Kapitel 23

Bruisers beiläufige Bemerkung, daß er mich bei der Black-Anhörung vielleicht die Vertretung unserer Position übernehmen lassen würde, hält mich fast die ganze Nacht hindurch wach. Ich weiß zwar nicht, ob er als weiser Mentor damit nur bluffen wollte, aber ich mache mir darüber mehr Gedanken als über die Frage, ob ich mit Deck zusammenarbeiten soll oder nicht.

Es ist noch dunkel, als ich bei Trudy's eintreffe. Ich bin ihr erster Gast. Der Kaffee ist frisch aufgebrüht, und die Doughnuts dampfen noch. Wir plaudern ein bißchen, aber Trudy hat viel zu tun.

Ich auch. Ich lasse die Zeitungen liegen und versenke mich in meine Notizen. Von Zeit zu Zeit schaue ich durch das Fenster auf den leeren Parkplatz und halte Ausschau nach Agenten in unauffälligen Fahrzeugen, die filterlose Zigaretten rauchen und abgestandenen Kaffee trinken, wie im Film. Manchmal kann man Deck aufs Wort glauben, dann wieder ist er so verquer, wie er aussieht.

Auch er kommt zeitig. Ein paar Minuten nach sieben bekommt er seinen Kaffee und läßt sich auf dem Stuhl mir gegenüber nieder. Das Lokal ist jetzt halb voll.

«Und?«ist sein erstes Wort.

«Versuchen wir es für ein Jahr«, sage ich. Ich habe beschlossen, daß wir beide eine Vereinbarung unterschreiben, die auf ein Jahr befristet ist und außerdem eine dreißigtägige Kündigungsfrist enthält für den Fall, daß einer von uns nicht mehr mitmachen will.

Und schon strahlen mich Decks glänzende Zähne an, er kann seine Freude nicht verhehlen. Über den Tisch hinweg streckt er mir die Hand entgegen. Dies ist ein ganz großer Augenblick für Deck. Ich wollte, ich könnte dasselbe empfinden wie er.

Ich habe weiterhin beschlossen, daß ich versuchen werde, ihn an die Kandare zu nehmen und davon abzubringen, daß er jeder Katastrophe nachrennt. Wenn wir hart arbeiten und für unsere Mandanten tun, was wir können, werden wir gut über die Runden kommen und uns hoffentlich vergrößern. Ich werde Deck ermutigen, fürs Anwaltsexamen zu lernen, seine Lizenz zu erwerben und seine Profession mit mehr Respekt zu betrachten.

Das muß natürlich allmählich geschehen.

Und ich bin keineswegs naiv. Von Deck zu erwarten, daß er sich von Krankenhäusern fernhält, ist ungefähr dasselbe, wie von einem Trinker, daß er nicht mehr in die Kneipe geht. Aber ich werde es wenigstens versuchen.

«Haben Sie Ihre Akten geholt?«flüstert er und schaut zur Tür, durch die gerade zwei Lastwagenfahrer hereingekommen sind.

«Ja. Und Sie?«

«Ich habe schon die ganze Woche Zeug herausgeschmuggelt.«

Darüber möchte ich lieber nichts Genaueres hören. Ich lenke das Gespräch auf die Black-Anhörung, und Deck lenkt es wieder zurück auf unser neues Unternehmen. Um acht machen wir uns auf den Weg zu unseren Büros. Deck mustert jeden Wagen auf dem Parkplatz, als wären sie allesamt voll mit FBI-Agenten.

Viertel nach acht ist Bruiser noch nicht erschienen. Deck und ich diskutieren über die Argumente in Drummonds Schriftsätzen. Hier, wo die Wände und die Telefone möglicherweise verwanzt sind, unterhalten wir uns nur noch über juristische Dinge.

Halb neun, und noch keine Spur von Bruiser. Er hatte ausdrücklich gesagt, er würde um acht dasein, damit wir die Akte noch einmal durchgehen könnten. Richter Hales Gerichtssaal befindet sich im Shelby County Courthouse, eine Fahrt von etwa zwanzig Minuten, aber der Verkehr ist unberechenbar. Deck ruft widerstrebend in Bruisers Wohnung an, aber dort meldet sich niemand. Dru sagt, sie hätte ihn eigentlich so gegen acht erwartet. Sie versucht die Nummer von seinem Autotelefon, ebenfalls vergeblich. Kann sein, daß er im Gericht auf Sie wartet, sagt sie.

Deck und ich packen die Akte in meinen Koffer, und Viertel vor neun verlassen wir das Büro. Er kennt den kürzesten Weg, sagt er, also fährt er, während ich schwitze. Meine Hände sind feucht, und meine Kehle ist trocken. Wenn Bruiser mich bei dieser Anhörung hängenläßt, werde ich es ihm nie verzeihen. Im Gegenteil: Ich werde ihn auf ewig hassen.

