netter Kerl, ein guter Student, intelligent, aber ist dir wohl bei dem Gedanken, ein Testament für eine derart große Hinterlassenschaft aufzusetzen?«

«Nein. Wäre dir etwa wohl dabei?«

«Natürlich nicht. Also, was wirst du tun?«

«Vielleicht stirbt sie im Schlaf.«

«Das glaube ich nicht. Dazu ist sie zu munter. Sie wird uns überleben.«

«Ich werde es bei Smoot abladen. Vielleicht einen der Steuerprofessoren bitten, mir zu helfen. Vielleicht sage ich Miss Birdie auch einfach, daß ich ihr nicht helfen kann, daß sie einem hochkarätigen Steueranwalt fünf Mille zahlen muß, damit er es aufsetzt. Im Grunde ist es mir völlig egal. Ich habe meine eigenen Probleme.«

«Texaco?«

«Ja. Sie sind hinter mir her. Mein Vermieter auch.«

«Ich wollte, ich könnte dir helfen«, sagt Booker, und ich weiß, daß er es ehrlich meint. Wenn er das Geld erübrigen könnte, würde er es mir mit Freuden leihen.

«Ich werde bis zum 1. Juli überleben. Dann bin ich ein großartiges Sprachrohr für Broadnax and Speer, und die Tage meiner Armut sind vorüber. Wie in aller Welt, Booker, soll ich es nur schaffen, vierunddreißigtausend Dollar im Jahr auszugeben?«

«Hört sich unmöglich an. Du wirst reich sein.«

«Ich meine, ich habe sieben Jahre lang praktisch nur von Trinkgeldern gelebt. Was soll ich bloß mit dem vielen Geld anfangen?«

«Dir einen Anzug kaufen?«

«Weshalb? Ich habe doch schon zwei.«

«Vielleicht ein Paar Schuhe?«

«Das ist es. Genau das werde ich tun, Booker. Schuhe kaufen und Krawatten, und vielleicht etwas zu essen, das nicht in einer Dose steckt. Und vielleicht eine neue Packung Unterhosen.«

In den letzten drei Jahren haben mich Booker und seine Frau mindestens zweimal im Monat zum Essen eingeladen. Sie heißt Charlene, stammt aus Memphis und vollbringt trotz des knappen Haushaltsgeldes wahre kulinarische Wunder. Sie sind Freunde, aber ich bin sicher, daß ich ihnen leid tue. Booker grinst, dann wendet er den Blick ab. Er hat es satt, Witze über im Grunde unerfreuliche Dinge zu machen.

Er lenkt den Wagen auf den Parkplatz an der Central Avenue gleich gegenüber der Juristischen Fakultät der Memphis State University.»Ich muß noch ein paar Dinge erledigen«, sagt er.

«Danke fürs Mitnehmen.«

«Gegen sechs bin ich wieder da. Dann können wir fürs Examen büffeln.«

«Okay. Ich werde unten sein.«

Ich schlage die Wagentür zu und sprinte über die Central.

In einer dunklen und abgelegenen Ecke im Keller der Bibliothek — praktisch unsichtbar hinter Stapeln von alten und aufgeplatzten juristischen Büchern — finde ich meinen Lieblingsplatz leer vor, auf mich wartend, wie er das seit nunmehr vielen Monaten getan hat. Er ist offiziell auf meinen Namen reserviert. Die Ecke ist fensterlos und zeitweise feucht und kalt, und aus diesem Grunde kommt nur selten jemand hierher. Ich habe Stunden in meiner eigenen kleinen Höhle verbracht, Fälle recherchiert und fürs Examen gelernt. Und in den letzten Wochen habe ich viele qualvolle Stunden hier gesessen und darüber nachgedacht, was mit Sara passiert ist, und mich gefragt, womit genau ich sie vertrieben habe. Hier peinige ich mich. Die flache Arbeitsplatte ist an drei Seiten von Täfelung umgeben, und inzwischen kenne ich die Maserung an jeder der kleinen Wände auswendig. Hier kann ich weinen, ohne ertappt zu werden. Ich kann sogar leise fluchen, und niemand hört es.

