Kapitel 20

Wir treffen am frühen Mittwochmorgen im Zwischengeschoß des Hotels ein und werden gekonnt in einen Ballsaal dirigiert, der größer ist als ein Fußballfeld. Wir werden eingetragen und katalogisiert, die Gebühr mußte schon vor langer Zeit entrichtet werden. Es gibt ein bißchen nervöses Geplapper, aber im Grunde sind alle nur mit sich selbst beschäftigt. Wir schlottern vor Angst.

Von den ungefähr zweihundert Leuten, die jetzt das Anwaltsexamen ablegen wollen, hat mindestens die Hälfte im vorigen Monat an der Memphis State graduiert. Darunter auch meine Freunde und Feinde. Booker läßt sich an einem weit von mir entfernten Tisch nieder. Wir haben beschlossen, nicht beisammenzusitzen. Sara Plankmore und S, Todd Wilcox sitzen in einer Ecke an der anderen Seite des Raumes. Sie haben letzten Samstag geheiratet. Hübsche Flitterwochen. Er ist ein gutaussehender Typ mit geschniegeltem Outfit und aristokratischem Getue. Hoffentlich fällt er durch. Und Sara auch.

Ich spüre wieder die gleiche Konkurrenz wie in den ersten Wochen unseres Studiums, als wir uns alle ungeheuer dafür interessiert haben, wie denn die anderen wohl so vorankamen. Ich nicke ein paar Bekannten zu und hoffe insgeheim, daß sie durchfallen, weil sie mir insgeheim dasselbe wünschen. So ist das nun mal in unserem Beruf.

Nachdem sich alle an weit auseinander stehenden Klapptischen niedergelassen haben, erhalten wir zehn Minuten lang Instruktionen. Dann werden, um genau acht Uhr, die Examensunterlagen verteilt.

Das Examen beginnt mit einem Abschnitt, der Multi-State genannt wird, eine endlose Reihe von Fragen über die allen Staaten gemeinsamen Gesetze, bei denen man die richtige Antwort ankreuzen muß. Ich kann unmöglich sagen, wie gut ich vorbereitet bin. Der Vormittag zieht sich hin. Zum Lunch holen Booker und ich uns etwas vom Hotelbuffet, reden aber kein Wort über die Prüfung.

Zum Abendessen gibt es Truthahnsandwich mit Miss Birdie auf der Terrasse. Um neun liege ich im Bett.

Das Examen endet sang- und klanglos am Freitag nachmittag um fünf. Wir sind alle zu erschöpft, um zu feiern. Sie sammeln zum letztenmal unsere Papiere ein und sagen uns, wir könnten gehen. Jemand schlägt vor, irgendwo ein paar kalte Drinks zu nehmen, um der alten Zeiten willen, also treffen wir uns zu sechst auf ein paar Runden bei Yogi's. Prince ist heute abend nicht da, und auch Bruiser ist nicht in Sicht. Eine ziemliche Erleichterung, denn ich möchte nur ungern zusammen mit meinem Boß gesehen werden. Zumal von meinen Freunden. Es würde nur einen Haufen Fragen über unsere Kanzlei geben. Nur ein Jahr, okay? Dann habe ich einen besseren Job.

Wir haben schon im ersten Semester gelernt, daß man am besten nie über Prüfungen redet. Wenn man seine Aufzeichnungen mit anderen vergleicht, ist man höchstens entsetzt, was man alles falsch gemacht hat.

Wir essen Pizza und trinken ein paar Bier, sind aber zu erledigt, um richtig einen drauf zu machen. Booker sagt mir auf der Heimfahrt, daß das Examen ihn regelrecht krank gemacht hat. Er ist sicher, daß er es verbockt hat.

Ich schlafe zwölf Stunden. Ich habe Miss Birdie versprochen, an diesem Tag in ihrem Garten zu arbeiten, wenn es nicht regnet, und als ich schließlich aufwache, ist meine Wohnung von Sonnenlicht erfüllt. Es ist heiß, schwül, stickig, der typische Juli in Memphis. Nachdem ich drei Tage lang in einem fensterlosen Raum Augen, Phantasie und Gedächtnis strapaziert habe, bin ich jetzt bereit für ein bißchen Schweiß und Schmutz. Aber vorher ist noch etwas anderes zu tun. Ich verlasse ungesehen das Haus, und zwanzig Minuten später parke ich auf der Auffahrt der Blacks.

