Kapitel 24

Ich werde wohl nie erfahren, ob Deck tatsächlich wußte, was passieren würde, oder ob er nur verblüffend hellsichtig war. Er ist ein unkomplizierter Mann, der mit seinen Gedanken meistens ziemlich an der Oberfläche bleibt. Aber er hat dennoch etwas Seltsames an sich, mal abgesehen von seinem Äußeren. Irgendwo in seinem Innern ist etwas verborgen, das er nicht preisgeben will. Ich habe den starken Verdacht, daß er und Bruiser einander erheblich näherstanden, als die meisten von uns wußten. Bruisers Freigebigkeit in der Van-Landel-Sa-che war wahrscheinlich die Belohnung für Decks treue Dienste und gleichzeitig als unauffällige Warnung gedacht, daß er, Bruiser, sich demnächst absetzen würde.

Jedenfalls bin ich nicht sonderlich überrascht, als zwanzig nach drei in der Nacht mein Telefon klingelt. Es ist Deck mit zwei Neuigkeiten: Das FBI ist kurz nach Mitternacht über unsere Kanzlei hergefallen, und Bruiser hat sich aus dem Staub gemacht. Und das ist noch nicht alles. Unsere Büros sind auf richterliche Anordnung hin versiegelt worden, und das FBI wird vermutlich mit allen reden wollen, die bei Bruiser beschäftigt waren. Und man sollte es nicht glauben: Prince Thomas scheint zusammen mit seinem Anwalt und Freund verschwunden zu sein.

Stellen Sie sich vor, kichert Deck ins Telefon, wie diese beiden wandelnden Fleischberge mit ihrem langen, angegrauten Haar und ihren dicken Barten versuchen, unerkannt durch Flughäfen zu schleichen.

Die Anklagen sollen erhoben werden, sobald die Sonne aufgegangen ist. Deck schlägt vor, daß wir uns gegen Mittag in unserem neuen Büro treffen, und da ich nicht weiß, wo ich sonst hingehen sollte, sage ich zu.

Ich starre eine halbe Stunde an die dunkle Zimmerdecke, dann gebe ich auf. Ich gehe barfuß durch das kühle, feuchte Gras und lasse mich in die Hängematte fallen. Um einen Typ wie Prince ranken sich immer eine Menge bunter Gerüchte. Bargeld war seine Leidenschaft, und schon an meinem ersten Tag bei Yogi's erzählte mir eine Kellnerin, daß er achtzig Prozent davon nie bei der Steuer angegeben hat. Es gehörte zu den Lieblingsbeschäftigungen seiner Angestellten, sich darüber die Mäuler zu zerreißen und Vermutungen anzustellen, wieviel Geld es wohl tatsächlich war, was er so beiseite schaffen konnte.

Und Yogi's war nicht seine einzige Einnahmequelle. Bei einem Prozeß gegen das organisierte Verbrechen vor ein paar Jahren sagte ein Junge aus, daß in einer bestimmten Oben-ohne-Bar neunzig Prozent der Erträge in Bargeld eingenommen und sechzig Prozent davon nie in einer Steuererklärung auftauchen würden. Wenn Bruiser und Prince also tatsächlich einen oder mehrere von diesen Pornoclubs besessen haben, dann haben sie das Geld nur so gescheffelt.

Gerüchteweise hat Prince ein Haus in Mexiko, Bankkonten in der Karibik, eine schwarze Geliebte in Jamaika und eine Farm in Argentinien; an die anderen Geschichten kann ich mich nicht mehr erinnern. In seinem Büro gab es eine geheimnisvolle Tür, die angeblich zu einem kleinen Raum führte, in dem sich die Kartons voller Zwanzig- und Hundert-DollarScheine bis zur Decke stapelten.

Wenn er wirklich auf der Flucht ist, hoffe ich, daß er durchkommt. Ich hoffe, daß er möglichst viel von seinem geliebten Bargeld mitnehmen konnte und nie erwischt wird. Es ist mir egal, was er verbrochen haben soll, er ist mein Freund.