«Immer mit der Ruhe«, sagt Deck, der tief übers Lenkrad gebeugt im Zickzack zwischen den Fahrspuren hin- und herfährt und massenhaft rote Ampeln überfährt. Sogar Deck kann mir meine Angst ansehen.»Ich bin sicher, daß Bruiser dasein wird. «Sein Ton klingt alles andere als überzeugt.»Und wenn nicht, dann werden Sie's schon machen. Es ist schließlich nur eine Anhörung, ich meine, es sitzt ja keine Jury im Saal, nicht?«

«Halten Sie den Mund und konzentrieren Sie sich aufs Fahren. Und versuchen Sie, uns nicht umzubringen.«

«Ein bißchen nervös, wie?«

Wir sind in der Innenstadt, in dichtem Verkehr, und ich schaue mit Grausen auf die Uhr. Es ist genau neun. Deck drängt zwei Fußgänger von der Straße, dann fährt er über einen winzigen Parkplatz.»Sehen Sie die Tür da drüben?«sagt er und deutet auf eine Ecke des Shelby County Courthouse, eines gewaltigen Baus, der einen ganzen Block einnimmt.

«Ja.«

«Gehen Sie dort rein, eine Treppe hoch, der Gerichtssaal ist die dritte Tür rechts.«

«Und Sie glauben, daß Bruiser da ist?«frage ich mit ziemlich zittriger Stimme.

«Klar«, sagt er. Er lügt. Er steigt auf die Bremse, fährt an den Bordstein, und ich springe aus dem Wagen.»Ich komme nach, sobald ich geparkt habe«, ruft er. Ich renne ein paar Betonstufen hoch, durch die Tür, die Treppe zum ersten Stock hinauf, und dann befinde ich mich plötzlich in den Hallen der Gerechtigkeit.

Das Shelby County Courthouse ist alt, beeindruckend und wunderbar restauriert. Fußböden und Wände sind aus Marmor, die Doppeltüren aus poliertem Mahagoni. Der Flur ist breit, dunkel, still und gesäumt mit Holzbänken unter den Porträts hervorragender Juristen.

Ich verlangsame mein Tempo zu einem Joggen, dann bleibe ich vor dem Saal des Ehrenwerten Harvey Hale stehen. Bezirksgericht Abteilung Acht, steht auf einer Messingtafel neben der Tür.

Keine Spur von Bruiser außerhalb des Gerichtssaals, und als ich langsam die Tür aufstoße und hineinschaue, ist das erste, was ich nicht sehe, sein massiger Körper. Er ist nicht da.

Aber der Gerichtssaal ist nicht leer. Ich blicke den mit einem roten Teppich ausgelegten Gang hinunter, über die Reihen der polierten und mit Kissen belegten Bänke hinweg, durch die niedrige Schwingpforte und sehe, daß eine ganze Menge Leute auf mich warten. Hoch oben, auf einem großen, burgunderroten Ledersessel sitzt ein unsympathischer Mann in schwarzer Robe, von dem ich vermute, daß es Richter Hale sein muß, und blickt finster in meine Richtung. Eine Uhr an der Wand hinter ihm zeigt die Zeit mit zwölf Minuten nach neun an. Eine Hand stützt sein Kinn, während die Finger der anderen ungeduldig trommeln.

Links von mir, hinter der Schranke, die die Zuschauerbänke vom Richtertisch, der Geschworenenbank und den Tischen der Anwälte trennt, sehe ich eine Gruppe von Männern, die allesamt die Hälse nach mir recken. Erstaunlicherweise sehen sie alle gleich aus — kurzes Haar, dunkle Anzüge, weiße Hemden, gestreifte Krawatten, ernste Gesichter, verächtliches Grinsen.

Im Raum herrscht Stille. Ich komme mir vor wie ein Eindringling. Sogar die Protokollführerin und der Gerichtsdiener scheinen gegen mich zu sein.

Mit schweren Füßen und weichen Knien gehe ich auf die Pforte in der Schranke zu. Mein Selbstbewußtsein ist gleich Null. Meine Kehle wie ausgedörrt. Die Worte klingen trocken und schwach.»Bitte entschuldigen Sie, Sir, aber ich bin wegen der Black-Anhörung hier.«

Der Richter verzieht keine Miene. Seine Finger trommeln weiter.»Und wer sind Sie?«

«Mein Name ist Rudy Baylor. Ich arbeite für Lyman Stone.«

«Wo ist Mr. Stone?«fragt er.

