Kapitel 43

Sechs Tage nach der Auswahl der Geschworenen und vier Tage vor Prozeßbeginn nimmt Deck im Büro den Anruf eines Anwalts in Cleveland entgegen, der mit mir sprechen möchte. Ich bin sofort argwöhnisch, weil ich keinen einzigen Anwalt in Cleveland kenne, und ich rede mit dem Mann gerade so lange, bis er seinen Namen genannt hat. Das dauert ungefähr zehn Sekunden, dann lege ich mitten in einem seiner Sätze auf und tue so, als wäre das Gespräch irgendwie unterbrochen worden. Das kommt in letzter Zeit dauernd vor, erkläre ich Deck so laut, daß es im Hörer deutlich zu verstehen ist. Dann nehmen wir die Hörer aller drei Bürotelefone ab, und ich laufe auf die Straße hinunter zu meinem Volvo. Butch hat mein Autotelefon überprüft, und es scheint frei von Wanzen zu sein. Ich lasse mir von der Auskunft die Nummer des Anwalts in Cleveland geben, dann rufe ich ihn an.

Der Anruf erweist sich als überaus wichtig.

Er heißt Peter Corsa. Seine Spezialität ist Arbeitsrecht und jede Art der Diskriminierung von Angestellten, und er vertritt eine junge Frau namens Jackie Lemancyzk. Sie hat den Weg in seine Kanzlei gefunden, nachdem sie von Great Benefit aus völlig unerfindlichen Gründen entlassen worden war, und jetzt haben sie gemeinsam vor, wegen einer Vielzahl von Mißständen Schadenersatz zu verlangen. Im Gegensatz zu dem, was mir erzählt wurde, hat Ms. Lemancyzk Cleveland nicht verlassen. Sie ist in eine andere Wohnung mit einem nicht eingetragenen Telefon umgezogen.

Ich informiere Corsa, daß wir ein Dutzend Anrufe in Cleveland und Umgebung gemacht, aber keine Spur von Jackie Lemancyzk gefunden haben. Und daß einer der großen Bosse, Richard Pellrod, behauptet hat, sie wäre in ihren Heimatort zurückgekehrt.

Stimmt nicht, sagt Corsa. Sie hat sich zwar versteckt, Cleveland aber nie verlassen.

Was nun kommt, ist eine wunderbar saftige Geschichte, und Corsa läßt kein Detail aus.

Seine Mandantin hatte sexuelle Beziehungen zu mehreren ihrer Bosse bei Great Benefit. Er versichert mir, daß sie sehr gut aussieht. Ihre Beförderung und ihr Gehalt hingen davon ab, ob sie sich bereit erklärte, mit bestimmten Leuten ins Bett zu gehen. Eine Zeitlang war sie leitende Schadenssachbearbeiterin, die einzige Frau, die diese Position je erlangt hatte, verlor diesen Posten aber wieder, als sie eine Affäre mit Everett Lufkin, dem Vizepräsidenten der Schadensabteilung, beendete, der offenbar ein widerlicher Typ ist mit einer Vorliebe für abartige Sexpraktiken.

Ich pflichte ihm bei, daß der Mann ein widerlicher Typ ist. Ich habe ihn vier Stunden lang vernommen, und ich werde ihn mir nächste Woche im Zeugenstand vorknöpfen.

Sie werden Great Benefit wegen sexueller Belästigung und anderer strafbarer Handlungen verklagen, aber sie weiß auch über eine Menge schmutziger Wäsche in der Schadensabteilung Bescheid. Sie hat schließlich mit dem Vizepräsidenten der Schadensabteilung geschlafen. Es wird eine Menge Prozesse geben, prophezeit er.

Schließlich stelle ich die große Frage.»Wird sie kommen und aussagen?«

Er weiß es nicht. Vielleicht. Aber sie hat Angst. Das sind niederträchtige Leute mit einer Menge Geld. Im Augenblick macht sie eine Therapie, sie ist sehr labil.

Er erklärt sich einverstanden, daß ich mich am Telefon mit ihr unterhalte, und wir verabreden ein Gespräch am späten Abend am Apparat in meiner Wohnung. Ich erkläre ihm, daß es nicht ratsam ist, mich in meinem Büro anzurufen.

Es ist unmöglich, an etwas anderes zu denken als an den Prozeß. Wenn Deck nicht da ist, wandere ich in meinem Büro herum, führe Selbstgespräche, erkläre den Geschworenen, wie wahrhaft niederträchtig Great Benefit ist, nehme ihre Leute ins Kreuzverhör, verhöre behutsam Dot und Ron und Dr. Kord, trage den Geschworenen ein ziemlich hinreißendes Schlußplädoyer vor. Es fällt mir immer noch schwer, die Geschworenen um eine Geldstrafe von zehn Millionen Dollar zu bitten und dabei keine Miene zu verziehen. Wenn ich fünfzig Jahre alt wäre, Hunderte von Fällen verhandelt hätte und wüßte, was zum Teufel ich tue, dann hätte ich vielleicht das Recht, eine Jury um zehn Millionen zu bitten. Aber bei einem Anfänger, der erst vor neun Monaten sein Studium beendet hat, muß es absurd klingen.

Aber ich bitte sie trotzdem. Ich tue es in meiner Kanzlei, in meinem Wagen und vor allem in meiner Wohnung, oft um zwei Uhr nachts, wenn ich nicht schlafen kann. Ich rede mit diesen zwölf Gesichtern, denen ich jetzt Namen geben kann, diesen wunderbar fairen Leuten, die mir zuhören und nicken und es nicht abwarten können, in den Gerichtssaal zurückzukehren und Recht zu sprechen.

Ich bin im Begriff, auf Gold zu stoßen, Great Benefit in einer öffentlichen Gerichtsverhandlung zu vernichten, und ich bemühe mich ununterbrochen, diese Gedanken unter Kontrolle zu halten. Das ist verdammt schwer. Die Fakten, die Jury, der Richter, die besorgten Anwälte auf der anderen Seite. Das macht zusammen eine Menge Geld.

Irgend etwas muß einfach schiefgehen.

Ich unterhalte mich eine Stunde lang mit Jackie Lemancyzk. Manchmal hört sie sich kräftig und eindringlich an, dann wieder kann sie kaum klar denken. Sie hat mit keinem dieser Männer schlafen wollen, sagt sie immer wieder, aber es war die einzige Möglichkeit, voranzukommen. Sie ist geschieden und hat zwei Kinder.

Sie erklärt sich bereit, nach Memphis zu kommen. Ich biete ihr an, ihr den Flug und die anderen Unkosten zu bezahlen, und es gelingt mir, dieses Angebot so klingen zu lassen, als verfügte unsere Kanzlei über unbegrenzte Mittel. Sie verlangt von mir das Versprechen, daß es, falls sie aussagt, für Great Benefit eine absolute Überraschung sein muß.

Sie hat eine Heidenangst vor diesen Leuten. Ich denke, es wäre eine großartige Überraschung.

Das Wochenende vorbringen wir im Büro, mit nur ein paar

Stunden Schlaf in unseren jeweiligen Wohnungen, dann kehren wir wie verlorene Schafe ins Büro zurück und arbeiten weiter.

Meine seltenen Momente der Entspannung verdanke ich Tyrone Kipler. Ich habe ihm insgeheim tausendmal dafür gedankt, daß wir die Geschworenen eine Woche vor dem Prozeß auswählen durften und daß er mir gestattet hat, außerhalb des Protokolls ein paar Worte an sie zu richten. Vorher war die Jury ein großer Teil des Unbekannten, ein Element, vor dem ich ungeheure Angst hatte. Jetzt kenne ich ihre Namen und ihre Gesichter, und ich habe mich mit den Leuten ohne Zuhilfenahme schriftlicher Notizen unterhalten. Sie mögen mich. Und sie verabscheuen meine Gegner.