Dot dirigiert mich an den Küchentisch, auf denselben Stuhl, und setzt mir Instantkaffee vor, in derselben Tasse. Es ist noch früh am Tage, und in der schäbigen Küche hängt der fettige Geruch von ausgelassenem Speck. Buddy ist da draußen, sagt sie armeschwenkend. Ich schaue nicht hin.

Donny Ray wird immer schwächer, sagt sie, die letzten beiden Tage ist er überhaupt nicht aufgestanden.

«Wir waren gestern das erste Mal vor Gericht«, erkläre ich.

«Schon?«

«Es war kein Prozeß oder so etwas. Nur eine vorläufige Anhörung. Die Versicherung versucht, eine Klageabweisung zu erreichen, und darüber haben wir uns mächtig in den Haaren gelegen. «Ich versuche, mich möglichst einfach auszudrük-ken, aber ich bin nicht sicher, ob sie irgend etwas mitbekommt. Sie schaut durch die schmutzigen Fenster hinaus in den Hintergarten, ohne dem Fairlane auch nur einen Blick zu schenken. Dot scheint alles gleichgültig zu sein.

Das ist seltsam beruhigend. Wenn Richter Hale tut, was er meiner Meinung nach tun wird, und wenn wir auch bei einem anderen Gericht nicht mit der Klage durchkommen, dann ist die Sache erledigt. Vielleicht hat die ganze Familie aufgegeben. Vielleicht werden sie mich nicht einmal anschreien, wenn wir abgeschmettert werden.

Auf dem Weg hierher habe ich beschlossen, Richter Hale und seine Drohungen nicht zu erwähnen. Das hätte unsere Unterhaltung nur schwieriger gemacht. Wir werden später noch massenhaft Zeit haben, darüber zu sprechen, wenn sonst nichts mehr zu bereden bleibt.

«Die Versicherung hat einen Vergleich angeboten.«

«Sie hat was angeboten?«

«Geld.«

«Wieviel?«

«Fünfundsiebzigtausend Dollar. Sie haben sich ausgerechnet, daß sie ihren Anwälten bei einem Prozeß ungefähr genausoviel zahlen müßten, also bieten sie das Geld jetzt uns als Abfindung an.«

Ich kann zusehen, wie sie rot anläuft und die Kiefer aufeinanderpreßt.»Diese Mistkerle glauben, sie könnten sich freikaufen, stimmt's?«

«Ja, das glauben sie.«

«Donny Ray braucht kein Geld. Letztes Jahr hätte er eine Knochenmarkstransplantation gebraucht. Jetzt ist es zu spät.«

«Richtig.«

Sie nimmt ihre Zigarettenschachtel vom Tisch und zündet sich eine an. Ihre Augen sind rot und glänzen feucht. Ich habe mich geirrt. Diese Mutter hat nicht aufgegeben. Sie will Blut sehen.»Was sollen wir mit fünfundsiebzigtausend Dollar anfangen? Donny Ray wird bald tot sein, und dann sind nur noch ich und er da. «Sie nickt mit dem Kopf in Richtung auf den Fairlane.

«Diese Schweine«, sagt sie.

«Ganz meine Meinung.«

«Sie haben vermutlich gesagt, daß wir es nehmen werden, oder?«

«Natürlich nicht. Ohne Ihre Zustimmung kann ich keinen Vergleich abschließen. Wir haben bis morgen Zeit, uns zu entscheiden. «Damit wären wir wieder bei der drohenden Klageabweisung. Wir hätten das Recht, gegen einen ablehnenden Beschluß durch Richter Hale Berufung einzulegen. Das würde ungefähr ein Jahr dauern, aber wir härten eine reelle Chance. Aber auch darüber möchte ich im Moment nicht reden.