«Das weiß ich nicht. Wir wollten uns hier treffen. «Links von mir kommt Bewegung in die Gruppe von Anwälten, aber ich schaue nicht hin. Richter Hale hört mit dem Trommeln auf, hebt sein Kinn von der Hand und schüttelt frustriert den Kopf.»Weshalb bin ich nicht überrascht?«sagt er in sein Mikrofon.

Da Deck und ich uns aus dem Staub machen wollen, bin ich entschlossen, den Fall Black mitzunehmen. Er gehört mir! Niemand sonst wird ihn bekommen. Richter Hale kann in diesem Moment nicht wissen, daß ich der Anwalt bin, der in diesem Fall die Anklage vertreten wird, nicht Bruiser. Obwohl total verängstigt, beschließe ich rasch, daß dies der rechte Moment ist, meine Position klarzumachen.

«Ich nehme an, Sie wollen eine Vertagung«, sagt er.

«Nein, Sir. Ich bin bereit, zu dem Antrag Stellung zu nehmen«, sage ich so nachdrücklich wie möglich. Ich schiebe mich durch die Pforte und lege die Akte auf den Tisch zu meiner Rechten.

«Sind Sie Anwalt?«fragt er.

«Ja. Ich habe gerade das Examen bestanden.«

«Aber Ihre Lizenz haben Sie noch nicht?«

Ich weiß nicht, wieso ich daran bisher noch gar nicht gedacht habe. Vermutlich war ich so stolz, daß es mir einfach nicht in den Sinn gekommen ist. Außerdem sollte heute Bruiser das Reden übernehmen und ich nur hin und wieder ein paar Sätze einwerfen, der Übung halber.»Nein, Sir. Die Vereidigung findet nächste Woche statt.«

Einer meiner Feinde räuspert sich so laut, daß der Richter zu ihm hinsehen muß. Ich drehe den Kopf und sehe einen distinguierten Herrn in marineblauem Anzug, der gerade im Begriff ist, sich von seinem Stuhl zu erheben.»Wenn das Gericht gestattet«, sagt er, als hätte er das bereits millionenmal gesagt.»Für das Protokoll, mein Name ist Leo F. Drummond von Tinley Britt, wir vertreten Great Benefit Life. «Er spricht mit tiefernster Stimme zu seinem lebenslangen Freund und Zimmergenossen in Yale hoch. Die Protokollführerin beschäftigt sich wieder mit dem Feilen ihrer Nägel.

«Und wir erheben Einspruch gegen das Erscheinen dieses jungen Mannes in dieser Sache. «Er schwenkt die Arme in meine Richtung. Er redet langsam und betont. Ich hasse ihn schon jetzt.»Mein Gott, er hat ja nicht einmal eine Lizenz.«

Ich hasse ihn wegen seines herablassenden Tons und wegen seiner albernen Haarspalterei. Das hier ist schließlich nur eine Anhörung, kein Prozeß.

«Euer Ehren, nächste Woche werde ich meine Lizenz haben«, sage ich. Mein Zorn ist eine große Hilfe für meine Stimme.

«Das genügt nicht, Euer Ehren«, sagt Drummond mit weit ausgebreiteten Armen, als wäre das Ganze doch einfach lächerlich. Wie kann man nur!

«Ich habe das Anwaltsexamen bestanden, Euer Ehren.«

«Tolle Leistung«, wirft Drummond mir an den Kopf.

Ich schaue ihn direkt an. Er steht inmitten von vier weiteren Männern, von denen drei mit Blöcken vor sich an seinem Tisch sitzen. Der vierte sitzt hinter ihnen. Alle starren mich an.

«Es ist eine tolle Leistung, Mr. Drummond. Erkundigen Sie sich bei Shell Boykin«, sage ich. Drummonds Gesicht verspannt sich, und er zuckt merklich zusammen. Alle am Tisch der Verteidigung zucken zusammen.

Das ist eine ziemlich schäbige Bemerkung, aber ich konnte der Versuchung einfach nicht widerstehen. Shell Boykin ist einer der Studenten aus meinem Jahrgang, der den Vorzug hatte, von Trent & Brent eingestellt zu werden. Wir haben uns gegenseitig drei Jahre lang verabscheut und beide vorigen Monat das Examen abgelegt. Sein Name stand letzten Samstag nicht in der Zeitung. Ich bin ganz sicher, daß es dieser großen Kanzlei ziemlich peinlich ist, daß einer ihrer jungen Strahlemänner beim Examen durchgefallen ist.