Trotz all meiner Unerfahrenheit bin ich fest davon überzeugt, daß Richter Kipler mich vor mir selbst retten wird.

Am Sonntag gegen Mitternacht sagen Deck und ich uns gute Nacht. Als ich das Büro verlasse, schneit es leicht. Leichter Schneefall bedeutet in Memphis in der Regel, daß die Schule eine Woche lang ausfällt und alle Regierungsbehörden geschlossen sind. Die Stadt hat nie einen Schneepflug angeschafft.

Ein Teil von mir wünscht sich einen Schneesturm, damit der morgige Tag verschoben wird. Ein anderer Teil will es endlich hinter sich bringen.

Bis ich bei meiner Wohnung angekommen bin, hat es aufgehört zu schneien. Ich trinke zwei warme Dosen Bier und bete um Schlaf.

«Irgendwelche Präliminarien?«fragt Kipler eine angespannte Gruppe in seinem Büro. Ich sitze neben Drummond, und wir schauen beide über den Schreibtisch hinweg Seine Ehren an. Meine Augen sind rot von einer nahezu schlaflosen Nacht, mein Kopf schmerzt, und mein Gehirn denkt an zwanzig Dinge gleichzeitig.

Ich bin überrascht, wie müde Drummond aussieht. Für einen Mann, der sein Leben in Gerichtssälen verbringt, sieht er ungewöhnlich mitgenommen aus. Gut. Ich hoffe, er hat ebenfalls das Wochenende durchgearbeitet.

«Mir fällt nichts ein«, sage ich. Keine Überraschung. Ich trage nur selten etwas zu diesen kleinen Zusammenkünften bei.

Drummond schüttelt den Kopf. Nein.

«Ist es möglich, die Kosten einer Knochenmarkstransplantation festzulegen?«fragt Kipler.»Wenn ja, könnten wir auf Gaskin als Zeugen verzichten. Soweit ich informiert bin, betragen sie ungefähr hundertfünfundsiebzigtausend Dollar.«

«Einverstanden«, sage ich.

Anwälte der Verteidigung verdienen mehr, wenn die Festlegung niedriger ist, aber Drummond hat hier nichts zu gewinnen.»Klingt vernünftig«, sagt er gleichgültig.

«Ist das ein Ja?«fragt Kipler ungehalten nach.

«Ja.«

«Danke. Und nun zu den anderen Kosten. Die dürften so etwa bei fünfundzwanzigtausend liegen. Können wir uns darauf einigen, daß sich der vom Kläger geforderte Schadenersatz auf zweihunderttausend Dollar beläuft? Können wir das?«Er funkelt Drummond regelrecht an.

«Einverstanden«, sage ich, und ich bin sicher, daß Drummond das ganz und gar nicht gefällt.

«Ja«, sagt Drummond.

Kipler notiert sich etwas auf seinem Block.»Danke. Sonst noch etwas, bevor wir anfangen? Was ist mit der Möglichkeit eines Vergleichs?«

«Euer Ehren«, sage ich entschlossen. Das ist gut geplant.»Namens meiner Mandanten möchte ich das Angebot machen, daß wir einem Vergleich über eine Summe von eins Komma zwei Millionen Dollar zustimmen würden.«

Anwälte der Verteidigung sind darauf trainiert, angesichts jedes Vergleichsvorschlags von einem Vertreter der Anklage Schock und Fassungslosigkeit zum Ausdruck zu bringen, und sie reagieren auf mein Angebot mit dem erwarteten Kopfschütteln und Räuspern und sogar einem leisen Kichern von jemandem hinter mir, wo sich die Hilfstruppen zusammendrängen.

«Das könnte Ihnen so passen«, sagt Drummond bissig. Ich habe den Eindruck, daß Drummond ziemlich kaputt ist. Als dieser Fall anfing, war er ganz der Gentleman, ein sehr verbindlicher Profi sowohl im Gerichtssaal als auch außerhalb. Jetzt benimmt er sich wie ein schmollender Teenager.

«Kein Gegenangebot, Mr. Drummond?«fragt Kipler.

«Unser Angebot steht bei zweihunderttausend.«

«Also gut, dann können wir anfangen. Jede Seite bekommt fünfzehn Minuten für ihr Eröffnungsplädoyer, aber natürlich brauchen Sie nicht die ganze Zeit in Anspruch zu nehmen.«

Ich habe mein Eröffnungsplädoyer schon ein dutzendmal gehalten — es dauert genau sechseinhalb Minuten. Die Geschworenen werden hereingeführt, von Seinen Ehren begrüßt, sie erhalten ein paar Instruktionen, dann werden sie mir überlassen.

Wenn ich so etwas sehr oft tue, werde ich vielleicht eines Tages ein gewisses Talent für Dramatik entwickeln. Aber das muß warten. Im Augenblick will ich es einfach hinter mich bringen. Ich halte einen Notizblock in der Hand, werfe einoder zweimal einen Blick darauf, und erzähle den Geschworenen von meinem Fall. Ich stehe neben dem Podium und sehe in meinem neuen grauen Anzug hoffentlich halbwegs anwaltsmäßig aus. Die Tatsachen sprechen so sehr zu meinen Gunsten, daß ich sie nicht breittreten will. Es gab eine Police, die Prämien wurden regelmäßig jede Woche gezahlt, sie schloß Donny Ray ein, er wurde krank, und dann wurde ihm ein Strick gedreht. Er starb aus offensichtlichen Gründen. Sie, die Geschworenen, werden Donny Ray kennenlernen, aber nur mittels eines Videobandes. Er ist tot. Bei diesem Prozeß geht es nicht nur darum, von Great Benefit einzufordern, was von Anfang an hätte gezahlt werden müssen, sondern auch, die Gesellschaft für ihre Missetat zu bestrafen. Es ist eine sehr reiche Gesellschaft, die ihr Geld damit gemacht hat, daß sie Prämien kassiert und Leistungsansprüche abgewiesen hat. Wenn alle Zeugen ausgesagt haben, werde ich mich wieder an Sie, die Geschworenen, wenden und Sie um eine hohe Geldstrafe für Great Benefit bitten.

Es ist sehr wichtig, diese Saat frühzeitig auszubringen. Ich will, daß sie wissen, daß wir aufs große Geld aus sind und daß Great Benefit es verdient hat, bestraft zu werden.

Das Eröffnungsplädoyer läuft glatt. Ich stottere und zittere nicht und provoziere auch keine Einsprüche von Drummond. Ich wette, Drummond wird fast während des gesamten Prozesses seinen Hintern nicht vom Stuhl erheben. Er will nicht von Kipler in Verlegenheit gebracht werden, nicht vor dieser Jury.

Ich lasse mich neben Dot nieder. Wir sind ganz allein an unserem langen Tisch.

Drummond begibt sich selbstsicher vor die Geschworenen mit einer Kopie der Police in der Hand. Es gelingt ihm ein dramatischer Start.»Dies ist die Police, die Mr. und Mrs. Black gekauft haben«, sagt er und hält sie hoch, damit jedermann sie sehen kann.»Und in dieser Police steht nirgends, daß Great Benefit für Transplantationen zahlen muß. «Eine lange Pause, damit das einsinken kann. Die Geschworenen mögen ihn nicht, aber er hat ihre Aufmerksamkeit erregt.»Diese Police kostet achtzehn Dollar pro Woche und deckt keine Knochenmarkstransplantationen ab, und trotzdem erwarteten die Kläger von meinem Mandanten, daß er zweihunderttausend Dollar zahlt für, Sie haben es erraten, eine Knochenmarkstransplantation. Mein Mandant hat sich geweigert, dies zu tun, nicht aus Böswilligkeit gegenüber Donny Ray Black. Für meinen Mandanten war es keine Sache auf Leben oder Tod, es ging lediglich darum, was diese Police abdeckt. «Er schwenkt die Police dramatisch und ziemlich effektvoll.»Sie wollen nicht nur die zweihunderttausend Dollar, auf die sie keinen Anspruch haben, sie wollen außerdem, daß mein Mandant zu einer zusätzlichen Zahlung von zehn Millionen Dollar verurteilt wird. Sie nennen das eine Geldstrafe. Ich nenne es absurd. Ich nenne es Habgier.«

Das macht Eindruck, aber es ist riskant. In der Police werden ausdrücklich sämtliche Organtransplantationen ausgeschlossen, aber Knochenmarkstransplantationen werden nicht erwähnt. Ihre Verfasser haben geschlafen und sie ausgelassen. In der neuen Police, die Max Leuberg mir gegeben hat, sind Knochenmarkstransplantationen explizit ausgeschlossen.