Donny Ray wartet auf der Vorderveranda, in Jeans, Turnschuhen, dunklen Socken, weißem T-Shirt und einer Baseballmütze, die über seinem eingefallenen Gesicht viel zu groß wirkt. Er geht am Stock, braucht aber trotzdem eine stützende Hand unter seinem zerbrechlichen Arm. Dot und ich führen ihn den schmalen Gehsteig entlang und bugsieren ihn behutsam auf den Beifahrersitz meines Wagens. Sie ist erleichtert, ihn für ein paar Stunden aus dem Haus zu haben, sein erster Ausflug seit Monaten, erzählt sie mir. Jetzt ist sie allein mit Buddy und den Katzen.

Donny Ray sitzt mit dem Stock zwischen den Beinen und stützt auf der Fahrt durch die Stadt sein Kinn darauf. Nachdem er mir einmal gedankt hat, sagt er nicht viel.

Er hat vor drei Jahren die High-School im Alter von neunzehn Jahren abgeschlossen, Ron, sein Zwillingsbruder, schon ein Jahr vor ihm. Er hat nie versucht, auf ein College zu gehen. Zwei Jahre hat er als Verkäufer in einem Supermarkt gearbeitet, aber nach einem Raubüberfall aufgehört. Die Liste seiner Anstellungen ist kurz, und er ist nie von zu Hause fortgegangen. Nach den Unterlagen, die ich bisher durchgesehen habe, hat Donny Ray nie mehr als den Mindestlohn verdient.

Ron dagegen hat sich durchs College hindurchgekämpft und studiert jetzt in Houston. Auch er ist ledig und war nie verheiratet. Nach Memphis kommt er nur selten. Die Jungen haben sich nie nahegestanden, hat Dot gesagt. Donny Ray ist im Haus geblieben, hat Bücher gelesen und Modellflugzeuge gebaut. Ron fuhr Rad und hat einmal einer Straßenbande von Zwölfjährigen angehört. Sie waren gute Jungen, hat Dot mir versichert. In der Akte ist eindeutig und unmißverständlich dokumentiert, daß Rons Knochenmark mit dem von Donny Ray völlig identisch ist und daß er ein idealer Spender gewesen wäre.

Wir ruckein in meinem ramponierten kleinen Wagen dahin. Er schaut starr geradeaus, der Schirm der Mütze ist ihm tief in die Stirn gerutscht, und er redet nur, wenn er angesprochen wird. Wir parken neben Miss Birdies Cadillac, und ich erkläre ihm, daß ich hier in diesem hübschen Haus in diesem exklusiven Stadtteil lebe. Ich weiß nicht, ob er beeindruckt ist, aber ich bezweifle es. Ich helfe ihm um den Mulch herum zu einer schattigen Stelle auf der Veranda.

Miss Birdie weiß, daß ich ihn herbringe, und sie wartet be-reits mit frischer Limonade auf uns. Ich mache sie miteinander bekannt, dann reißt sie rasch die Kontrolle über diesen Besuch an sich. Kekse? Zwieback? Etwas zu lesen? Sie packt Kissen rings um ihn herum, wobei sie die ganze Zeit glücklich vor sich hin zwitschert. Sie hat ein Herz aus Gold. Ich habe ihr erzählt, daß ich Donny Rays Eltern in Cypress Gardens kennengelernt habe, also fühlt sie sich ihm besonders nahe. Eines ihrer Schäfchen.

Sobald er auf einem kühlen Plätzchen, in Sicherheit vor der Sonne, die seine kreidebleiche Haut verbrennen würde, behaglich untergebracht ist, erklärt Miss Birdie, es wäre Zeit, mit der Arbeit zu beginnen. Sie macht eine dramatische Pause, läßt den Blick über den Garten schweifen, kratzt sich am Kinn, als wäre sie tief in Gedanken versunken, und läßt dann den Blick wie zufällig zum Mulchberg hinübergleiten. Als kleine Vorführung für Donny Ray erteilt sie mir ein paar Anweisungen, und ich mache mich ans Werk.