Drummonds Blicke werden noch finsterer, und ich reagiere mit einem Lächeln. In den paar Sekunden, in denen wir dastehen und uns gegenseitig mustern, lerne ich eine ungeheuer wertvolle Lektion. Er ist nur ein Mann. Er mag ein legendärer Prozeßanwalt sein mit einer Menge Kerben in seinem Gürtel, aber er ist nur ein Mann wie jeder andere. Er wird nicht den Gang überqueren und mich ohrfeigen, weil ich ihm dann eine Tracht Prügel verpassen würde. Er kann mir nichts antun, und seine kleine Gehilfenschar ebensowenig.

In einem Gerichtssaal hat eine Seite soviel Gewicht wie die andere. Mein Tisch ist ebenso groß wie seiner.

«Setzen Sie sich!«knurrt Seine Ehren ins Mikrofon.»Alle beide. «Ich suche mir einen Stuhl und lasse mich darauf nieder.»Eine Frage, Mr. Baylor. Wer wird diesen Fall im Namen Ihrer Kanzlei vertreten?«

«Ich, Euer Ehren.«

«Und was ist mit Mr. Stone?«

«Das weiß ich nicht. Aber dies ist mein Fall, es sind meine Mandanten. Mr. Stone hat die Klage für mich eingereicht, weil ich damals das Examen noch nicht abgelegt hatte.«

«Also gut. Fangen wir an. Fürs Protokoll«, sagt er und sieht die Protokollantin an, die bereits in ihre Maschine tippt.»Wir verhandeln hier den Antrag der Verteidigung auf Klageabweisung, also fängt Mr. Drummond an. Ich gestehe jeder Partei fünfzehn Minuten Redezeit zu, dann werde ich darüber nachdenken. Ich will nicht den ganzen Vormittag hier sitzen. Sind wir uns einig?«

Alle nicken. Die Männer am Tisch der Verteidigung gleichen hölzernen Enten in einem Schießstand auf dem Jahrmarkt, alle Köpfe nicken gleichzeitig. Leo Drummond begibt sich zu einem mobilen Podium in der Mitte des Gerichtssaals und beginnt mit seinem Plädoyer. Er ist langsam und penibel, und nach ein paar Minuten wird es langweilig. Er referiert die Hauptpunkte, die er bereits in seinem ausgedehnten Schriftsatz angeführt hat und denen zufolge Great Benefit zu Unrecht angeklagt worden ist, weil ihre Police Knochenmarkstransplantationen nicht abdeckt. Dann ist da natürlich noch die Frage, ob Donny Ray Black überhaupt an der Police teilhat, da er volljährig ist und dem Haushalt nicht mehr angehört.

Ich hatte offen gestanden mehr erwartet. Ich dachte, ich würde von dem großen Leo Drummond etwas fast Magisches zu hören bekommen. Bis gestern hatte ich mich sogar auf diesen anfänglichen Schlagabtausch gefreut. Ich wollte eine schöne Keilerei erleben zwischen Drummond, dem geschliffenen Advokaten, und Bruiser, dem Draufgänger im Gerichtssaal.

Aber wenn ich nicht so nervös wäre, würde ich einschlafen. Er redet ohne Pause und überzieht seine fünfzehn Minuten. Richter Hale schaut zu ihm herunter und liest irgend etwas, vermutlich eine Zeitschrift. Zwanzig Minuten. Deck hat gesagt, er hätte gehört, daß Drummond zweihundertfünfzig Dollar für eine Bürostunde berechnet und dreihundertfünfzig die Stunde bei einem Auftritt vor Gericht. Das liegt erheblich unter den Standards von New York und Washington, aber für Memphis ist es sehr viel. Er hat einen guten Grund, langsam zu reden und sich zu wiederholen. Es zahlt sich aus, gründlich und sogar penibel zu sein, wenn man solche Honorare in Rechnung stellt.

Seine drei Gehilfen machen sich hektisch Notizen; sie versuchen offensichtlich, alles festzuhalten, was ihr großer Anführer zu sagen hat. Es ist fast komisch, und unter angenehmeren Umständen würde ich mir vielleicht sogar ein Lachen abringen. Erst haben sie Recherchen betrieben, dann haben sie den Schriftsatz verfaßt, dann haben sie ihn mehrere Male umgeschrieben, dann haben sie auf meinen Schriftsatz reagiert, und nun halten sie Drummonds Argumente fest, die er nahezu wörtlich diesen Schriftsätzen entnimmt. Aber sie werden dafür bezahlt. Deck vermutet, daß Tinley Britt für seine angestellten Anwälte um die einhundertfünfzig Dollar pro Stunde für Büroarbeit berechnet und wahrscheinlich noch ein bißchen mehr für Anhörungen und Prozesse. Dazu dreihundertfünfzig für Drummond. Das sind um die tausend Dollar für das, was ich jetzt erlebe.