Wir sitzen eine lange Zeit schweigend beisammen, beide vollauf damit zufrieden, einfach nur dazusitzen und zu warten. Ich versuche, meine Gedanken zu ordnen. Gott allein weiß, was ihr im Kopf herumgeht. Arme Frau.

Sie drückt ihre Zigarette im Aschenbecher aus und sagt:»Wir sollten mit Donny Ray reden.«

Ich folge ihr durch das düstere Wohnzimmer und einen kurzen Korridor entlang. Donny Rays Tür ist geschlossen, und an ihr hängt ein Zettel mit der Aufschrift RAUCHEN VERBOTEN. Sie klopft leise an, und wir gehen hinein. Das Zimmer ist hübsch und ordentlich und riecht irgendwie antiseptisch. In einer Ecke surrt ein Ventilator. Das mit einem Fliegengitter versehene Fenster steht offen. Auf einem Gestell am Fußende des Bettes steht ein Fernseher und neben dem Kopfkissen ein Tisch mit einer ganzen Batterie von Medikamenten.

Donny Ray liegt steif wie ein Brett da, ein Laken fest um seinen zerbrechlichen Körper gewickelt. Er lächelt, als er mich sieht, und klopft mit der Hand auf eine Stelle neben sich. Dort lasse ich mich nieder. Dot setzt sich auf einen Stuhl auf der anderen Seite des Bettes.

Er bemüht sich, weiter zu lächeln und mich davon zu überzeugen, daß es ihm gutgeht. Heute ist alles besser. Nur ein bißchen müde, das ist alles. Seine Stimme ist leise und angestrengt, seine Worte sind manchmal kaum verständlich. Er hört aufmerksam zu, als ich über die gestrige Anhörung be-richte und das Vergleichsangebot erkläre. Dot hält seine rechte Hand.

«Werden sie noch höher gehen?«fragt er. Das ist eine Frage, über die Deck und ich gestern beim Lunch debattiert haben. Great Benefit hat einen bemerkenswerten Sprung getan von null auf fünfundsiebzigtausend. Wir vermuten beide, daß sie bis auf hunderttausend heraufgehen würden, aber ich werde mich hüten, vor meinen Mandanten genauso optimistisch zu sein.

«Ich bezweifle es«, sage ich.»Wir könnten es versuchen. Mehr als nein sagen können sie nicht.«

«Wieviel würden Sie bekommen?«fragt er. Ich erkläre ihm unseren Vertrag, daß mein Anteil ein Drittel beträgt.

Er sieht seine Mutter an und sagt:»Das wären fünfzigtausend für dich und Dad.«

«Was sollen wir mit fünfzigtausend Dollar?«fragt sie ihn.

«Das Haus abzahlen. Einen neuen Wagen kaufen. Etwas fürs Alter beiseite legen.«

«Ich will ihr verdammtes Geld nicht.«

Donny Ray schließt die Augen und macht ein kurzes Nik-kerchen. Ich betrachte die Flaschen und Gläser mit den Medikamenten. Als er aufwacht, berührt er meinen Arm, versucht, ihn zu drücken, und sagt:»Möchten Sie den Vergleich abschließen, Rudy? Ein Teil des Geldes würde Ihnen gehören.«

«Nein. Das möchte ich nicht«, sage ich entschieden. Ich sehe ihn an, dann sie. Sie hören aufmerksam zu.»Sie würden uns das Geld nicht anbieten, wenn sie nicht nervös wären. Ich will diese Leute bloßstellen.«

Ein Anwalt ist verpflichtet, seinen Mandanten den bestmöglichen Ratschlag zu erteilen, ohne Rücksicht auf seine eigenen finanziellen Verhältnisse. Ich habe nicht den geringsten Zweifel, daß ich die Blacks dazu überreden könnte, dem Vergleich zuzustimmen. Mit nur wenig Mühe könnte ich sie davon überzeugen, daß Richter Hale im Begriff ist, uns den Teppich unter den Füßen wegzuziehen, und daß das Geld jetzt auf dem Tisch liegt, aber bald für immer verschwunden sein wird. Ich könnte ihnen ein regelrechtes Horrorszenario ausmalen.

