Kapitel 41

Ich gehe jetzt mindestens dreimal pro Woche in das Einkaufszentrum, gewöhnlich um die Abendbrotzeit. Ich habe sogar meinen eigenen Tisch an der Promenade, dicht an dem Geländer oberhalb der Eisbahn, wo ich Hühner-Chow-mein von Wong's esse und den Kindern beim Schlittschuhlaufen zuschaue. Von dem Tisch aus kann ich auch den Fußgängerverkehr beobachten, ohne selbst gesehen zu werden. Sie ist nur einmal vorbeigekommen, allein und, wie es aussah, ohne ein bestimmtes Ziel. Ich wünsche mir nichts sehnlicher, als mich neben sie zu schieben, ihre Hand zu nehmen und sie in eine schicke kleine Boutique zu führen, wo wir uns zwischen den Gestellen verstecken und über irgend etwas reden können.

Dies ist das größte Einkaufszentrum im Umkreis von vielen Meilen, und zeitweise ist es ziemlich belebt. Ich beobachte die herumschlendernden Leute und frage mich, ob vielleicht einer von ihnen zu meiner Jury gehören könnte. Wie finde ich zweiundneunzig Leute aus einer Million heraus?

Unmöglich. Ich tue mein Bestes mit dem, was uns zur Verfügung steht. Deck und ich haben aus den von den Geschworenen ausgefüllten Fragebögen knappe Übersichtskarten gemacht, und ich habe ständig eine kleine Kollektion davon bei mir.

Heute abend sitze ich wieder hier an der Promenade, mustere die umherwandernden Leute, dann ziehe ich eine Karte aus meinem Stapel. R. C. Badley lautet der Name in Großbuchstaben. Alter siebenundvierzig, weiß, männlich, Klempner, High-School-Absolvent, wohnt in einem Vorort im Südosten von Memphis. Ich drehe die Karte um, um mich zu vergewissern, daß mein Gedächtnis perfekt funktioniert hat. Es hat. Ich habe das so oft getan, daß mir diese Leute inzwischen beinahe zuwider sind. Ihre Namen hängen an der Wand meines Büros, und ich stehe jeden Tag mindestens eine Stunde davor und betrachte, was ich bereits auswendig gelernt habe. Nächste

Karte: Lionel Barton, Alter vierundzwanzig, schwarz, männlich, Teilzeit-Collegestudent und gleichzeitig Verkäufer in einem Geschäft für Autoteile, lebt in einer Wohnung in SüdMemphis.

Mein idealer Geschworener ist jung und schwarz mit mindestens High-School-Abschluß. Es ist eine alte Weisheit, daß Schwarze die besseren Geschworenen für die Anklage sind. Sie fühlen mit den Underdogs und mißtrauen dem weißen Amerika der großen Firmen. Wer könnte es ihnen verübeln?

Was Männer kontra Frauen angeht, habe ich gemischte Gefühle. Die konventionelle Weisheit besagt, daß Frauen geiziger mit Geld umgehen, weil sie es sind, die die Knappheit der Familienfinanzen zu spüren bekommen. Bei ihnen ist weniger damit zu rechnen, daß sie sich für eine hohe Geldstrafe aussprechen, weil nichts von dem Geld ihrem persönlichen Scheckbuch zugute kommt. Aber Max Leuberg neigt dazu, in diesem Fall Frauen den Vorzug zu geben, weil sie Mütter sind. Sie werden die Trauer um den Verlust eines Kindes mitfühlen. Sie werden sich mit Dot identifizieren, und wenn ich meinen Job gut mache und sie richtig aufwühle, dann werden sie versuchen, Great Benefit den Garaus zu machen. Ich glaube, er hat recht.

Also, wenn es nach mir ginge, würde ich zwölf schwarze Frauen auswählen, möglichst alle mit Kindern.

Deck hat natürlich eine andere Theorie. Er hat Angst vor Schwarzen, weil Memphis rassisch so polarisiert ist. Weißer Ankläger, weißer Verteidiger, alle weiß bis auf den Richter. Weshalb sollten die Schwarzen Anteil nehmen?