Der vierte Mann, derjenige, der hinter den Anwälten sitzt, ist älter, ungefähr im gleichen Alter wie Drummond. Er macht sich keine Notizen, also kann er kein Verteidiger sein. Vermutlich ist er ein Vertreter von Great Benefit, vielleicht einer ihrer Hausanwälte.

Ich hatte Deck ganz vergessen, bis er mir mit einem Block auf die Schulter tippt. Er ist hinter mir, streckt die Hand über die Schranke. Er will mir etwas mitteilen. Auf den Block hat er ein paar Worte geschrieben.»Dieser Kerl ist stinklangweilig. Halten Sie sich einfach an Ihren Schriftsatz. Bleiben Sie unter zehn Minuten. Keine Spur von Bruiser?«

Ich schüttele den Kopf, ohne mich umzuwenden. Als ob Bruiser im Gerichtssaal sein könnte, ohne daß man ihn sieht.

Nach einunddreißig Minuten beendet Drummond seinen Monolog. Die Lesebrille ist ihm auf die Nasenspitze gerutscht. Er ist der Professor, der den Studenten einen Vortrag hält. Er strebt zu seinem Tisch zurück, sichtlich zufrieden mit seiner brillanten Logik und der unglaublichen Fähigkeit, komplizierte Zuammenhänge knapp auszudrücken. Seine Klone nicken einhellig und flüstern rasch ihre Anerkennung für seinen grandiosen Auftritt. Was für ein Haufen von Speichelleckern! Kein Wunder, daß er schier platzt vor Selbstzufriedenheit.

Ich lege meinen Block aufs Podium und schaue zu Richter Hale hinauf, der, jedenfalls im Augenblick, ungeheuer interessiert zu sein scheint an dem, was zu sagen ich im Begriff bin. Ich habe eine fürchterliche Angst, aber mir bleibt nichts anderes übrig, als loszulegen.

Dies ist ein simpler Prozeß. Great Benefits Zahlungsverweigerung hat meinen Mandanten der einzigen medizinischen Behandlung beraubt, die ihm das Leben gerettet hätte. Das Verhalten der Versicherung wird zur Folge haben, daß Donny Ray stirbt. Wir sind im Recht und sie im Unrecht. Vor mir steht das Bild seines hageren Gesichts und seines abgezehrten Körpers. Es macht mich wütend.

Die Anwälte von Great Benefit werden eine Tonne Geld dafür bekommen, daß sie die Sache komplizieren, die Fakten verschleiern und versuchen, den Richter und später die Geschworenen mit falschen Fährten in die Irre zu führen. Das ist ihr Job. Deshalb hat Drummond einunddreißig Minuten geredet und nichts gesagt.

Meine Version der Tatsachen und der Rechtslage wird kürzer werden. Meine Schriftsätze und Erwiderungen werden auch weiterhin klar und sachlich sein. Bestimmt wird irgend jemand das irgendwann zu würdigen wissen.

Ich beginne mit ein paar grundlegenden Bemerkungen über Anträge auf Klageabweisung im allgemeinen, und Richter Hale starrt ungläubig auf mich herab, als wäre ich der größte Schwachkopf, dem er je zugehört hat. Sein Gesicht verzieht sich voller Skepsis, aber wenigstens hält er den Mund. Ich versuche, ihm nicht in die Augen zu sehen.

In Fällen, bei denen sich die Parteien klar widersprechen, wird nur höchst selten einem Antrag auf Klageabweisung stattgegeben. Ich mag nervös und unbeholfen sein, aber ich bin zuversichtlich, daß wir siegen werden.

Ich arbeite mich durch meine Notizen, ohne etwas Neues zu sagen. Seine Ehren ist von mir bald ebenso gelangweilt, wie er es bei Drummond war, und kehrt deshalb zu seiner Lektüre zurück. Sobald ich fertig bin, bittet Drummond noch einmal um fünf Minuten, damit er widerlegen kann, was ich gesagt habe, und sein Freund deutet auf das Podium.

Drummond wendet weitere elf kostbare und wertvolle Minuten daran, aufzuklären, was immer ihm im Kopf herumgehen mag, tut dies aber auf so unverständliche Weise, daß wir alle hinterher so schlau sind wie zuvor, dann setzt er sich wieder hin.

«Ich möchte die Anwälte in meinem Zimmer sprechen«, sagt Hale im Aufstehen und verschwindet rasch hinter seinem Richterstuhl. Weil ich nicht weiß, wo sich sein Zimmer befindet, stehe ich auf und warte, daß Drummond vorausgeht und mir den Weg zeigt. Er ist sehr höflich, als wir uns dem Podium nähern, legt mir sogar den Arm um die Schultern und sagt mir, was ich da für hervorragende Arbeit geleistet hätte.