Auf diesen Leuten ist schon so viel herumgetrampelt worden, sie würden es ohne weiteres glauben.

Es wäre ganz leicht. Und ich würde mit fünfundzwanzig-tausend Dollar abziehen, einem Honorar, das ich mir im Moment kaum vorstellen kann. Aber ich habe der Versuchung widerstanden. Heute nacht in der Hängematte habe ich gegen sie angekämpft, und jetzt bin ich ruhig und in Frieden mit mir selbst.

Zu diesem Zeitpunkt würde nicht viel dazugehören, mich aus dem Anwaltsberuf zu vertreiben. Bevor ich meine Mandanten verkaufe, würde ich lieber noch einen Schritt weitergehen und ganz aufhören.

Ich lasse Dot in Donny Rays Zimmer zurück und hoffe von ganzem Herzen, daß ich nicht morgen mit der Nachricht zurückkehren muß, daß unser Fall abgewiesen wurde.

In der näheren Umgebung von St. Peter's gibt es mindestens vier weitere Krankenhäuser, Studieneinrichtungen für Ärzte und Zahnärzte und zahllose Arztpraxen. Alles, was in Memphis irgendwie mit Medizin zu tun hat, hat sich in einem Areal von sechs Blocks zwischen Union und Madison niedergelassen. An der Madison selbst, direkt gegenüber von St. Peter's, steht ein achtstöckiges Gebäude, das sogenannte Peabody Medical Arts Building. Über die Straße führt ein geschlossener Fußgängertunnel, durch den die Ärzte von ihren Praxen ins Krankenhaus und wieder zurück gelangen können. Das Gebäude beherbergt ausschließlich Ärzte, und einer davon ist Dr. Eric Craggdale, ein Orthopäde. Seine Praxis liegt im dritten Stock.

Ich habe gestern mehrmals anonym in seiner Praxis angerufen und herausgefunden, was ich wissen wollte. Ich warte in der großen Halle von St. Peter's, ein Stockwerk oberhalb der Straße, und beobachte den Parkplatz des Peapody Medical Arts Building. Zwanzig Minuten vor elf sehe ich, wie ein alter VW Käfer von der Madison auf den dicht besetzten Parkplatz abbiegt. Kelly steigt aus.

Sie ist allein, genau wie ich erwartet hatte. Vor einer Stunde habe ich ihren Mann bei seiner Firma ans Telefon rufen lassen und aufgelegt, als er an den Apparat kam. Ich kann kaum ihren Scheitel sehen, als sie sich abmüht, aus dem Wagen auszusteigen. Sie hinkt an Krücken zwischen den Wagenreihen hindurch auf das Gebäude zu.

Ich fahre mit dem Fahrstuhl ein Stockwerk höher, dann überquere ich die Madison in der gläsernen Röhre, die über sie hinwegführt. Ich bin nervös, habe es aber nicht eilig.

Das Wartezimmer ist überfüllt. Sie sitzt mit dem Rücken zur Wand und blättert in einer Zeitschrift. Ihr gebrochener Knöchel steckt jetzt in einem Gehgips. Der Stuhl rechts neben ihr ist frei, und ich sitze darauf, bevor sie begriffen hat, daß ich es bin.

Zunächst macht sie ein entsetztes Gesicht, doch dann strahlt sie mich freundlich an. Sie schaut sich nervös um. Niemand beachtet uns.