Das ist ein perfektes Beispiel dafür, wie falsch es ist, die Geschworenen nach Rasse, Gesellschaftsschicht, Alter, Schulbildung zu klassifizieren. Tatsache ist, daß niemand vorhersagen kann, wie irgendeiner von ihnen bei der Beratung der Geschworenen reagieren wird. Ich habe sämtliche in der Fakultätsbibliothek vorhandenen Bücher über die Auswahl von Geschworenen gelesen und bin jetzt genauso unsicher wie vorher.

Es gibt nur einen Typ von Geschworenen, den ich in diesem Fall vermeiden muß: den weißen, männlichen leitenden Angestellten. Diese Burschen sind tödlich in Fällen, in denen es um Entschädigungssummen geht. Sie neigen dazu, bei den Beratungen das Kommando zu übernehmen. Sie sind gebildet, tatkräftig und methodisch und halten nicht viel von Prozeßanwälten. Glücklicherweise sind sie gewöhnlich auch viel zu beschäftigt, um Geschworenenpflichten nachzukommen. Ich habe nur fünf auf meiner Liste ausfindig machen körnen, und ich bin sicher, jeder von ihnen wird ein Dutzend Gründe für seine Entlassung vorbringen. Unter anderen Umständen würde Kipler ihnen die Hölle heiß machen. Aber ich habe den starken Verdacht, daß auch Kipler diese Burschen nicht will. Ich würde mein überwältigendes Nettoeinkommen darauf verwetten, daß Seine Ehren schwarze Gesichter auf den Geschworenenbänken sehen möchte.

Ich bin sicher, daß mir, wenn ich in diesem Geschäft bleibe, eines Tages ein noch schmutzigerer Trick einfallen wird, aber im Augenblick kann ich mir nur schwer einen vorstellen. Ich habe eine Woche darüber nachgedacht und schließlich vor ein paar Tagen mit Deck darüber gesprochen. Er war sofort Feuer und Flamme.

Wenn Drummond und seine Bande mein Telefon abhören wollen, dann sollen sie auch etwas zu hören bekommen. Wir warten bis zum späten Nachmittag. Ich bin im Büro, Deck um die Ecke in einer Telefonzelle. Er ruft mich an. Wir haben dies mehrere Male geprobt, haben sogar einen Text.

«Rudy, Deck hier. Ich habe endlich Dean Goodlow gefunden.«

Goodlow ist weiß, männlich, Alter neununddreißig, College-Absolvent, besitzt eine Teppichreinigung. Er ist eine Null auf unserer Skala, eindeutig ein Geschworener, den wir nicht wollen. Drummond würde ihn mit Freuden nehmen.

«Wo?«frage ich.

«Habe ihn in seinem Büro erwischt. Er war eine Woche nicht in der Stadt. Wirklich ein netter Mann. Wir haben uns gründlich in ihm getäuscht. Er sagt, er kann Versicherungsgesellschaften nicht ausstehen, streitet sich ständig mit ihnen herum; er findet, sie müßten strengeren Vorschriften unterworfen werden. Ich habe ihm einiges über unseren Fall erzählt, und er ist buchstäblich in die Luft gegangen. Er wird einen großartigen Geschworenen abgeben. «Decks Bericht klingt ein bißchen unnatürlich, aber für den Uneingeweihten hört er sich glaubhaft an. Vermutlich liest er den Text ab.

«Was für eine Überraschung«, sage ich laut und deutlich ins Telefon. Ich will, daß Drummond keine Silbe entgeht.

Der Gedanke, daß Anwälte vor dem Auswahlprozeß mit potentiellen Geschworenen reden, ist unvorstellbar. Deck und ich haben uns Sorgen gemacht; unsere Kriegslist könnte so absurd sein, daß Drummond wissen würde, daß wir nur eine Schau abziehen. Aber wer wäre auch auf die Idee gekommen, daß ein Anwalt seinen Gegner mit Hilfe illegaler Abhörgeräte belauschen könnte? Außerdem sind wir zu dem Schluß gekommen, daß Drummond auf unser Spielchen hereinfallen würde, weil ich nur ein dämlicher Anfänger bin und Deck nichts ist als ein bescheidener Hilfsanwalt. Wir wissen es einfach nicht besser.