Während unserer grandiosen Affäre hat Sara viele Male hier bei mir gesessen, und wir haben gemeinsam gelernt, auf dicht aneinandergerückten Stühlen. Wir konnten kichern und lachen, ohne Aufsehen zu erregen. Wir konnten uns küssen und berühren, und niemand hat es gesehen. In diesem Augenblick, versunken in Depression und tiefem Schmerz, kann ich fast ihr Parfüm riechen.

Ich sollte mir wirklich in diesem weitläufigen Labyrinth einen anderen Platz zum Lernen suchen. Jetzt, da ich die Täfelung rings um mich herum anstarre, sehe ich ihr Gesicht vor mir und erinnere mich daran, wie sich ihre Beine anfühlten, und sofort überkommt mich ein qualvoller Druck in der Herzgegend, der mich regelrecht lahmt. Sie war hier, noch vor ein paar Wochen! Und nun streichelt ein anderer diese Beine.

Ich nehme den Packen Papiere der Blacks und gehe hinauf in die Versicherungsabteilung der Bibliothek. Meine Bewegungen sind langsam, aber meine Blicke schießen unentwegt in alle Richtungen. Sara kommt jetzt nur noch selten hierher, aber ein paarmal habe ich sie gesehen.

Ich breite Dots Papiere auf einem leeren Tisch zwischen den Regalen aus und lese abermals den Blöde-Brief. Er ist gemein und niederträchtig und wurde offenbar von jemandem geschrieben, der überzeugt war, daß Dot und Buddy ihn nie einem Anwalt zeigen würden. Ich lese ihn noch einmal und spüre, daß das Herzweh nachzulassen beginnt — es kommt und geht, und ich lerne, damit umzugehen.

Sara Plankmore ist wie ich im dritten Studienjahr, und sie ist das einzige Mädchen, in das ich je verliebt war. Sie hat mir vor vier Monaten den Laufpaß gegeben und mich gegen einen blaublütigen Typ eingetauscht, der eines der vornehmen Colleges besucht hat. Sie hat mir erzählt, sie wären alte Freunde von der High-School her und hätten sich während der Weihnachtsferien zufällig wiedergetroffen. Die Romanze flammte wieder auf, und es täte ihr leid, mir das antun zu müssen, aber das Leben ginge ja weiter. In der Fakultät schwirren Gerüchte herum, daß sie schwanger ist. Als ich das zum ersten Mal hörte, mußte ich mich tatsächlich übergeben.

Ich studiere die Police der Blacks von Great Benefit und mache mir seitenweise Notizen. Sie liest sich wie Sanskrit. Ich sortiere die Briefe und die Antragsformulare und die medizinischen Unterlagen. Für den Augenblick ist Sara verschwunden, und ich versinke in einem dubiosen Versicherungsfall, der mehr und mehr stinkt.

Die Police wurde für achtzehn Dollar wöchentlich von der Great Benefit Life Insurance Company in Cleveland, Ohio, ausgestellt. Ich gehe das Quittungsbuch durch, ein kleines Journal, in dem die wöchentlichen Zahlungen verzeichnet sind. Es sieht so aus, als wäre der Agent, ein gewisser Bobby Ott, tatsächlich jede Woche persönlich bei den Blacks erschienen.

Mein kleiner Tisch ist mit Stapeln von Papieren bedeckt, und ich lese alles, was Dot mir gegeben hat. Ich muß immer wieder an Max Leuberg denken, den kommunistischen Gastprofessor, und seinen leidenschaftlichen Haß auf Versicherungsgesellschaften. Sie regieren unser Land, hat er immer und immer wieder gesagt. Sie kontrollieren die Banken. Ihnen gehören die Grundstücke. Sie fangen sich einen Virus ein, und Wall Street hat eine Woche lang Durchfall. Und wenn die Zinsen sinken und ihr Einkommen aus Investitionen abstürzt, dann rennen sie zum Kongreß und verlangen eine Gesetzesreform. Klagen bringen uns um, schreien sie. Diese verdammten Anwälte reichen völlig unbegründete Klagen ein und bringen unwissende Geschworene dazu, daß sie ungeheuerliche Entschädigungssummen zuerkennen, und damit muß Schluß sein, denn sonst gehen wir pleite. Leuberg konnte so wütend werden, daß er Bücher an die Wand warf. Wir liebten ihn.