«Lesen Sie einfach weiter in Ihrer Zeitschrift«, flüstere ich und schlage einen National Geographie auf. Sie hebt ein Exemplar von Vogue bis fast auf Augenhöhe und fragt:»Was tun Sie hier?«

«Rückenprobleme.«

Sie schüttelt den Kopf und sieht sich um. Die Dame neben ihr würde liebend gern zu uns rüberstarren, aber ihr Hals steckt in einem Stützverband. Wir kennen beide keine Menschenseele in diesem Raum, also weshalb sollten wir uns Sorgen machen?» Wer ist Ihr Arzt?«fragt sie.

«Craggdale«, erwidere ich.

«Sehr komisch. «Kelly Riker war schön in einem einfachen Krankenhausnachthemd, mit einem blauen Fleck im Gesicht und ohne Make-up. Jetzt ist es mir unmöglich, die Augen von ihrem Gesicht abzuwenden. Sie trägt ein weißes, leicht gestärktes Baumwollhemd von der Art, die Studentinnen gern von ihren Freunden ausleihen, und aufgekrempelte KhakiShorts. Das dunkle Haar fällt ihr über die Schultern.

«Ist er gut?«frage ich.

«Ein Arzt wie andere auch.«

«Waren Sie schon einmal bei ihm?«

«Hören Sie auf, Rudy. Darüber rede ich nicht. Sie sollten besser verschwinden. «Ihre Stimme ist leise, aber bestimmt.

«Wissen Sie, darüber habe ich nachgedacht. Ich habe sogar eine Menge Zeit damit verbracht, über Sie nachzudenken und darüber, was ich tun sollte. «Ich halte inne, weil ein Mann in einem Rollstuhl vorbeirollt.

«Und?«sagt sie.

«Ich weiß es immer noch nicht.«

«Ich meine, Sie sollten aus meinem Leben verschwinden.«

«Das ist doch nicht Ihr Ernst?«

«Doch, das ist es.«

«Ist es nicht. Sie wollen, daß ich in Ihrer Nähe bleibe, mit Ihnen Verbindung halte, Sie hin und wieder anrufe, damit Sie, wenn er Ihnen das nächste Mal ein paar Knochen bricht, jemanden haben, der sich um Sie sorgt. Das ist es, was Sie wollen.«

«Es wird kein nächstes Mal geben.«

«Warum nicht?«

«Weil er jetzt anders ist. Er versucht, mit dem Trinken aufzuhören. Er hat versprochen, daß er mich nicht wieder schlagen wird.«

«Und Sie glauben ihm?«

«Ja, das tue ich.«

«Das hat er früher auch schon versprochen.«

«Weshalb gehen Sie nicht? Und rufen Sie mich nicht an, okay? Das macht alles nur noch schlimmer.«

«Wieso? Weshalb macht das alles nur noch schlimmer?«

Sie zögert eine Sekunde, läßt die Zeitschrift in ihren Schoß sinken und sieht mich an.»Weil ich, je mehr Zeit vergeht, um so weniger an Sie denke.«

Es ist wirklich erfreulich zu wissen, daß sie an mich gedacht hat. Ich greife in die Tasche und hole eine Visitenkarte heraus, eine mit meiner alten Adresse, der, die jetzt von verschiedenen Behörden der Regierung der Vereinigten Staaten abgesperrt und versiegelt worden ist. Ich schreibe meine Telefonnummer auf die Rückseite und gebe sie ihr.»Abgemacht. Ich werde Sie nicht wieder anrufen. Falls Sie mich brauchen sollten, das ist meine Privatnummer. Wenn er Ihnen etwas antut, will ich es erfahren.«

Sie nimmt die Karte. Ich küsse sie schnell auf die Wange, dann verlasse ich das Wartezimmer.

Im sechsten Stock des gleichen Gebäudes befindet sich eine große Onkologenpraxis. Dr. Walter Kord ist Donny Rays behandelnder Arzt, was zu diesem Zeitpunkt bedeutet, daß er ihm ein paar Tabletten und andere Medikamente verschreibt und darauf wartet, daß er stirbt. Kord hat die anfängliche Chemotherapie veranlaßt und die Tests vorgenommen, die ergaben, daß Ron Black für eine Knochenmarkstransplantation bei seinem Zwillingsbruder der ideale Spender gewesen wäre. Beim Prozeß wird er ein wichtiger Zeuge sein, vorausgesetzt, daß es überhaupt dazu kommt.