Die Strategie der Verteidigung wird deutlich. Anstatt leise zu treten, indem er zugibt, daß von irgendeiner inkompeten-ten Person tief im Innern in einer riesigen Gesellschaft ein Fehler gemacht worden ist, macht Drummond keinerlei Eingeständnisse. Er wird behaupten, daß Knochenmarkstransplantationen überaus unverläßlich sind, schlechte Medizin und keinesfalls eine akzeptierte und routinemäßige Behandlung bei akuter Leukämie.

Er hört sich an wie ein Arzt, der sich über die äußerst geringen Chancen ausläßt, einen geeigneten Spender zu finden, in manchen Fällen eins zu einer Million, und die ebenso geringen Chancen für eine erfolgreiche Transplantation. Er wiederholt sich ständig, indem er sagt:»Sie wird von der Police einfach nicht abgedeckt.«

Er beschließt, mich herauszufordern. Als er zum zweitenmal das Wort» Habgier «erwähnt, springe ich auf und erhebe Einspruch. Direkte Attacken haben im Eröffnungsplädoyer nichts zu suchen. Die kommen erst zum Schluß. Er darf den Geschworenen nur sagen, was seiner Meinung nach die Zeugenaussagen beweisen werden.

Der wunderbare Kipler sagt rasch:»Stattgegeben.«

Drummond blutet als erster.

«Tut mir leid, Euer Ehren«, sagt er aufrichtig. Er redet über seine Zeugen, wer sie sind und was sie aussagen werden. Er verliert Dampf und hätte nach zehn Minuten aufhören sollen. Nach fünfzehn Minuten ruft Kipler ihn zur Ordnung. Drummond muß Schluß machen und dankt den Geschworenen.

«Rufen Sie Ihren ersten Zeugen, Mr. Baylor«, sagt Kipler. Mir bleibt gar keine Zeit, Angst zu haben.

Dot Black begibt sich nervös zum Zeugenstand, wird vereidigt, setzt sich und schaut die Geschworenen an. Sie trägt ein einfaches Baumwollkleid, ein sehr altes, aber sie sieht ordentlich aus.

Wir haben ein Skript, Dot und ich. Ich habe es ihr vor einer Woche gegeben, und wir sind es zehnmal miteinander durchgegangen. Ich stelle die Fragen, sie beantwortet sie. Sie hat eine Mordsangst, völlig zu Recht, und ihre Antworten hören sich hölzern und eingeübt an. Ich habe ihr gesagt, daß sie ruhig nervös sein darf. Die Geschworenen sind auch nur Menschen. Name, Ehemann, Familie, Arbeitsverhältnisse, Police, das Leben mit Donny Ray vor der Krankheit, während der Krankheit, seit seinem Tod. Sie wischt sich ein paarmal die Augen, bleibt aber gefaßt. Ich habe Dot gesagt, sie solle Tränen möglichst vermeiden. Jeder kann sich ihren Kummer vorstellen.

Sie beschreibt, wie frustrierend es ist, als Mutter nicht erreichen zu können, daß der todkranke Sohn behandelt wird. Sie hat Great Benefit viele Male geschrieben und angerufen. Sie hat sich schriftlich und telefonisch an Kongreßabgeordnete, Senatoren und Bürgermeister gewandt, immer in der vergeblichen Hoffnung, Hilfe zu finden. Sie hat Krankenhäuser angefleht, ihn umsonst zu behandeln. Sie hat Freunde und Nachbarn zusammengetrommelt, und sie haben gemeinsam versucht, das Geld aufzubringen, sind aber elend gescheitert. Sie identifiziert die Police und das Antragsformular. Sie beantwortet meine Fragen über ihren Kauf, die allwöchentlichen Besuche von Bobby Ott, um die Prämie zu kassieren.

Dann kommen wir zum wirklich guten Stoff. Ich reiche ihr die ersten sieben Abweisungsbriefe hin, und Dot liest sie den Geschworenen vor. Sie hören sich schlimmer an, als ich gehofft hatte. Glatte Abweisung aus keinem ersichtlichen Grund. Abweisung von der Schadensabteilung, vorbehaltlich der Überprüfung durch die Haftungsabteilung. Abweisung von der Haftungsabteilung, vorbehaltlich der Überprüfung durch die Schadensabteilung. Abweisung von der Schadensabteilung, basierend auf der Tatsache einer Vorerkrankung. Abweisung von der Haftungsabteilung, basierend auf der Behauptung, daß Donny Ray nicht zum Haushalt gehörte, da er volljährig war. Abweisung von der Schadensabteilung, basierend auf der Behauptung, daß Knochenmarkstransplantationen von der Police nicht abgedeckt sind. Abweisung von der Schadensabteilung, basierend auf der Behauptung, Knochenmarkstransplantationen seien zu experimentell und deshalb keine akzeptable Behandlungsmethode.

Die Geschworenen lassen sich kein Wort entgehen. Diese Sache stinkt zum Himmel.

Und dann der Blöde-Brief. Während Dot ihn den Geschworenen vorliest, beobachte ich ihre Gesichter genau. Etliche sind sichtlich fassungslos. Andere blinzeln ungläubig. Wieder andere richten den Blick auf den Tisch der Verteidigung, an dem seltsamerweise alle Mitglieder des Teams die Köpfe gesenkt haben und in tiefe Meditation versunken sind.

Als sie geendet hat, herrscht Stille im Gerichtssaal.

«Bitte, lesen Sie den Brief noch einmal vor«, sage ich.

«Einspruch«, sagt Drummond, der schnell aufgesprungen

ist.

«Abgelehnt«, faucht Kipler.

Dot liest ihn noch einmal vor, diesmal mit mehr Entschlossenheit. Das ist genau der Punkt, zu dem ich Dot bringen wollte, also entlasse ich die Zeugin. Drummond begibt sich aufs Podium. Es wäre ein schwerer Fehler, wenn er sie grob anfassen würde, und es würde mich überraschen, wenn er es täte.

Er beginnt mit ein paar vagen Fragen über frühere Policen, die sie besessen hat, und weshalb sie gerade diese spezielle Police gekauft hat. Was hatte sie im Sinn, als sie sie kaufte? Dot wollte lediglich Versicherungsschutz für ihre Familie, das war alles. Und das war es, was ihr der Agent zugesagt hatte. Hatte der Agent ihr auch zugesagt, daß die Police Knochenmarkstransplantationen einschließen würde?

«Ich habe nicht an Transplantationen gedacht«, sagt sie.»Ich habe nie eine gebraucht. «Das bringt ein paar Geschworene zum Lächeln, aber niemand lacht.

Drummond dringt in sie, will wissen, ob sie vorgehabt hat, eine Police zu kaufen, die Knochenmarkstransplantationen abdeckt. Sie hatte noch nie davon gehört, erklärt sie ihm immer wieder.

«Also haben Sie nicht ausdrücklich eine Police verlangt, die sie abdecken würde?«fragt er.