Die Robe ist bereits abgelegt, als wir das Büro des Richters betreten. Er steht hinter seinem Schreibtisch und deutet auf zwei Sessel.»Bitte, kommen Sie herein. Nehmen Sie Platz. «Die Ausstattung läßt den Raum dunkel wirken: schwere, zugezogene Vorhänge, ein burgunderroter Teppich, Regale mit dickleibigen Büchern vom Boden bis zur Decke.

Wir setzen uns. Er denkt nach. Dann:»Diese Klage gefällt mir nicht, Mr. Baylor. Ich würde nicht gerade das Wort frivol gebrauchen, aber ich sehe offen gestanden wenig Sinn darin. Ich habe für diese Art von Klagen nicht viel übrig.«

Er hält inne und sieht mich an, als erwartete er, daß ich darauf reagiere. Aber ich weiß nicht, was ich sagen soll.

«Ich neige dazu, dem Antrag auf Klageabweisung stattzugeben«, sagt er, dann öffnet er eine Schublade und holt langsam mehrere Röhrchen mit Tabletten heraus. Er reiht sie sorgfältig auf seinem Schreibtisch auf. Dann hält er inne und sieht mich an.»Sie könnten die Klage vor einem Bundesgericht neu einreichen. Gehen Sie damit woandershin. Ich will nur nicht, daß ich sie am Hals habe. «Er zählt Tabletten ab, mindestens ein Dutzend aus vier Plastikröhrchen.

«Bitte entschuldigen Sie mich, ich muß auf die Toilette«, sagt er dann und begibt sich zu einer kleinen Tür an der anderen Seite des Raumes. Sie fällt mit einem lauten Klappen hinter ihm ins Schloß.

Ich sitze schweigend und benommen da, starre auf die Tablettenröhrchen und hoffe, daß er da drinnen an den Dingern erstickt. Drummond hat bisher nichts gesagt, aber jetzt erhebt er sich wie auf ein Stichwort hin und pflanzt sein Hinterteil auf die Schreibtischkante. Er schaut auf mich herab, ganz Freundlichkeit und Lächeln.

«Also, Rudy, ich bin ein sehr teurer Anwalt in einer sehr teuren Kanzlei«, sagt er mit langsamer, vertraulicher Stimme, als gäbe er hier überaus geheime Informationen preis.»Wenn wir einen Fall wie diesen übernehmen, dann stellen wir ein paar Berechnungen über die voraussichtlichen Kosten der Verteidigung an. Wir informieren unseren Mandanten über diese Schätzung, und zwar, noch bevor wir einen Finger rühren. Ich habe schon eine Menge Fälle bearbeitet und treffe mit meinen Schätzungen gewöhnlich ziemlich genau ins Schwarze. «Er verlagert sein Gewicht ein wenig, bereitet sich auf die Pointe vor.»Ich habe Great Benefit mitgeteilt, daß bei einem ausgewachsenen Prozeß ein Verteidigungshonorar von fünfzig- bis fünfundsiebzigtausend Dollar zusammenkommen würde.«

Er wartet, daß ich mich von dieser Zahl beeindruckt zeige, aber ich betrachte nur eingehend seine Krawatte. In der Ferne rauscht die Toilettenspülung.

«Und deshalb hat Great Benefit mich ermächtigt, Ihnen und Ihren Mandanten einen Vergleich über fünfundsiebzigtausend Dollar anzubieten.«

Ich stoße einmal heftig die Luft aus. In meinem Kopf herrscht plötzlich ein wildes Durcheinander von Gedanken, aber einer drängt sich immer wieder in den Vordergrund: fünfundzwanzigtausend Dollar. Mein Honorar! Ich kann es regelrecht sehen.

Einen Moment mal. Wenn sein Busenfreund Hale sowieso im Begriff ist, den Fall abzuweisen, weshalb bietet er mir dann dieses Geld an?

Und dann wird es mir klar — die ziehen hier das Spielchen guter Bulle/böser Bulle mit mir durch. Harvey fährt das schwere Geschütz auf und jagt mir eine Heidenangst ein, und dann kommt Leo mit den Samthandschuhen. Ich frage mich, wie oft sie ihre kleine Überraschungsnummer in diesem Büro hier wohl schon durchgezogen haben.