Ich lasse einen drei Seiten langen Brief bei seiner Empfangsdame. Ich würde mich gern mit ihm unterhalten, wann es ihm paßt und, wenn es geht, ohne dafür eine Rechnung zu bekommen. In der Regel hassen Ärzte Anwälte und lassen sich Gespräche mit ihnen teuer bezahlen. Aber Kord und ich stehen auf derselben Seite, und ich habe nichts zu verlieren, wenn ich versuche, mit ihm ins Gespräch zu kommen.

Ich habe ein sehr ungutes Gefühl, während ich, ohne besonders auf den Verkehr zu achten, diese Straße in dieser rauhen Gegend der Stadt entlangrolle und vergeblich versuche, die verblichenen und abblätternden Hausnummern über den Türen zu lesen. Die Gegend sieht aus, als wäre sie früher aus guten Gründen aufgegeben worden, befände sich jetzt aber in einer Art von erneutem Aufschwung. Die Häuser sind alle zwei oder drei Stockwerke hoch und haben Ziegelstein- und Glasfronten. Die meisten grenzen direkt aneinander, einige wenige sind durch schmale Gassen getrennt. Viele sind immer noch vernagelt, ein paar vor Jahren ausgebrannt. Ich passiere zwei Restaurants, eines mit Tischen auf dem Gehsteig unter einer Markise, aber ohne Gäste, eine Reinigung, einen Blumenladen.

Das Antiquitätengeschäft befindet sich in einem halbwegs sauber aussehenden Eckhaus aus dunkelgrau gestrichenen Ziegelsteinen und mit roten Markisen über den Fenstern. Es gibt zwei Stockwerke, und als mein Blick zum ersten Stock emporwandert, habe ich vermutlich mein neues Zuhause gefunden.

Weil ich keine andere Tür entdecken kann, betrete ich das Antiquitätengeschäft. In der winzigen Diele sehe ich eine Treppe und schwaches Licht an ihrem oberen Ende.

Deck wartet auf mich, stolz lächelnd.»Wie finden Sie es?«überfällt er mich, noch bevor ich Gelegenheit hatte, mir irgend etwas anzusehen.»Vier Zimmer, ungefähr neunzig Quadratmeter plus Toilette. Nicht schlecht«, sagt er und klopft mir auf die Schulter. Dann macht er einen Satz vorwärts, wirbelt herum und breitet die Arme aus.»Ich dachte, das hier sollte der Empfang werden, wir könnten es für eine Sekretärin benutzen, wenn wir später eine einstellen. Braucht nur ein bißchen Farbe. Alle Fußböden sind aus Hartholz«, sagt er und stampft dabei mit dem Fuß auf, als könnte ich das nicht selber sehen.»Die Zimmer sind dreieinhalb Meter hoch. Die Wände bestehen aus Gipskarton, leicht zu streichen. «Er macht mir Zeichen, daß ich ihm folgen soll. Wir gelangen durch eine offene Tür in einen kurzen Flur.»Ein Zimmer auf jeder Seite. Das hier ist das größere, also dachte ich, daß Sie das wohl am ehesten brauchen.«

Ich betrete mein neues Büro und bin angenehm überrascht. Es ist ungefähr viereinhalb mal viereinhalb Meter groß mit einem Fenster zur Straße hinaus. Ein leeres, sauberes Zimmer mit einem hübschen Fußboden.

«Und da drüben ist das dritte Zimmer, ich dachte, wir könnten es als Konferenzraum benutzen. Hier drin werde ich arbeiten, aber ich werde alles ordentlich halten. «Er bemüht sich so angestrengt, zu gefallen, daß er mir fast leid tut. Kein Grund zur Panik, Deck. Das Büro gefällt mir. Gute Arbeit.