Und er lehrt noch hier. Ich glaube, er kehrt erst Ende dieses Semesters nach Washington zurück, und wenn ich den Mut dazu aufbringe, werde ich ihn vielleicht bitten, sich den BlackFall anzusehen. Er hat behauptet, er hätte im Norden bei mehreren großen Verfahren mitgearbeitet, bei denen die Geschworenen die Versicherungen zu horrenden Geldstrafen verurteilten.

Ich fange an, eine Zusammenfassung des Falls zu schreiben. Ich beginne mit dem Tag, an dem die Police ausgefertigt wurde, und liste dann chronologisch jedes maßgebliche Ereignis auf. Great Benefit hat es achtmal schriftlich abgelehnt, die Behandlungskosten zu übernehmen. Der achte war natürlich der Blöde-Brief. Ich kann Max Leuberg pfeifen und lachen hören, wenn er diesen Brief liest. Ich rieche Blut.

Professor Leuberg riecht es hoffentlich auch. Ich finde sein Büro zwischen zwei Lagerräumen im dritten Stock der Fakultät. Die Tür ist bedeckt mit Flugblättern, die zum Marsch für die Rechte der Schwulen oder zu Boykotts oder Demonstrationen für bedrohte Arten aufrufen, alles Anliegen, die in Memphis nur wenig Interesse erregen. Sie steht halb offen, und ich höre ihn ins Telefon bellen. Ich halte den Atem an und klopfe leise an.

«Herein!«ruft er, und ich schiebe mich langsam durch die Tür. Er deutet auf den einzigen Stuhl. Er ist voller Bücher, Akten und Zeitschriften. Das ganze Büro ist ein Schuttabladeplatz. Papiere, Abfälle, Zeitungen, Flaschen. Die Bücherregale stehen schief und sacken durch. Plakate bedecken die Wände. Alle möglichen Papiere liegen wie Pfützen auf dem Boden. Zeit und Organisation haben für Max Leuberg keinerlei Bedeutung.

Er ist ein magerer, kleiner Mann um die Sechzig mit wildem, buschigem, strohfarbenem Haar und Händen, die unablässig in Bewegung sind. Er trägt verblichene Jeans, Sweatshirts mit provozierenden Umweltslogans und alte Turnschuhe. Wenn es kalt ist, auch manchmal Socken. Seine nie nachlassende Aufgedrehtheit macht mich völlig nervös.

Er knallt den Hörer auf die Gabel.»Baker!«

«Baylor. Rudy Baylor. Versicherungsrecht, letztes Semester.«

«Natürlich, natürlich. Ich erinnere mich. Setzen Sie sich. «Er deutet wieder auf den Stuhl.

«Nein, danke.«

Er rutscht herum und verschiebt einen Stapel Papiere auf seinem Schreibtisch.»Also, was liegt an, Baylor?«Max wird von den Studenten angebetet, weil er sich immer Zeit zum Zuhören nimmt.

«Nun, äh, haben Sie eine Minute Zeit?«Normalerweise wäre ich wesentlich formeller und würde» Sir «oder so etwas sagen, aber Max haßt Formalitäten. Er hat darauf bestanden, daß wir ihn Max nennen.

«Natürlich. Was haben Sie auf dem Herzen?«

«Also, ich bin in einem Kurs von Professor Smoot«, erkläre ich, dann liefere ich ihm eine kurze Zusammenfassung meines Besuches bei den Gruftis und von Dot und Buddy und ihrem Kampf gegen Great Benefit. Er scheint sich kein Wort entgehen zu lassen.

«Haben Sie je etwas von Great Benefit gehört?«frage ich.