«Damit wir uns richtig verstehen, das ist kein Eingeständnis einer Zahlungsverpflichtung«, sagt er;»Es ist ein einmaliges Angebot, das nur für die nächsten achtundvierzig Stunden gilt, und Sie können es annehmen oder ablehnen, solange es auf dem Tisch liegt. Wenn Sie nein sagen, dann beginnt der Dritte Weltkrieg.«

«Aber weshalb?«

«Aus rein ökonomischen Gründen. Great Benefit spart ein bißchen Geld und geht außerdem gar nicht erst das Risiko ein, daß vielleicht doch irgend jemand ein völlig schwachsinniges Urteil spricht. Die mögen es nicht, wenn man sie verklagt, verstehen Sie? Ihre Manager wollen ihre Zeit nicht mit eidesstattlichen Erklärungen und Auftritten vor Gericht vergeuden. Die wollen kein Aufsehen und diese Art von Publicity schon gar nicht. Im Versicherungsgeschäft geht es hart auf hart, und die Konkurrenz soll möglichst keinen Wind von dieser Sache bekommen. Es gibt also eine Menge guter Gründe für einen Vergleich in aller Stille. Und eine Menge guter Gründe für Ihre Mandanten, das Geld zu nehmen und die Sache auf sich beruhen zu lassen. Das meiste davon ist steuerfrei, wie Sie vermutlich wissen.«

Er ist aalglatt. Wenn ich mich jetzt darüber ausließe, was ich für einen todsicheren Fall an der Angel habe und wie niederträchtig sein Mandant ist, würde er nur zu allem lächeln und verständnisvoll nicken. Es würde von ihm abgleiten wie Wasser vom Rücken einer Ente. Im Augenblick will Leo Drummond, daß ich sein Geld nehme, und wenn ich jetzt anfinge, seine Frau zu beschimpfen, würde ihn auch das kalt lassen.

Die Tür geht auf, und Seine Ehren kommt aus seiner kleinen Privattoilette. Jetzt hat Leo plötzlich eine volle Blase und entschuldigt sich. Der Köder ist ausgelegt. Jetzt kommt die nächste Runde.

«Zu hoher Blutdruck«, sagt Hale fast zu sich selbst, während er sich hinter seinem Schreibtisch niederläßt und die Röhrchen einsammelt. Nicht hoch genug, hätte ich am liebsten gesagt.

«Keine große Chance auf einen Prozeß, mein Junge, tut mir leid. Vielleicht kann ich Leo dazu bringen, daß er Ihnen einen Vergleich anbietet. So etwas gehört zu meinem Job. Andere Richter gehen die Sache anders an, aber ich nicht. Mir ist es am liebsten, wenn es gleich am ersten Tag zu einem Vergleich kommt. Hält die Dinge in Bewegung. Diese Versicherungsfritzen sind eventuell sogar bereit, Ihnen ein nettes Sümmchen rüberzuschieben, nur damit sie Leo nicht tausend Dollar pro Minute zahlen müssen. «Er lacht, als wäre das wirklich komisch. Sein Gesicht läuft blutrot an, und er hustet.

Ich kann förmlich sehen, wie Leo mit dem Ohr an der Tür in der Toilette steht und lauscht. Es würde mich nicht einmal überraschen, wenn sie da drinnen ein Mikrofon hätten.

Ich sehe zu, wie er hustet, bis ihm das Wasser aus den Augen läuft. Als er fertig ist, sage ich:»Er hat mir gerade die Kosten der Verteidigung angeboten.«

Hale ist ein miserabler Schauspieler. Er versucht, überrascht zu wirken.»Wieviel?«

«Fünfundsiebzigtausend.«

Seine Kinnlade fällt herunter.»Donnerwetter! Hören Sie, mein Junge, Sie wären verrückt, wenn Sie die nicht annehmen würden.«

«Meinen Sie?«frage ich. Ich bin ja so arglos.

«Fünfundsiebzig. Donnerwetter, 'ne Menge Geld. Hört sich gar nicht nach Leo an.«

«Er ist wirklich ein netter Kerl.«

«Nehmen Sie das Geld, mein Junge. Ich mache das hier schon ziemlich lange. Sie sollten auf mich hören.«

Die Tür geht auf, und Leo gesellt sich wieder zu uns. Seine Ehren starrt Leo an und sagt:»Fünfundsiebzigtausend!«Man hätte meinen können, daß Geld käme aus Hales Amtsbudget.

«Mein Mandant hat den Vorschlag gemacht«, erklärt Leo. Ihm sind die Hände gebunden. Er ist machtlos.

Sie werfen sich noch eine Weile weiter die Bälle zu. Ich kann nicht rational denken, also schweige ich möglichst. Als ich das

Zimmer verlasse, hat Leo mir freundschaftlich den Arm um die Schulter gelegt.