«An solche Dinge habe ich überhaupt nicht gedacht, als ich die Police kaufte. Ich wollte lediglich vollen Versicherungsschutz.«

Damit erzielt Drummond einen schwachen Punkt, aber ich glaube und hoffe, daß die Geschworenen es rasch wieder vergessen werden.

«Weshalb haben Sie Great Benefit auf zehn Millionen Dollar verklagt?«fragt er. Diese Frage kann zu Beginn eines Prozesses verheerende Auswirkungen haben, weil sie die Kläger habgierig erscheinen läßt. Die in einer Klage beantragten Summen sind oft nichts als Zahlen, vom Anwalt aus der Luft gegriffen, ohne Mitwirkung der Mandanten. Ich jedenfalls habe Dot nicht gefragt, auf wieviel sie klagen will.

Aber ich habe gewußt, daß die Frage kommen würde, weil ich die Protokolle von Drummonds früheren Prozessen gelesen habe. Dot ist vorbereitet.

«Zehn Millionen?«fragt sie.

«So ist es, Mrs. Black. Sie haben meine Mandanten auf zehn Millionen Dollar verklagt.«

«Ist das alles?«fragt sie.

«Wie bitte?«

«Ich dachte, es wäre wesentlich mehr.«

«Ach, wirklich?«

«Ja. Ihre Mandanten haben eine Milliarde Dollar, und Ihre Mandanten haben meinen Sohn umgebracht. Ich wollte sie auf wesentlich mehr verklagen.«

Drummonds Knie geben ein wenig nach, und er verlagert sein Gewicht. Aber er lächelt trotzdem weiter, ein bemerkenswertes Talent. Anstatt sich hinter eine harmlose Frage zurückzuziehen oder zu seinem Platz zurückzukehren, macht er mit Dot Black noch einen letzten Fehler. Auch das ist eine seiner Standardfragen.»Was werden Sie mit dem Geld anfangen, wenn die Geschworenen Ihnen zehn Millionen Dollar zusprechen?«

Man stelle sich vor, man müßte diese Frage aus dem Handgelenk heraus vor einem öffentlichen Gericht beantworten. Aber Dot ist vorbereitet.»Ich würde es der American Leukemia Society geben. Bis auf den letzten Cent. Ich will keinen Penny von Ihrem stinkenden Geld.«

«Danke«, sagt Drummond und kehrt rasch zu seinem Tisch zurück.

Zwei der Geschworenen kichern hörbar, als Dot den Zeugenstand verläßt und sich wieder neben mich setzt. Drummond sieht blaß aus.

«Wie war ich?«füstert sie.

«Sie haben es ihm gegeben, Dot«, flüstere ich zurück.

«Ich brauche eine Zigarette.«

«Wir werden gleich unterbrechen.«

Ich rufe Ron Black in den Zeugenstand. Auch er hat ein Skript, und seine Vernehmung dauert nicht einmal eine halbe Stunde. Alles, was wir von Ron brauchen, ist die Bestätigung, daß die Tests bei ihm durchgeführt wurden, daß er ein idealer Spender für seinen Zwillingsbruder gewesen wäre und daß er immer bereit war, als Spender zu fungieren. Drummond verzichtet auf ein Kreuzverhör. Es ist fast elf Uhr, und Kipler ordnet eine zehnminütige Pause an.

Dot eilt in die Toilette und verzieht sich in eine Kabine, um sich eine Zigarette anzustecken. Ich habe sie davor gewarnt, vor den Geschworenen zu rauchen. Deck und ich sitzen an unserem Tisch beisammen und vergleichen unsere Eindrücke. Er sitzt hinter mir, und er hat die Geschworenen beobachtet. Die Abweisungsbriefe haben ihre Aufmerksamkeit erregt. Der Blöde-Brief hat sie in Wut gebracht.

Sorgen Sie dafür, daß sie wütend bleiben, sagt er. Sorgen Sie dafür, daß sie empört bleiben. Geldstrafen werden nur verhängt, wenn eine Jury zornig ist.

Dr. Walter Kord macht eine sehr gute Figur, als er den Zeugenstand betritt. Er trägt ein kariertes Sportjackett, eine dunkle Hose und eine rote Krawatte, ganz der erfolgreiche junge Arzt. Er ist in Memphis aufgewachsen, hat hier die Grundschule besucht, dann das Vanderbilt College. Medizinstudium an der Duke University. Hervorragende Zeugnisse. Ich gehe mit ihm seine Laufbahn durch und habe keinerlei Schwierigkeiten, ihn als Experten für Onkologie zu qualifizieren. Ich gebe ihm Donny Rays medizinische Unterlagen, und er liefert den Geschworenen eine Zusammenfassung seiner Behandlung. Kord benutzt, wann immer es möglich ist, auch für Laien verständliche Worte und erklärt die medizinischen Fachausdrücke. Er ist Arzt, darauf trainiert, Gerichtssäle zu hassen, aber er ist die Ruhe selbst, auch den Geschworenen gegenüber.

«Können Sie den Geschworenen die Krankheit erklären, Dr. Kord?«frage ich.

«Natürlich. Akute myelozytische Leukämie, kurz AML, ist eine Krankheit, die zwei Altersgruppen befällt, einmal junge

Erwachsene zwischen zwanzig und dreißig und zum anderen ältere Menschen, gewöhnlich im Alter von ungefähr siebzig Jahren. Weiße bekommen AML häufiger als Nicht-Weiße, und aus unbekannten Gründen befällt sie Personen jüdischer Herkunft öfter als andere. Männer bekommen sie häufiger als Frauen. In den meisten Fällen ist die Ursache der Krankheit unbekannt.

Der Körper bildet sein Blut im Knochenmark, und dort greift die AML an. Die weißen Blutkörperchen, die für die Bekämpfung von Infektionen zuständig sind, werden bei einer akuten Leukämie bösartig, und ihre Zahl wächst oft auf das Hundertfache des Normalen an. Wenn das passiert, werden die roten Blutkörperchen zurückgedrängt, was bewirkt, daß der Patient blaß und schwach ist und unter Blutarmut leidet. Wenn sich die weißen Blutkörperchen ungehindert vermehren, unterdrücken sie auch die normale Produktion der Blutplättchen, des dritten Zelltyps, der sich im Knochenmark findet. Das führt zu leichter Verletzbarkeit, Blutungen und Kopfschmerzen. Als Donny Ray zum ersten Mal in meine Praxis kam, klagte er über Schwindel, Kurzatmigkeit, Mattigkeit, Fieber und grippeähnliche Symptome.«

Als Kord und ich letzte Woche übten, habe ich ihn gebeten, von Donny Ray zu sprechen, nicht von Mr. Black oder dem Patienten Soundso.

«Und was haben Sie unternommen?«frage ich. Ist doch gar nicht so schwer, sage ich mir.

«Ich führte eine Untersuchung durch, die als Knochenmarkspunktion bezeichnet wird.«

«Können Sie sie den Geschworenen erklären?«

«Gewiß. Bei Donny Ray wurde sie am Hüftknochen vorgenommen. Ich legte ihn auf den Bauch, betäubte ein kleines Stück Haut, machte eine winzige Öffnung und führte dann eine große Nadel ein. Die Nadel besteht aus zwei Teilen, der äußere Teil ist eine Röhre, der innere ist massiv. Nachdem die Nadel bis ins Knochenmark vorgedrungen war, wurde der massive Teil herausgezogen und eine leere Saugröhre an der Öffnung der Nadel angesetzt. Sie fungiert wie eine Art Spritze, und mit ihr habe ich eine kleine Menge flüssiges Knochenmark abgesaugt. An dem auf diese Weise gewonnenen Knochenmark wurden dann die üblichen Tests durchgeführt und die weißen und die roten Blutkörperchen gezählt. Es war eindeutig, daß er akute Leukämie hatte.«

«Was kostet dieser Test?«

«Ungefähr tausend Dollar.«

«Und wie hat Donny Ray ihn bezahlt?«

«Als er das erste Mal in meine Praxis kam, hat er die üblichen Formulare ausgefüllt und angegeben, daß die Kosten durch eine Police der Great Benefit Life Insurance Company abgedeckt wären. Meine Mitarbeiter haben bei Great Benefit nachgefragt und sich vergewissert, daß eine solche Police tatsächlich existiert. Daraufhin habe ich die Behandlung fortgeführt.«

Ich gebe ihm Kopien der hierfür relevanten Dokumente, und er identifiziert sie.