«Da hinten ist das Klo. Das muß saubergemacht und gestrichen werden, vielleicht müssen wir auch einen Klempner kommen lassen. «Er weicht in das vordere Zimmer zurück.»Wie finden Sie es?«

«Es wird funktionieren, Deck. Wem gehört das hier?«

«Dem Trödler unten. Alter Mann und seine Frau. Übrigens, sie haben ein paar Sachen, die wir brauchen könnten: Tische, Stühle, Lampen, sogar ein paar alte Aktenschränke. Es ist billig, sieht nicht schlecht aus und paßt sozusagen in unser Dekorationsschema hier; außerdem sind sie einverstanden, daß wir monatlich zahlen. Sie sind irgendwie froh darüber, noch jemanden im Haus zu haben. Ich glaube, sie sind mehrmals ausgeraubt worden.«

«Wie erfreulich.«

«Ja. Wir müssen hier sehr vorsichtig sein. «Er gibt mir ein Blatt mit Farbproben von Sherwin-Williams.»Ich dachte, wir sollten uns für einen der Weißtöne entscheiden. Die sind leichter aufzutragen und nicht so teuer. Die Telefongesellschaft kommt morgen. Der Strom ist schon eingeschaltet. Sehen Sie sich das hier an. «Neben dem Fenster steht ein Tisch, auf dem einige Papiere herumliegen und auf dem ein kleiner Schwarzweißfernseher steht.

Deck ist schon beim Drucker gewesen. Er zeigt mir verschiedene Entwürfe für unser neues Briefpapier. Auf jedem steht oben in großen Buchstaben mein Name und darunter in der Ecke seiner als Anwaltsgehilfe.»Die habe ich von einer kleinen Druckerei ein Stück die Straße hinunter bekommen. Sehr preiswert. Sie brauchen ungefähr zwei Tage, um den Auftrag auszuführen. Ich würde sagen, fünfhundert Briefbogen und Umschläge. Ist einer dabei, der Ihnen gefällt?«

«Ich werde sie mir heute abend genauer ansehen.«

«Wann wollen wir streichen?«

«Nun, ich denke, wir…«

«Ich nehme an, wir könnten es an einem Tag schaffen, wenn wir mit einem Anstrich auskommen. Ich besorge heute nachmittag die Farbe und das Werkzeug und versuche, gleich anzufangen. Können Sie morgen helfen?«

«Natürlich.«

«Wir müssen ein paar Entscheidungen treffen. Was ist mit einem Faxgerät? Besorgen wir uns gleich eins, oder warten wir damit noch? Der Telefontyp kommt morgen, das sagte ich schon. Und einen Kopierer? Ich würde sagen nein, vorerst nicht, wir können die Originale sammeln, und ich gehe einmal am Tag hinunter in die Druckerei. Einen Anrufbeantworter brauchen wir. Ein guter kostet so um die achtzig Dollar. Ich kümmere mich darum, wenn Sie wollen. Und wir müssen ein Konto eröffnen. Ich kenne einen Filialleiter bei der First Trust, er hat gesagt, er gibt uns dreißig Schecks im Monat kostenlos und zwei Prozent Zinsen auf unser Geld. Schwer zu schlagen. Wir müssen die Schecks bestellen, weil wir einige Rechnungen bezahlen müssen. «Plötzlich sieht er auf die Uhr.»Hey, das hätte ich beinahe vergessen.«

Er schaltet den Fernseher ein.»Vor einer Stunde ist Anklage erhoben worden — wegen mindestens hundert verschiedener Vergehen — gegen Bruiser, Bennie >Prince< Thomas, Willie McSwane und noch ein paar andere.«