Ich finde Deck auf dem Flur, am Telefon, also setze ich mich auf eine Bank in der Nähe und versuche, Ordnung in meine Gedanken zu bringen. Sie haben Bruiser erwartet. Hätten sie mit ihm dasselbe Spiel gespielt? Nein, ich glaube nicht. Wie haben sie es geschafft, ihren Hinterhalt für mich so rasch zu planen? Vermutlich hatten sie für ihn eine andere Routine vorgesehen.

Ich bin von zwei Dingen überzeugt. Erstens: Hale ist es ernst mit der Abweisung der Klage. Er ist ein kranker alter Mann, der schon lange im Amt ist und immun gegen Druck. Ihm ist es völlig gleichgültig, ob er recht oder unrecht hat. Und es könnte überaus schwierig sein, die Klage bei einem anderen Gericht erneut einzureichen. Die Anklage ist in ernsthaften Schwierigkeiten. Zweitens: Drummond ist zu sehr auf einen Vergleich erpicht. Er hat Angst, und zwar, weil sein Mandant bei einer Bärenschweinerei ertappt worden ist, das Blut noch an den Händen.

Deck hat in den letzten zwanzig Minuten elf verschiedene Nummern angerufen, aber von Bruiser nirgends eine Spur. Während wir zur Kanzlei zurückfahren, schildere ich ihm die seltsamen Vorgänge in Hales Richterzimmer. Deck, immer bereit, in eine neue Rolle zu schlüpfen, will das Geld nehmen und es damit gut sein lassen. Er bringt das sehr gute Argument vor, daß kein noch so hoher Geldbetrag Donny Ray jetzt noch das Leben retten kann; also sollten wir nehmen, was wir kriegen können, und Dot und Buddy das Leben ein bißchen leichter machen.

Deck behauptet, er hätte eine Menge unerfreulicher Geschichten über sehr fragwürdige Prozesse in Hales Gerichtssaal gehört. Für einen amtierenden Richter spricht er sich mit ungewöhnlichem Nachdruck für eine Reform des Schadenersatzrechts aus. Haßt Kläger, sagt Deck mehr als einmal. Es wird schwer sein, einen fairen Prozeß zu bekommen. Lassen Sie uns das Geld nehmen, sagt Deck.

Dru ist in Tränen aufgelöst, als wir in die Kanzlei kommen. Sie ist völlig hysterisch, weil alle Welt nach Bruiser fragt. Ihre Wimperntusche rinnt ihr über die Wangen, während sie fucht und weint. Das ist ganz und gar nicht seine Art, sagt sie immer und immer wieder. Es muß etwas Schlimmes passiert sein.

Bruiser treibt sich viel mit dubiosen und gefährlichen Leuten herum. Schließlich ist er selber ein Ganove. Es würde mich also nicht überraschen, wenn man seine Leiche im Kofferraum eines Wagens am Flughafen fände, und Deck sieht das nicht anders. Die Gangster sind hinter ihm her.

Ich bin auch hinter ihm her. Ich rufe bei Yogi's an, um mit Prince zu sprechen. Er wird wissen, wo Bruiser steckt. Ich rede mit Billy, dem Geschäftsführer, den ich gut kenne, und nach ein paar Minuten erfahre ich, daß Prince offenbar auch verschwunden ist. Sie haben vergeblich überall herumtelefoniert. Billy ist nervös und macht sich Sorgen. Die Leute vom FBI haben gerade das Lokal verlassen. Was geht da vor?

Deck läuft von Büro zu Büro und ruft die Truppe zusammen. Wir treffen uns im Konferenzraum — ich, Deck, Toxer und Ridge, vier Sekretärinnen und zwei Laufburschen, die ich noch nie gesehen habe. Nicklass, der andere Anwalt, ist nicht in der Stadt. Alle vergleichen ihre Notizen über ihr letztes Zusammentreffen mit Bruiser. Irgend etwas Verdächtiges? Was hatte er für heute vor? Wen hat er heute treffen wollen? Wer hat zuletzt mit ihm gesprochen? Es liegt eine gewisse Panik in der Luft, eine Atmosphäre der Verwirrung, die durch Drus ständiges Geheul nicht gerade verbessert wird. Sie weiß einfach, daß etwas passiert ist.

Die Versammlung endet damit, daß wir schweigend in unsere Büros zurückkehren und die Türen hinter uns schließen. Deck folgt mir natürlich auf dem Fuße. Wir unterhalten uns eine Weile und achten dabei sehr genau darauf, daß wir kein Wort sagen, von dem wir nicht wollen, daß es abgehört wird, falls die Kanzlei wirklich voller Wanzen steckt. Um halb zwölf schleichen wir uns zu einer Hintertür hinaus und gehen zum Lunch.

Wir werden nie wieder einen Fuß in dieses Gebäude setzen.

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