«Sind Sie von Great Benefit bezahlt worden?«

«Nein. Wir wurden von der Gesellschaft informiert, daß der Anspruch aus verschiedenen Gründen abgewiesen würde. Sechs Monate später haben wir die Rechnung quittiert. Mrs. Black hat fünfzig Dollar pro Monat gezahlt.«

«Wie haben Sie Donny Ray behandelt?«

«Mit etwas, was wir als Induktionstherapie bezeichnen. Er kam ins Krankenhaus, und ich legte einen Katheter in eine große Ader unter seinem Schlüsselbein. Die erste Induktion der Chemotherapie erfolgte mit einem Medikament namens Ara-C, das über sieben Tage hinweg vierundzwanzig Stunden lang in den Körper geführt wird. Außerdem wurde während der ersten drei Tage noch ein weiteres Medikament, Idarubi-zin, gegeben. Es wird >roter Tod< genannt, wegen seiner roten Farbe und seiner extremen Wirksamkeit beim Abtöten der Zellen im Knochenmark. Es enthält Allopurinol, ein Mittel gegen Gicht, weil Gicht häufig auftritt, wenn große Mengen von roten Blutkörperchen absterben. Er bekam intravenös große Mengen von Flüssigkeit, damit die Abfallprodukte aus seinen Nieren herausgespült wurden. Er erhielt Antibiotika und pilztötende Mittel, weil er anfällig war für Infektionen. Er erhielt ein Medikament namens Amphoterizin B, ein Mittel gegen Pilze. Das ist ein sehr toxisches Medikament, und es ließ seine Temperatur auf 40 Grad steigen und verursachte außerdem unkontrollierbares Zittern. Trotzdem ist er gut damit fertig geworden, mit einer überaus positiven Einstellung für einen sehr kranken jungen Mann.

Der Sinn einer derart intensiven Chemotherapie ist es, sämtliche Zellen im Knochenmark abzutöten und dann darauf zu hoffen, daß eine Umgebung entsteht, in der sich normale Zellen schneller neu bilden können als Leukämiezellen.«

«Tritt das ein?«

«Kurzfristig. Aber wir behandeln jeden Patienten in dem Wissen, daß die Leukämie zurückkehren wird, es sei denn natürlich, der Patient erhält eine Knochenmarkstransplantation.«

«Dr. Kord, können Sie den Geschworenen erklären, wie Sie eine Knochenmarkstransplantation vornehmen?«

«Natürlich. Es ist kein furchtbar kompliziertes Verfahren. Nachdem der Patient die Chemotherapie hinter sich hat, die ich gerade beschrieben habe, und wenn er das Glück hatte, einen Spender zu finden, dessen Knochenmark dem seinen genetisch hinreichend ähnlich ist, entnehmen wir dem Spender sein Knochenmark und injizieren es dem Empfänger durch eine intravenöse Sonde. Sinn der Sache ist es, eine gesamte Population von Knochenmarkszellen von einem Patienten auf einen anderen zu übertragen.«

«War Ron Black ein geeigneter Spender für Donny Ray?«

«Vollkommen. Die Brüder waren eineiige Zwillinge, und da ist es immer am einfachsten. Wir haben an beiden Männern die erforderlichen Tests durchgeführt, und die Transplantation wäre einfach gewesen. Sie hätte funktioniert.«

Drummond springt auf.»Einspruch. Spekulation. Der Arzt kann nicht eindeutig festlegen, ob die Transplantation funktioniert hätte oder nicht.«

«Abgelehnt. Heben Sie sich das fürs Kreuzverhör auf.«

Ich stelle noch ein paar weitere Fragen über das Verfahren, und während Kord sie beantwortet, beobachte ich die Geschworenen. Sie hören aufmerksam zu, aber es ist Zeit, Schluß zu machen.

«Erinnern Sie sich, wann ungefähr Sie bereit waren, die Transplantation vorzunehmen?«

Er konsultiert seine Notizen, aber er weiß die Antwort.»Im August 1991. Vor ungefähr achtzehn Monaten.«

«Hätte eine solche Transplantation die Chancen, eine akute Leukämie zu überleben, verbessert?«

«Zweifellos.«

«Um wieviel?«

«Achtzig bis neunzig Prozent.«

«Und die Chancen eines Überlebens ohne Transplantation?«

«Null.«

«Ich entlasse den Zeugen.«

Es ist nach zwölf und Zeit für die Mittagspause. Kipler vertagt bis halb zwei. Deck erbietet sich, Sandwiches zu holen, und Kord und ich bereiten uns auf die nächste Runde vor. Er freut sich regelrecht auf den Kampf mit Drummond.

Ich werde nie erfahren, wie viele medizinische Berater Drummond bei der Vorbereitung dieses Prozesses engagiert hat. Er ist nicht verpflichtet, das anzugeben. Er hat nur einen Experten als potentiellen Zeugen benannt. Dr. Kord hat mir wiederholt versichert, daß Knochenmarkstransplantationen jetzt als beste Behandlungsmethode so allgemein anerkannt sind, daß nur ein Quacksalber etwas anderes behaupten würde. Er hat mir Dutzende von Artikeln und Aufsätzen und sogar Bücher gegeben, die unsere Position stützen, daß dies einfach die beste Methode zur Behandlung von akuter Leukämie ist.

Offensichtlich hat Drummond so ziemlich dasselbe festgestellt. Er ist kein Arzt und befindet sich in einer schwachen Position, also legt er sich nicht allzu stark mit Dr. Kord an. Das Scharmützel ist kurz. Sein Hauptargument ist, daß nur sehr wenige Patienten mit akuter Leukämie Knochenmarkstransplantationen erhalten, im Vergleich zu denen, die keine bekommen. Weniger als fünf Prozent, sagt Kord, aber nur deshalb, weil es schwierig ist, einen Spender zu finden. In den Vereinigten Staaten werden jährlich ungefähr siebentausend Transplantationen vorgenommen.

Diejenigen, die das Glück haben, einen Spender zu finden, haben eine wesentlich größere Überlebenschance. Donny Ray hatte dieses Glück. Er hatte einen Spender.

Kord wirkt fast enttäuscht, als Drummond nach ein paar kurzen Fragen aufgibt. Ich habe keine Gegenfragen, und Kord wird entlassen.

Der nächste Moment ist sehr spannend, weil ich verkünden muß, welchen der Firmenbosse ich als Zeugen aufrufe. Drummond hat mich heute morgen gefragt, und ich habe gesagt, ich hätte mich noch nicht entschieden. Er hat sich bei Kipler beschwert, der sagte, das brauchte ich nicht anzugeben, bevor ich bereit wäre. Sie sind in einem Zeugenraum ein Stück den Gang hinunter isoliert, wartend und vor sich hin schmorend.

«Mr. Everett Lufkin«, verkünde ich. Als der Gerichtsdiener verschwindet, um ihn zu holen, bricht am Tisch der Verteidigung hektische Aktivität aus, aber das meiste davon ist, soweit ich es beurteilen kann, völlig sinnlos. Es werden nur Papiere verschoben, Zettel mit Notizen herumgereicht, Aktenstücke ausfindig gemacht.

Lufkin betritt den Gerichtssaal, sieht sich unsicher um, als wäre er gerade aus dem Winterschlaf geweckt worden, richtet seine Krawatte und folgt dem Gerichtsdiener den Gang hinunter. Er wirft einen nervösen Blick auf die Gruppe seiner Anhänger zur Linken, dann begibt er sich zum Zeugenstand.