«Ja. Es ist eine große Gesellschaft, die Unmengen von billigen Versicherungen an Weiße und Schwarze auf dem Lande verkauft. Sehr windiger Haufen.«

«Ich habe nie von ihnen gehört.«

«Kein Wunder. Sie inserieren nicht. Ihre Agenten klappern die Haustüren ab und kassieren jede Woche die Prämien. Wir reden hier über die Achselhöhle der Branche, die stinkt, wenn man sie ankratzt. Zeigen Sie mir mal die Police.«

Ich gebe sie ihm, und er blättert sie durch.»Was sind ihre Ablehnungsgründe?«

«Alles mögliche. Zuerst haben sie nur so aus Prinzip abgelehnt. Dann haben sie gesagt, Leukämie wäre von den Ersatzleistungen ausgeschlossen. Dann haben sie gesagt, die Leukämie hätte bereits vor Vertragsabschluß bestanden. Dann haben sie gesagt, der Junge wäre volljährig und deshalb unter der Police seiner Eltern nicht mehr gedeckt. Sie haben sich eine Menge einfallen lassen.«

«Wurden alle Prämien gezahlt?«

«Nach Angabe von Mrs. Black, ja.«

«Diese Mistkerle. «Er schlägt weitere Seiten auf, lächelt boshaft. Max gefällt das.»Und Sie haben die ganze Akte durchgesehen?«

«Ja. Ich habe alles gelesen, was meine Mandantin mir gegeben hat.«

Er wirft die Police auf den Schreibtisch.»Eindeutig wert, daß man sich näher damit beschäftigt«, sagt er.»Aber denken Sie daran — Mandanten geben einem nur selten von Anfang an das ganze Material an die Hand. «Ich gebe ihm den Blöde-

Brief. Während er ihn liest, erscheint auf seinem Gesicht ein weiteres böses Lächeln. Er liest ihn noch einmal, dann sieht er mich an.»Unglaublich.«

«Das finde ich auch«, setze ich hinzu wie ein altgedienter Wachhund der Versicherungsbranche.

«Wo ist der Rest der Akte?«fragt er.

Ich lege den gesamten Papierstapel auf seinen Schreibtisch.»Das ist alles, was Mrs. Black mir gegeben hat. Sie hat gesagt, ihr Sohn stirbt, weil sie die Behandlung nicht bezahlen können. Jetzt wiege er nur noch fünfundfünfzig Kilo und hätte nicht mehr lange zu leben.«

Jetzt liegen seine Hände einen Moment unbeweglich da.»Mistkerle«, sagt er wieder.»Widerliche Mistkerle.«

Ich bin völlig seiner Meinung, sage aber nichts. In einer Ecke sehe ich ein weiteres Paar Turnschuhe stehen — sehr alte Nikes. In der Vorlesung hat er uns erklärt, daß er früher Converse getragen hat, aber jetzt die Firma wegen einer Recycling-Auseinandersetzung boykottiert. Er kämpft seinen kleinen Privatkrieg gegen die amerikanischen Großunternehmen und kauft nichts von einem Hersteller, der ihm aus irgendeinem Grund mißfällt. Er weigert sich, sein Leben, seine Gesundheit oder seinen Besitz zu versichern, aber Gerüchten zufolge ist seine Familie reich, und er kann es sich leisten, auf Versicherungen zu verzichten. Ich dagegen lebe aus naheliegenden Gründen in der Welt der Unversicherten.

Die meisten meiner Professoren sind spießige Akademiker, die ständig Krawatten tragen und ihre Vorlesungen mit zugeknöpften Jacketts halten. Max hat schon seit Jahrzehnten keine Krawatte mehr umgebunden. Und er hält keine Vorlesungen. Er gibt Vorstellungen. Es ist ein Jammer, daß er von hier fortgeht. _

Seine Hände erwachen wieder zum Leben.»Ich möchte mir das heute abend mal genauer ansehen«, sagt er, ohne mich anzusehen.

«Kein Problem. Kann ich morgen früh wieder hereinschauen?«

«Natürlich. Jederzeit.«

Sein Telefon läutet, und er greift nach dem Hörer. Ich lächle und ziehe mich überaus erleichtert zurück. Ich werde am Morgen wiederkommen, mir seinen Rat anhören und dann einen zweiseitigen Bericht für die Blacks schreiben, in dem ich das wiedergebe, was er mir sagt.