Die Mittagsnachrichten laufen bereits, und das erste Bild, das wir sehen, ist eine Live-Aufnahme von unseren früheren Büros. Agenten bewachen die Vordertür, vor der im Moment keine Kette liegt. Der Reporter erläutert, daß die Angestellten der Kanzlei kommen und gehen können, aber nichts entfernen dürfen. Die nächste Aufnahme zeigt Vixens, einen Oben-ohne-Club, den die Feds gleichfalls dichtgemacht haben.»Der Anklage zufolge waren Bruiser und Thomas an drei Clubs beteiligt«, sagt Deck. Der Reporter sagt dasselbe. Dann kommen ein paar Aufnahmen von unserem ehemaligen Boß, wie er bei einem früheren Prozeß finster dreinblickend auf einem Flur im Gerichtsgebäude steht. Es wurden Haftbefehle erlassen, aber sowohl Mr. Stone als auch Mr. Thomas sind unauffindbar. Der mit der Leitung der Ermittlungen beauftragte FBI-Agent wird interviewt, und er ist der Ansicht, daß die beiden Herren geflüchtet sind. Eine eingehende Fahndung läuft bereits.

«Lauf, Bruiser, lauf«, sagt Deck.

Die Story ist schon deshalb saftig genug, weil es hier um hiesige Gangster geht, einen stadtbekannten Anwalt, mehrere Polizisten aus Memphis und natürlich das Pornogeschäft. Aber die Flucht der Hauptakteure verleiht ihr noch zusätzliche Würze. Prince und Bruiser haben sich offensichtlich aus dem Staub gemacht, und das ist mehr, als die Reporter ertragen können. Es folgen Aufnahmen von der Verhaftung von Polizisten, von einer weiteren Oben-ohne-Bar, diesmal mit nackten, von den Schenkeln abwärts gezeigten Tänzerinnen, und vom Bundesanwalt, der vor den Medien erscheint, um die Anklagen zu verkünden.

Dann kommt eine Aufnahme, die mir das Herz bricht. Sie haben Yogi's geschlossen, Ketten um die Türgriffe geschlungen und Posten vor die Türen gestellt. Sie nennen es das Hauptquartier von Prince Thomas, dem Gangsterboß, und die Feds machen einen überraschten Eindruck, weil sie, als sie vorige Nacht hereinstürmten, kein Bargeld gefunden haben.»Lauf, Prince, lauf«, sage ich leise in mich hinein.

Die mit dieser Sache im Zusammenhang stehenden Stories machen den größten Teil der Mittagsnachrichten aus.

«Ich möchte wissen, wo sie sind«, sagt Deck, nachdem er den Fernseher ausgeschaltet hat.

Wir denken ein paar Sekunden schweigend darüber nach.»Was ist da drin?«frage ich und deute auf einen Karton neben dem kleinen Tisch.

«Meine Akten.«

«Irgend etwas Gutes?«

«Genug, um zwei Monate lang die Rechnungen zu bezahlen. Ein paar kleine Verkehrsunfälle. Die eine oder andere Schadenersatzforderung nach einem Arbeitsunfall. Außerdem ein Unfall mit Todesfolge, den ich von Bruiser übernommen habe. Das heißt, ich habe ihn mir nicht selber genommen. Er hat mir vorige Woche die Akte gegeben und gesagt, ich sollte ein paar Versicherungspolicen überprüfen. Irgendwie ist sie in meinem Büro hängengeblieben, und jetzt ist sie hier.«

Ich habe den starken Verdacht, daß sich in diesem Karton noch weitere Fälle befinden, die Deck aus Bruisers Kanzlei abgestaubt hat, aber ich werde bestimmt nicht nachfragen.

«Glauben Sie, daß das FBI vorhat, uns zu vernehmen?«

«Darüber habe ich auch schon nachgedacht. Wir wissen nichts, und wir haben keine Akten mitgenommen, die für sie von Interesse sein könnten. Also weshalb sollten wir uns Sorgen machen?«

«Ich mache mir aber Sorgen.«

«Ich auch.«

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