Drummond ist dafür bekannt, daß er seine Zeugen trainiert, indem er sie einem brutalen Kreuzverhör unterwirft, wobei er manchmal vier oder fünf seiner Anwälte dazu benutzt, den Zeugen mit Fragen zu bombardieren, was dann alles auf Video festgehalten wird. Danach sitzt er stundenlang mit seinem Zeugen zusammen; sie sehen sich das Video an und arbeiten an der Taktik, um sich auf diesen Moment vorzubereiten.

Ich weiß, daß diese Bosse makellos vorbereitet sein werden.

Lufkin sieht mich an und dann die Geschworenen und versucht, gelassen zu wirken, aber er weiß, daß er nicht alle Fragen beantworten kann, die kommen werden. Er ist ungefähr fünfundfünfzig, mit grauem Haar, das nicht weit über seinen Augenbrauen beginnt; angenehmes Gesicht, ruhige Stimme.

Man würde ihm die örtliche Pfadfindertruppe anvertrauen. Jackie Lemancyzk hat mir erzählt, daß er sie fesseln wollte.

Sie haben keine Ahnung, daß sie morgen aussagen wird.

Wir reden über die Schadensabteilung und ihre Rolle im Gesamtsystem von Great Benefit. Er arbeitet dort seit acht Jahren, sechs davon als Vizepräsident der Schadensabteilung, und hat die Abteilung fest unter Kontrolle, ganz der tüchtige Manager. Er möchte bei den Geschworenen den Eindruck einer wichtigen Persönlichkeit erwecken, und binnen Minuten haben wir festgestellt, daß es sein Job ist, jeden Aspekt der Schadensabteilung zu überwachen. Er kümmert sich nicht um jeden einzelnen Anspruch, ist aber für das Funktionieren der Abteilung verantwortlich. Es gelingt mir, ihn mit einer langweiligen Erörterung von nichts als Firmenbürokratie einzulullen, dann frage ich plötzlich:»Wer ist Jackie Lemancyzk?«

Seine Schultern zucken ein bißchen.»Eine ehemalige Sachbearbeiterin.«

«Hat sie in Ihrer Abteilung gearbeitet?«

«Ja.«

«Wann hat sie aufgehört, für Great Benefit zu arbeiten?«

Er zuckt die Achseln, kann sich nicht an das Datum erinnern.

«Wie wäre es mit dem 3. Oktober vergangenen Jahres?«

«Könnte hinkommen.«

«Und war das nicht zwei Tage vor ihrer geplanten Vernehmung in diesem Fall?«

«Das weiß ich wirklich nicht mehr.«

Ich frische sein Gedächtnis auf, indem ich ihm zwei Dokumente zeige. Das erste ist ihr Kündigungsschreiben, datiert auf den 3. Oktober, das zweite ist meine Ankündigung, sie am 5. Oktober zu vernehmen Jetzt erinnert er sich. Er gibt widerstrebend zu, daß sie Great Benefit zwei Tage vor ihrer geplanten Vernehmung in diesem Fall verlassen hat.

«Und sie war die Person, die für die Bearbeitung dieses Falles für Ihre Gesellschaft zuständig war?«

«Das ist richtig.«

«Und Sie haben sie entlassen?«

«Natürlich nicht.«»Wie sind Sie sie losgeworden?«

«Sie hat gekündigt. Es steht hier in ihrem Brief.«

«Weshalb hat sie gekündigt?«

Er greift nach dem Brief, als könnte ihn nichts auf der Welt erschüttern, und liest ihn für die Geschworenen vor:»Ich kündige hiermit aus persönlichen Gründen.«

«Es war also ihre Idee, den Job aufzugeben?«

«So steht es hier.«

«Wie lange hat sie unter Ihnen gearbeitet?«

«Unter mir arbeiten eine Menge Leute. An solche Details kann ich mich nicht erinnern.«

«Sie wissen es also nicht?«

«Nicht genau. Mehrere Jahre.«

«Haben Sie sie gut gekannt?«

«Im Grunde nicht. Sie war nur eine Sachbearbeiterin, eine von vielen.«

Morgen wird sie aussagen, daß ihre schmutzige kleine Affäre drei Jahre gedauert hat.

«Und Sie sind verheiratet, Mr. Lufkin?«

«Ja, glücklich.«

«Haben Sie Kinder?«

«Ja. Zwei erwachsene Kinder.«

Ich lasse ihn eine Minute hängen, während ich zu meinem Tisch gehe und einen Stapel Dokumente hole. Es ist die Schadensakte der Blacks, und ich reiche sie Lufkin. Er läßt sich Zeit, sieht sie durch, sagt dann, sie scheine vollständig zu sein. Ich sorge dafür, daß er versichert, daß dies die vollständige Akte ist und nichts fehlt.

Zur Information der Geschworenen stelle ich ihm eine Reihe von trockenen Fragen, die alle den Sinn haben, eine grundlegende Erklärung dafür zu liefern, wie Schadensansprüche angeblich gehandhabt werden. Natürlich verhält sich Great Benefit in allen Dingen ganz, wie es sich gehört.

Dann kommen wir zum schmutzigen Teil. Ich lasse ihn, ins Mikrofon und zu Protokoll, jeden der ersten sieben Abweisungsbriefe vorlesen. Ich fordere ihn auf, jeden einzelnen Brief zu erklären. Wer hat ihn geschrieben? Warum wurde er geschrieben? Entsprach er den im Schadenshandbuch enthaltenen Richtlinien? Welchem Abschnitt des Schadenshandbuchs? Hat er den Brief selbst gesehen?

Dann muß er den Geschworenen sämtliche Briefe von Dot vorlesen. Sie flehen um Hilfe. Ihr Sohn stirbt. Gibt es da oben jemanden, der ihr zuhört? Und ich befrage ihn zu jedem Brief: Wer hat ihn bekommen? Was ist damit geschehen? Was verlangt das Handbuch? Hat er ihn selbst gesehen?

Die Geschworenen scheinen darauf zu warten, daß wir zu dem Blöde-Brief kommen, aber Lufkin ist präpariert worden. Er liest ihn der Jury vor, dann erklärt er, ziemlich trocken und monoton und ohne den geringsten Anflug von Mitgefühl, daß dieser Brief von einem Mann geschrieben wurde, der später ausgeschieden ist. Der Mann hat einen Fehler begangen, die Gesellschaft hat einen Fehler begangen, und jetzt, in diesem Moment, vor dem Gericht, entschuldigt sich die Gesellschaft für diesen Brief.

Ich lasse ihn weiterreden. Gib ihm genügend Seil, dann hängt er sich selbst.

«Finden Sie nicht, daß diese Entschuldigung ein bißchen spät kommt?«frage ich schließlich und mache damit seinem Gerede ein Ende.

«Vielleicht.«

«Der junge Mann ist tot, nicht wahr?«

«Ja.«

«Und, fürs Protokoll, Mr. Lufkin, es gibt keine schriftliche Entschuldigung für diesen Brief, richtig?«

«Meines Wissens nicht.«

«Keinerlei Entschuldigung bis jetzt, richtig?«

«Das stimmt.«

«Hat sich, nach Ihrem begrenzten Wissen, Great Benefit jemals für irgend etwas entschuldigt?«

«Einspruch«, sagt Drummond.

«Stattgegeben. Machen Sie weiter, Mr. Baylor.«

Lufkin befindet sich seit fast zwei Stunden im Zeugenstand. Vielleicht sind die Geschworenen seiner überdrüssig. Ich bin es jedenfalls. Es ist an der Zeit, grausam zu sein.