Jetzt muß ich nur noch einen klugen Kopf finden, der die Recherchen in Sachen Miss Birdie übernimmt. Ich habe schon ein paar Kandidaten, Steuerprofessoren, und vielleicht versuche ich morgen bei ihnen mein Glück. Ich gehe langsam die Treppe hinunter und betrete den Aufenthaltsraum neben der Bibliothek. Er ist der einzige Raum im Gebäude, in dem das Rauchen erlaubt ist, und unter den Lampen hängt der Qualm ständig in dicken Schwaden. Hier gibt es ein Fernsehgerät und eine ganze Kollektion von mißhandelten Sofas und Stühlen. Gruppenfotos schmücken die Wände — gerahmte Ansammlungen von beflissenen Gesichtern, die schon vor langer Zeit in die Schützengräben des juristischen Krieges geschickt wurden. Wenn der Raum leer ist, sehe ich sie, meine Vorgänger, oft an und frage mich, wie viele von ihnen inzwischen wieder aus der Anwaltskammer ausgeschlossen worden sind, wie viele sich wünschen, nie hierhergekommen zu sein, und wie wenigen es tatsächlich Spaß macht, Klage zu führen und zu verteidigen. Eine Wand ist für Anschläge, Bekanntmachungen und Gesuche von erstaunlicher Vielfalt reserviert, und dahinter steht eine Reihe von Speisen- und Getränkeautomaten. Ich nehme viele Mahlzeiten hier ein. Automatenessen wird nicht genügend gewürdigt.

In einer Ecke sehe ich den Ehrenwerten F. Franklin Donaldson den Vierten im Gespräch mit dreien seiner Kumpel, allesamt eingebildete Typen, die für die Juristische Zeitschrift schreiben und auf jeden herabsehen, der es nicht tut. Er bemerkt mich und scheint sich für irgend etwas zu interessieren. Er lächelt mir zu, als ich vorbeigehe, was ungewöhnlich ist, weil er normalerweise immer eine finstere Miene zur Schau trägt.

«Sag mal, Rudy, du gehst doch zu Broadnax and Speer, ist das richtig?«ruft er laut. Der Fernseher ist ausgeschaltet. Seine Kumpel mustern mich. Zwei Studentinnen auf einem Sofa heben die Köpfe und schauen in meine Richtung.

«Ja. Wieso?«frage ich. F. Franklin der Vierte hat einen Job bei einer Kanzlei, die über sehr viel Tradition und Geld und mindestens soviel Snobismus verfügt und Broadnax and Speer turmhoch überlegen ist. Im Augenblick sind seine Kumpel W. Harper Whittenson, ein arroganter Schnösel, der glücklicherweise aus Memphis verschwinden und bei einer MegaFirma in Dallas arbeiten wird; J. Townsend Gross, der eine Stellung bei einem anderen großen Laden angenommen hat; und James Straybeck, ein gelegentlich netter Kerl, der sich ohne ein Initial vor und eine Zahl hinter seinem Namen durch drei Jahre Jurastudium gequält hat. Mit einem so kurzen Namen ist es um seine Zukunft als Anwalt in einer großen Kanzlei schlecht bestellt; ich bezweifle, daß er es schaffen wird.

F. Franklin der Vierte kommt einen Schritt auf mich zu. Er lächelt übers ganze Gesicht.»Also erzähl uns, was da läuft.«

«Was soll denn da laufen?«Ich habe keine Ahnung, wovon er redet.