«War ihm unbehaglich zumute bei dem Gespräch?«

«Ein bißchen. Ich habe ihm erzählt, was ich auch den anderen gesagt habe. Ich bin nur ein Ermittler, kein Anwalt. Und wenn sie niemandem von unserer Unterhaltung erzählen, bekommt auch niemand Ärger.«

«Gut. Und Sie glauben, Goodlow steht auf unserer Seite?«

«Ganz bestimmt. Wir müssen ihn haben.«

Ich raschele neben dem Telefon mit ein paar Papieren.»Wen haben Sie noch auf Ihrer Liste?«frage ich laut.

«Einen Moment. «Ich kann hören, wie Deck gleichfalls mit Papier raschelt. Wir sind ein tolles Team.»Ich habe mit Dermot King, Jan DeCell, Lawrence Perotti, Hilda Hinds und RaTilda Browning gesprochen.«

Mit Ausnahme von RaTilda Browning sind das Weiße, die wir nicht in der Jury haben wollen. Wenn wir ihre Namen genügend einschwärzen, wird Drummond alles tun, um sie auszuschließen.

«Was ist mit Dermot King?«frage ich.

«Solide. Mußte einmal einen Versicherungsvertreter aus dem Haus werfen. Ich würde ihm eine Neun geben.«

«Und mit Perotti?«

«Toller Mann. Konnte einfach nicht glauben, daß eine Versicherungsgesellschaft tatsächlich einen Menschen umbringen kann. Er ist auf unserer Seite.«

«Jan DeCell?«

Weiteres Papierrascheln.»Einen Moment. Eine sehr nette Dame, die nicht viel reden wollte. Ich glaube, sie hatte Angst, es wäre nicht Rechtens oder so etwas. Wir haben uns über Versicherungsgesellschaften unterhalten, und ich habe ihr erzählt, daß Great Benefit vierhundert Millionen schwer ist. Ich glaube, sie wird für uns sein. Habe ihr eine Fünf gegeben.«

Es ist schwer, nicht laut herauszulachen. Ich drücke das Telefon fester ans Ohr.

«Ra Tilda Browning?«

«Radikale Schwarze, für Weiße nutzlos. Sie hat mich aufgefordert, aus ihrem Büro zu verschwinden, arbeitet in einer schwarzen Bank. Sie würde uns keinen roten Heller geben.«

Eine lange Pause, während Deck mit Papieren raschelt.»Wie steht es bei Ihnen?«fragt er.

«Vor ungefähr einer Stunde habe ich Esther Samuelson zu Hause erwischt. Sehr nette Dame, Anfang Sechzig. Wir haben uns ausführlich über Dot unterhalten und darüber, wie grauenhaft es ist, ein Kind zu verlieren. Sie steht auf unserer Seite.«

Esther Samuelsons verstorbener Mann war viele Jahre lang Direktor der Handelskammer. Das hat mir Marvin Shankle erzählt. Ich kann mir die Art von Prozeß nicht vorstellen, den ich mit ihr in der Jury fuhren möchte. Sie würde alles tun, was Drummond will.

«Dann habe ich Nathan Butts in seinem Büro angetroffen. Er war ein wenig überrascht, als er erfuhr, daß ich einer der an diesem Fall beteiligten Anwälte bin, aber dann hat er sich beruhigt. Er haßt Versicherungsgesellschaften.«

Wenn Drummonds Herz jetzt immer noch schlägt, dann nur noch ganz schwach. Die Vorstellung, daß ich, der Anwalt, und nicht nur mein Ermittler, auf den Busch klopfe und die Fakten des Falls mit potentiellen Geschworenen erörtere, reicht wahrscheinlich aus, um bei ihm eine Arterie platzen zu lassen. Aber inzwischen dürfte ihm klargeworden sein, daß er absolut nichts dagegen unternehmen kann. Jede Reaktion seinerseits würde die Tatsache offenbaren, daß er meine Telefone abhört. Dafür würde er sofort aus der Anwaltskammer ausgeschlossen werden. Und vermutlich außerdem angeklagt.

Ihm bleibt keine andere Möglichkeit, als den Mund zu halten und zu versuchen, diese Leute, mit deren Namen wir herumwerfen, zu meiden.