Ich bin absichtlich ausführlich auf das Schadenshandbuch eingegangen und habe es so dargestellt, als wäre es die unumstößliche Festlegung der Firmenstrategie. Ich gebe Lufkin mein Exemplar, das ich im Rahmen der Beweisaufnahme erhalten habe. Ich stelle ihm eine Reihe von Fragen, die er alle perfekt beantwortet, und er bestätigt, daß dies, jawohl, die heilige Schrift über Schadensregulierungen ist. Es ist getestet und erprobt worden, von Zeit zu Zeit überarbeitet, abgewandelt, auf den neuesten Stand gebracht und den veränderten Zeiten angepaßt, das alles in dem Bestreben, den Kunden den bestmöglichen Service zu bieten.

Nachdem er sich weitschweifig über das verdammte Handbuch ausgelassen hat, frage ich:»Also, Mr. Lufkin, ist dies das vollständige Handbuch?«

Er blättert es rasch durch, als kenne er jeden Abschnitt, jedes Wort.»Ja.«

«Sind Sie sicher?«

«Ja.«

«Und Sie wurden im Laufe der Beweisaufnahme aufgefordert, mir dieses Exemplar auszuhändigen?«

«Das stimmt.«

«Ich habe ein Exemplar von Ihren Anwälten verlangt, und daraufhin haben sie mir dieses hier gegeben?«

«Ja.«

«Haben Sie dieses spezielle Exemplar des Handbuchs persönlich für mich ausgewählt?«

«Ja, das habe ich getan.«

Ich hole tief Luft und gehe die paar Schritte zu meinem Tisch. Unter ihm steht ein kleiner Karton voller Akten und Papiere. Ich suche eine Sekunde darin herum, dann richte ich mich, mit leeren Händen, plötzlich gerade auf und sage zu dem Zeugen:»Würden Sie bitte das Handbuch nehmen und Abschnitt U aufschlagen?«Bei den letzten Worten schaue ich direkt Jack Underhall an, den hinter Drummond sitzenden Firmenanwalt. Seine Augen schließen sich. Sein Kopf sinkt nach vorn, dann stützt er sich auf die Ellenbogen und starrt auf den Boden. Neben ihm scheint Kermit Aldy nach Atem zu ringen.

Drummond hat keine Ahnung.

«Wie bitte?«sagt Lufkin mit einer um eine Oktave höheren

Stimme. Während jedermann mich beobachtet, hole ich Cooper Jacksons Exemplar des Schadenshandbuches hervor und lege es auf meinen Tisch. Jeder im Saal starrt darauf. Ich werfe einen Blick auf Kipler, und es macht ihm einen Heidenspaß.

«Abschnitt U, Mr. Lufkin. Bitte schlagen Sie Ihr Handbuch auf, und finden Sie ihn. Ich möchte mit Ihnen darüber sprechen.«

Er nimmt tatsächlich das Handbuch und blättert es abermals durch. Ich bin ziemlich sicher, daß er in diesem Moment seine Kinder verkaufen würde, wenn dadurch ein Wunder geschehen und ein hübscher, ordentlicher Abschnitt U auftauchen würde.

Es geschieht kein Wunder.

«Ich habe keinen Abschnitt U«, sagt er, betrübt und fast stammelnd.

«Wie bitte?«sage ich laut.»Ich habe Sie nicht verstanden.«

«Äh, ja also, dieses Exemplar enthält keinen Abschnitt U. «Er ist völlig außer sich, nicht weil der Abschnitt fehlt, sondern weil er erwischt worden ist. Er wirft hektische Blicke auf Drummond und Underhall, als ob sie etwas tun sollten, zum Beispiel Pause! rufen.

Leo F. Drummond hat keine Ahnung, was sein Mandant ihm da angetan hat. Sie haben das Handbuch manipuliert und es ihrem Anwalt nicht gesagt. Er füstert mit Morehouse. Was zum Teufel geht da vor?

Ich mache eine große Schau daraus, wie ich mit dem anderen Handbuch auf den Zeugen zugehe. Es sieht genauso aus wie das, das er in der Hand hält. Auf der Titelseite steht dasselbe Datum für die revidierte Ausgabe: 1. Januar 1991. Sie sind identisch, abgesehen davon, daß eines einen letzten Abschnitt U enthält und das andere nicht.

«Wissen Sie, was das ist, Mr. Lufkin?«frage ich, gebe ihm Jacksons Exemplar und nehme meines wieder an mich.

«Ja«

«Nun, was ist es?«

«Ein Exemplar des Schadenshandbuches.«

«Und enthält dieses Exemplar einen Abschnitt U?«

Er blättert darin, dann nickt er.

«Was war das, Mr. Lufkin? Bewegungen Ihres Kopfes kann die Protokollantin nicht aufzeichnen.«

«Es enthält einen Abschnitt U.«

«Danke. Nun, haben Sie persönlich den Abschnitt U aus meinem Exemplar entfernt, oder haben Sie jemand anderen angewiesen, es zu tun?«

Er legt das Handbuch sanft auf die Brüstung, die den Zeugenstand umgibt, und verschränkt dann ganz bewußt die Arme vor der Brust. Er starrt auf den Boden zwischen uns und wartet. Ich habe das Gefühl, daß er davondriftet. Sekunden vergehen, und alle warten auf eine Reaktion.

«Beantworten Sie die Frage«, bellt Kipler von oben herunter.

«Ich weiß nicht, wer es getan hat.«

«Aber es ist getan worden, nicht wahr?«frage ich.

«Offensichtlich.«

«Sie geben also zu, daß Great Benefit Dokumente unterschlagen hat.«

«Ich gebe gar nichts zu. Ich bin sicher, daß es ein Versehen war.«

«Ein Versehen? Machen Sie bitte keine Witze, Mr. Lufkin. Stimmt es nicht, daß irgend jemand bei Great Benefit absichtlich den Abschnitt U aus meinem Exemplar des Handbuchs herausgenommen hat?«

«Ich weiß es nicht. Ich — äh — wahrscheinlich ist es eben irgendwie passiert.«

Ich kehre auf der Suche nach nichts Speziellem zu meinem Tisch zurück. Ich will ihn ein paar Sekunden hängen lassen, damit die Geschworenen ihn hinreichend hassen können. Er starrt weiterhin auf den Boden, geprügelt und geschlagen, und wünscht, er wäre irgendwo, nur nicht hier.

Ich gehe gelassen zum Tisch der Verteidigung und gebe Drummond eine Kopie des Abschnitts U, zusammen mit einem breiten, gemeinen Lächeln. Auch Morehouse gebe ich eine. Dann händige ich Kipler eine Kopie aus. Ich lasse mir Zeit, so daß die Geschworenen alles sehen können und nun gespannt warten.

«Also, Mr. Lufkin, lassen Sie uns über den mysteriösen Abschnitt U reden. Erklären wir ihn den Geschworenen. Würden Sie ihn sich bitte ansehen?«

Er nimmt das Handbuch, blättert darin.

«Er ist am 1. Januar 1991 in Kraft getreten, richtig?«

«Ja«

«Haben Sie ihn verfaßt?«

«Nein. «Natürlich nicht.

«Okay, wer dann?«

Eine weitere verdächtige Pause, während er sich eine passende Lüge ausdenkt.

«Ich weiß es nicht«, sagt er.

«Sie wissen es nicht? Haben Sie nicht gerade erst ausgesagt, daß dies eindeutig zu Ihrem Tätigkeitsbereich bei Great Benefit gehört?«

Er starrt wieder auf den Boden, hofft, daß ich einfach verschwinde.