«Na, du weißt schon, die Fusion.«

Ich verziehe keine Miene.»Welche Fusion?«

«Du weißt noch nichts davon?«

«Wovon?«

F. Franklin der Vierte wirft einen Blick auf seine drei Kumpel, und alle scheinen sich ganz prächtig zu amüsieren. Sein Lächeln wird noch breiter, als er mich wieder ansieht.»Von der Fusion von Broadnax and Speer mit Tinley Britt.«

Ich stehe ganz still da und versuche, mir etwas Intelligentes oder Schlagfertiges einfallen zu lassen. Aber im Moment fehlen mir die Worte. Ich habe keine Ahnung von einer Fusion, und diese Arschlöcher wissen offenbar etwas. Broadnax and Speer ist ein kleiner Betrieb, fünfzehn Anwälte, und ich bin der einzige, den sie aus meinem Jahrgang eingestellt haben. Als wir vor zwei Monaten handelseinig wurden, war von irgendwelchen Fusionsplänen nicht die Rede.

Tinley Britt dagegen ist die größte, spießigste, einflußreichste und reichste Firma im ganzen Staat. Nach der letzten Zählung betrachten sie nicht weniger als einhundertzwanzig Anwälte als ihr Zuhause. Viele haben an den Traditionsuniversitäten von Neuengland studiert. Viele haben Posten bei einer

Bundesbehörde im Stammbaum. Es ist eine mächtige Firma, die reiche Gesellschaften und Bundesorgane vertritt und ein Büro in Washington unterhält, wo sie ihre Interessen bei der Elite durchsetzt. Sie ist eine Bastion aggressiver konservativer Politik. Zu den Partnern gehört ein ehemaliger US-Senator. Ihre angestellten Anwälte arbeiten achtzig Stunden pro Woche, und alle tragen Marineblau und Schwarz und dazu Hemden mit angeknöpftem Kragen und gestreifte Krawatten. Ihre Haare sind kurz geschnitten, Barte sind nicht erlaubt. Man kann einen Tinley-Britt-Anwalt schon an der Art erkennen, wie er sich bewegt und wie er gekleidet ist. In der Firma arbeiten ausschließlich Männer aus den richtigen Familien, von den richtigen Universitäten und aus den richtigen Studentenverbindungen, und deshalb heißt sie bei den Juristen in Memphis immer Trent & Brent.

J. Townsend Gross hat die Hände in den Taschen und lächelt mich höhnisch an. Er ist Nummer zwei in unserem Jahrgang, trägt das richtige Maß an Stärke in seinen Polohemden und fährt einen BMW, und deshalb fühlte er sich sofort zu Trent & Brent hingezogen.

Meine Knie sind weich, weil ich weiß, daß Trent & Brent mich nie würde haben wollen. Wenn Broadnax and Speer tatsächlich mit diesem Koloß fusioniert hat, dann, fürchte ich, werde ich auf der Strecke bleiben.

«Nein, davon weiß ich nichts«, sage ich schwach. Die Mädchen auf dem Sofa beobachten mich genau. Dann herrscht Stille.

«Willst du behaupten, daß sie es dir nicht gesagt haben?«fragt F. Franklin der Vierte fassungslos.»Jack hier hat es heute gegen Mittag gehört«, sagt er und deutet mit einem Kopfnik-ken auf seinen Kumpel J. Townsend Gross.

«Es ist wahr«, sagt J. Townsend.»Aber der Firmenname bleibt unverändert.«

Der Firmenname in seiner offiziellen Fassung ist Tinley, Britt, Crawford, Mize and St. John. Gnädigerweise hat sich vor etlichen Jahren jemand für die abgekürzte Form entschieden. Mit der Bemerkung, daß der Firmenname unverändert bleibt, hat J. Townsend sein kleines Publikum informiert, daß Broadnax and Speer so winzig und unbedeutend ist, daß Tinley Britt es ohne den kleinsten Rülpser schlucken kann.

«Also ist es nach wie vor Trent & Brent?«sage ich zu J. Townsend, der bei diesem allzu gebräuchlichen Spitznamen empört schnaubt.

«Ich kann es einfach nicht glauben, daß sie dir nichts davon gesagt haben«, setzt F. Franklin der Vierte nach.

Ich zucke die Achseln, als wäre das alles völlig belanglos, und steuere auf die Tür zu.»Vielleicht machst du dir deswegen zu viele Gedanken, Frankie. «Sie sehen sich befriedigt an, als hätten sie erreicht, was immer sie erreichen wollten, und ich verlasse den Aufenthaltsraum. Ich betrete die Bibliothek, und der junge Mann, der hinter dem Tresen am Eingang sitzt, winkt mich heran.