«Ich habe noch ein paar auf der Liste«, sage ich.»Lassen Sie uns weitermachen bis gegen zehn, dann treffen wir uns hier.«

«Okay«, sagt Deck erschöpft, jetzt wesentlich besser schauspielernd.

Wir legen auf, und eine Viertelstunde später läutet das Telefon. Eine vage vertraute Stimme sagt:»Rudy Baylor, bitte.«

«Am Apparat.«

«Hier ist Billy Porter. Sie waren heute im Laden.«

Billy Porter ist ein Weißer, trägt bei der Arbeit eine Krawatte und leitet eine Filiale von Western Auto. Auf unserer Skala von eins bis zehn steht er weit unten. Wir wollen ihn nicht.

«Ja, Mr. Porter. Danke für Ihren Anruf.«

In Wirklichkeit ist es Butch. Er hat sich bereit erklärt, uns mit einem kurzen Auftritt zu helfen. Er ist mit Deck zusammen, und die beiden drängen sich vermutlich in der Telefonzelle eng aneinander, um warm zu bleiben. Butch, immer der absolute Profi, war bei Western Auto und hat mit Porter über einen Satz Reifen gesprochen. Jetzt versucht er, Porters Stimme zu imitieren. Sie werden sich nie wiedersehen.

«Was wollen Sie?«fragt Billy / Butch. Wir haben ihm gesagt, er soll mürrisch wirken und dann rasch zur Sache kommen.

«Ja, also, es geht um den Prozeß, Sie wissen schon, den, für den Sie eine Vorladung erhalten haben. Ich bin einer der Anwälte.«

«Ist das hier legal?«

«Natürlich ist es legal, Sie dürfen nur mit niemandem darüber reden. Ich vertrete diese kleine alte Dame, deren Sohn von einer Gesellschaft namens Great Benefit Life Insurance umgebracht wurde.«

«Umgebracht?«

«Ja. Der Junge brauchte eine Operation, aber die Gesellschaft hat sich zu Unrecht geweigert, die Behandlung zu bezahlen. Er ist vor ungefähr drei Monaten an Leukämie gestorben. Deshalb haben wir geklagt. Wir brauchen unbedingt Ihre Hilfe, Mr. Porter.«

«Das hört sich ja entsetzlich an.«

«Der schlimmste Fall, der mir je begegnet ist, und ich habe schon eine Menge hinter mir. Und sie sind ganz eindeutig schuldig, Mr. Porter. Sie haben mir bereits zweihunderttausend Dollar als Vergleich angeboten, aber wir verlangen wesentlich mehr. Wir verlangen eine hohe Geldstrafe, und wir brauchen Ihre Hilfe.«

«Werde ich ausgewählt werden? Ich kann hier einfach nicht weg.«

«Wir wählen zwölf von ungefähr siebzig aus, mehr kann ich Ihnen nicht sagen. Bitte, versuchen Sie, uns zu helfen.«

«Okay. Ich werde tun, was ich kann. Aber ich möchte nicht als Geschworener auftreten, das verstehen Sie doch.«

«Ja, Sir. Vielen Dank.«

Deck kommt ins Büro, wo wir ein Sandwich essen. Im Laufe des Abends verschwindet er noch zweimal und ruft mich an. Wir werfen mit weiteren Namen um uns, denen von Leuten, mit denen wir vorgeblich gesprochen haben und die jetzt alle überaus begierig darauf sind, Great Benefit für seine Missetaten zu bestrafen. Wir erwecken den Eindruck, als wären wir beide unterwegs, klopften an Türen, bäten um Unterstützung, verletzten genügend ethische Kanons, um mich auf Lebenszeit aus der Anwaltskammer auszuschließen. Und diese entsetzliche Niedertracht findet am Abend vor dem Tage statt, an dem sich die Geschworenen versammeln, um befragt zu werden!

Es ist uns gelungen, auf ungefähr ein Drittel von den gut sechzig Leuten, die an der nächsten Runde teilnehmen und zur Befragung erscheinen werden, schwere Zweifel zu werfen. Und wir haben uns ganz bewußt diejenigen ausgesucht, vor denen wir uns am meisten fürchten.

Ich wette, Leo Drummond wird heute nacht kein Auge zutun.

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