«Na schön«, sage ich.»Überspringen wir Paragraph eins und zwei. Lesen Sie Paragraph drei vor.«

Paragraph drei weist den Sachbearbeiter an, jeden Anspruch innerhalb von drei Tagen nach Eingang abzuweisen. Keine Ausnahmen. Jeden Anspruch. Paragraph vier gestattet die anschließende Überprüfung einiger Ansprüche und beschreibt die Papierarbeit, die erforderlich ist, um herauszufinden, ob ein Anspruch nicht doch vollauf gerechtfertigt ist und deshalb zu erfüllen wäre. Paragraph fünf weist den Sachbearbeiter an, alle Ansprüche mit einem potentiellen Wert von mehr als fünftausend Dollar an die Haftungsabteilung weiterzuleiten, mit einem Abweisungsbrief an den Versicherten, vorbehaltlich der Überprüfung durch die Haftungsabteilung natürlich.

Und so geht es weiter. Ich lasse Lufkin aus seinem Handbuch vorlesen, dann bombardiere ich ihn mit Fragen, die er nicht beantworten kann. Ich benutze mehrfach das Wort» Machenschaften«, vor allem nachdem Drummond Einspruch erhoben und Kipler ihn abgewiesen hat. Paragraph elf liefert ein regelrechtes Glossar von geheimen Codes, die die Sachbearbeiter in der Akte verwenden sollen, um eine heftige Reaktion des Versicherten anzudeuten. Es ist ganz offensichtlich, daß das System auf Chancen setzt. Wenn ein Versicherter mit Anwalten und Klage droht, wird die Akte sofort von einem leitenden Mitarbeiter überprüft. Wenn der Versicherte keinerlei Widerstand leistet, bleibt es bei der Abweisung.

Paragraph achtzehn b weist den Sachbearbeiter an, einen Scheck über den beanspruchten Betrag auszustellen und dann den Scheck und die Akte an die Haftungsabteilung zu schik-ken mit der Maßgabe, den Scheck nicht abzusenden, bevor sie eine entsprechende Nachricht von der Schadensabteilung erhalten hat. Diese Nachricht kommt natürlich nie.»Und was passiert mit dem Scheck?«frage ich Lufkin. Er weiß es nicht.

Die andere Hälfte des Systems findet sich in Abschnitt U des Haftungshandbuches, und zu diesem Thema werde ich mich morgen mit einem anderen Vizepräsidenten beschäftigen.

Es ist im Grunde nicht notwendig. Wenn wir jetzt aufhörten, würden die Geschworenen mir geben, was immer ich haben will, und dabei haben sie noch nicht einmal Donny Ray gesehen.

Um halb fünf unterbrechen wir für eine kurze Pause. Ich hatte Lufkin zweieinhalb Stunden im Zeugenstand, und es wird Zeit, ihm den Rest zu geben. Als ich auf dem Weg zur Toilette auf den Flur trete, sehe ich, wie Drummond wütend auf ein Zimmer deutet, in das Lufkin und Underhall eintreten sollen. Ich würde das Schlachtfest gern miterleben.

Zwanzig Minuten später sitzt Lufkin wieder im Zeugenstand. Für heute bin ich mit den Handbüchern fertig. Die Geschworenen können das Kleingedruckte lesen, wenn sie sich beraten.

«Nur noch ein paar kurze Fragen«, sage ich, lächelnd und erfrischt.»Wie viele Krankenversicherungspolicen hat Great Benefit 1991 ausgestellt?«

Wieder wirft Lufkin einen hilflosen Blick auf seine Anwälte. Diese Information hätte ich schon vor drei Wochen erhalten sollen.

«Ich weiß es nicht«, sagt er.

«Und wie viele Ansprüche wurden 1991 geltend gemacht?«

«Ich weiß es nicht.«

«Sie sind der Vizepräsident der Schadensabteilung, und Sie wissen es nicht?«

«Es ist eine große Gesellschaft.«

«Wie viele Ansprüche wurden 1991 abgewiesen?«

«Ich weiß es nicht.«

An diesem Punkt, genau auf das Stichwort hin, sagt Richter Kipler:»Der Zeuge wird für heute entlassen. Wir unterbrechen jetzt für ein paar Minuten. Die Geschworenen können nach Hause gehen.«

Er verabschiedet sich von den Geschworenen, dankt ihnen abermals und erteilt ihnen ihre Anweisungen. Einige von ihnen lächeln mir zu, als sie an unserem Tisch vorbeikommen. Wir warten, bis sie gegangen sind, und nachdem der letzte Geschworene durch die Doppeltür verschwunden ist, sagt Kipler:»Zurück zum Protokoll. Mr. Drummond, sowohl Sie als auch Ehre Mandanten haben sich der Mißachtung des Gerichts schuldig gemacht. Ich habe verfügt, daß diese Informationen dem Anwalt der Anklage bereits vor mehreren Wochen zugeleitet werden sollten. Das ist nicht geschehen. Sie sind überaus relevant und sachdienlich, und Sie haben sich geweigert, sie zu liefern. Sind Sie und Ihre Mandanten darauf vorbereitet, in Haft genommen zu werden, bis wir die betreffenden Informationen erhalten haben?«

Leo ist auf den Beinen, sehr erschöpft, er altert zusehends.»Euer Ehren, ich habe versucht, diese Informationen zu bekommen. Ich habe alles getan, was in meinen Kräften stand. «Armer Leo. Er versucht immer noch, Abschnitt U zu begreifen. Und in diesem Moment ist er völlig glaubwürdig. Sein Mandant hat gerade vor aller Welt deutlich gemacht, daß er Dokumente vor ihm geheimhält.

«Ist Mr. Keeley in der Nähe?«fragt Seine Ehren.

«Im Zeugenraum«, sagt Drummond.

«Holen Sie ihn her. «Sekunden später führt der Gerichtsdiener den Generaldirektor in den Gerichtssaal.

Dot hat genug. Sie muß auf die Toilette und eine Zigarette rauchen.

Kipler deutet auf den Zeugenstand. Er vereidigt Keeley selbst, dann fragt er ihn, ob es irgendwelche guten Gründe dafür gäbe, daß seine Gesellschaft sich geweigert hat, mir die angeforderte Information zur Verfügung zu stellen.

Er stottert, stammelt, versucht, die Schuld auf die Regionalbüros und die Zweigstellen zu schieben.

«Wissen Sie, was Mißachtung des Gerichts bedeutet?«fragt Kipler.

«Vielleicht, nun ja, nicht genau.«

«Es ist ganz simpel. Ihre Gesellschaft hat sich der Mißachtung des Gerichts schuldig gemacht, Mr. Keeley. Ich kann Ihre Gesellschaft entweder zu einer Geldstrafe verurteilen oder Sie, den Generaldirektor, ins Gefängnis stecken. Was ziehen Sie vor?«

Ich bin sicher, daß ein paar seiner Freunde schon einige Zeit in Bundesgefängnissen abgesessen haben, aber Keeley weiß, daß es hier um ein Gefängnis in der Innenstadt mit massenhaft Straßentypen geht.»Ich möchte wirklich nicht ins Gefängnis, Euer Ehren.«

«Das habe ich mir gedacht. Ich verurteile Great Benefit hiermit zu einer Geldstrafe von zehntausend Dollar, fällig und zahlbar an den Anwalt der Anklage bis morgen nachmittag fünf Uhr. Rufen Sie Ihre Zentrale an und weisen Sie sie an, einen Scheck per FedEx zu schicken, okay?«

Keeley kann nichts anderes tun als nicken.

«Außerdem, wenn diese Informationen nicht bis morgen früh um neun Uhr hierher gefaxt worden sind, werden Sie ins Stadtgefängnis von Memphis gebracht, wo Sie bleiben werden, bis das geschehen ist. Und während Sie dort sind, wird Ihre Gesellschaft pro Tag fünftausend Dollar Strafe zahlen.«

Kipler dreht sich um und zeigt mit dem Finger auf Drummond.»Ich habe Sie wegen dieser Dokumente wiederholt verwarnt, Mr. Drummond. Dieses Verhalten ist absolut unannehmbar.«

Er läßt wütend seinen Hammer niederfahren und verläßt den Saal.

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