«Hier ist eine Nachricht«, sagt er und händigt mir einen Zettel aus. Ich soll Loyd Beck anrufen, den geschäftsführenden Partner bei Broadnax and Speer, den Mann, der mich eingestellt hat.

Die Münztelefone sind im Aufenthaltsraum, aber ich bin nicht in der Stimmung, F. Franklin den Vierten und seine Bande von Halsabschneidern wiederzusehen.»Darf ich Euer Telefon benutzen?«frage ich den jungen Mann, einen Studenten im zweiten Jahr, der so tut, als gehörte die Bibliothek ihm.

«Die Telefone sind im Aufenthaltsraum«, sagt er und deutet in die entsprechende Richtung, als hätte ich hier drei Jahre Jura studiert und wüßte immer noch nicht, wo der Aufenthaltsraum ist.

«Ich komme gerade von dort. Sie sind alle besetzt.«

Er runzelt die Stirn und schaut sich um.»Okay, aber mach's kurz.«

Ich tippe die Nummer von Broadnax and Speer ein. Es ist fast sechs Uhr, und die Sekretärinnen machen um fünf Feierabend. Nach dem neunten Läuten sagt eine Männerstimme einfach» Hallo?«

Ich drehe der Eingangshalle der Bibliothek den Rücken zu und versuche, mich in den Regalen mit den Handapparaten zu verstecken.»Hallo, hier ist Rudy Baylor. Ich bin in der Universität und habe eben eine Nachricht erhalten, daß ich Loyd

Beck anrufen soll. Es sei dringend. «Auf dem Zettel steht nichts davon, daß es dringend wäre, aber in diesem Moment bin ich ziemlich nervös.

«Rudy Baylor? Um was geht es?«

«Ich bin der Student, den Sie gerade eingestellt haben. Mit wem spreche ich?«

«Ach ja, Baylor. Ich bin Carson Bell. Äh, Loyd ist in einer Sitzung und kann im Augenblick nicht gestört werden. Versuchen Sie es in einer Stunde noch einmal.«

Ich bin Carson Bell kurz begegnet, als ich im Büro herumgeführt wurde, und ich erinnere mich an ihn als an einen typischen überarbeiteten Prozeßanwalt, eine Sekunde lang freundlich und dann zurück an die Arbeit.»Äh, Mr. Bell, ich glaube, ich muß unbedingt mit Mr. Beck sprechen.«

«Tut mir leid, aber im Moment geht das nicht. Okay?«

«Ich habe Gerüchte über eine Fusion mit Trent — äh — mit Tinley Britt gehört. Stimmt das?«

«Hören Sie, Rudy, ich habe zu tun und kann jetzt nicht darüber sprechen. Rufen Sie in einer Stunde wieder an, dann wird Loyd sich mit Ihnen befassen.«

Sich mit mir befassen?» Bin ich immer noch bei Ihnen angestellt?«

«Rufen Sie in einer Stunde wieder an«, sagt er gereizt, dann knallt er den Hörer auf die Gabel.

Ich schreibe ein paar Zeilen auf ein Stück Papier und gebe es dem jungen Mann.»Kennst du Booker Kane?«frage ich.

«Ja.«

«Gut. Er wird in ein paar Minuten hiersein. Gib ihm diese Nachricht. Sag ihm, daß ich in ungefähr einer Stunde zurück sein werde.«

Er grunzt, aber er nimmt den Zettel. Ich verlasse die Bibliothek, drücke mich am Aufenthaltsraum vorbei und bete, daß niemand mich sieht. Dann verlasse ich das Gebäude und laufe zum Parkplatz, wo mein Toyota auf mich wartet. Ich hoffe, daß der Motor anspringt. Eines meiner dunkelsten Geheimnisse ist, daß ich einer Finanzierungsgesellschaft für dieses erbärmliche Wrack immer noch fast dreihundert Dollar schulde. Ich habe sogar Booker angelogen. Er glaubt, er wäre bezahlt.

Загрузка...