Ich bin bald schweißgebadet, aber diesmal genieße ich jede Minute. Während der ersten Stunde redet Miss Birdie ununterbrochen von der Schwüle, dann beschließt sie, daß wir uns mit den Blumen um die Terrasse herum beschäftigen wollen, wo es kühler ist. Ich kann hören, wie sie pausenlos auf Donny Ray einredet, der wenig sagt, aber die frische Luft genießt. Bei einer Fahrt mit der Schubkarre sehe ich, daß sie Dame spielen. Bei einer weiteren sitzt sie dicht neben ihm und deutet auf Fotos in einem Buch.

Ich habe viele Male daran gedacht, Miss Birdie zu fragen, ob sie vielleicht Donny Ray helfen würde. Ich bin sicher, diese reizende Frau würde einen Scheck für die Transplantation ausschreiben, wenn sie das Geld tatsächlich hat. Aber aus zwei Gründen habe ich es nicht getan. Erstens ist es für die Transplantation bereits zu spät. Und zweitens: Es würde Miss Birdie demütigen, wenn sie das Geld nicht hat. Sie ist ohnehin schon argwöhnisch genug wegen meines Interesses an ihrem Geld. Ich kann sie um nichts davon bitten.

Kurz nachdem die akute Leukämie bei Donny Ray diagnostiziert worden war, wurde ein schwächlicher Versuch unternommen, das Geld für die Transplantation zusammenzubrin-gen. Dot rief ein paar Freunde zu Hilfe, und sie verteilten Donny Rays Bild auf Milchpackungen über Cafes und Supermärkte in ganz Nord-Memphis. Viel ist nicht dabei herausgekommen, hat sie gesagt. Sie haben einen kleinen Saal gemietet und eine große Party mit gebratenem Wels und Country Music gegeben und sogar einen Diskjockey engagiert, um die Platten aufzulegen. Am Schluß mußten sie noch achtundzwanzig Dollar draufzahlen.

Die erste Chemotherapie kostete viertausend Dollar, von denen St. Peter's zwei Drittel übernahm. Den Rest haben sie zusammengekratzt. Fünf Monate später war die Leukämie wieder voll aufgeblüht.

Während ich schaufele und schleppe und schwitze, konzentriere ich meine gesamte mentale Energie darauf, Great Benefit zu hassen. Dazu gehört nicht viel, aber wenn der Krieg mit Tinley Britt erst einmal losgebrochen ist, muß ich vor Selbstgerechtigkeit und Empörung nur so strotzen, wenn ich bis zum Ende durchhalten will.

Der Lunch ist eine angenehme Überraschung. Miss Birdie hat Hühnersuppe gekocht, nicht gerade das, was ich mir an einem Tag wie diesem gewünscht hätte, aber eine willkommene Abwechslung zu den Truthahnsandwiches. Donny Ray ißt einen halben Teller, dann sagt er, er müsse ein bißchen schlafen. Er würde gern die Hängematte ausprobieren. Wir führen ihn über den Rasen und helfen ihm hinein. Obwohl es über dreißig Grad warm ist, bittet er um eine Decke.

Wir sitzen im Schatten, trinken noch mehr Limonade und unterhalten uns darüber, wie schlecht es ihm geht. Ich erzähle ihr ein wenig über die Klage gegen Great Benefit und halte mich besonders lange bei der Tatsache auf, daß ich die Firma auf zehn Millionen Dollar verklagt habe. Sie stellt ein paar allgemeine Fragen über das Anwaltsexamen, dann verschwindet sie im Haus.

Als sie zurückkehrt, gibt sie mir einen Brief von einem Anwalt in Atlanta. Der Name ist mir bekannt.

«Können Sie mir das erklären?«fragt sie und baut sich mit den Händen auf den Hüften vor mir auf.

Der Anwalt hat einen Brief an Miss Birdie geschrieben und eine Kopie des Schreibens beigelegt, das ich an ihn gerichtet habe. In meinem Schreiben hatte ich erklärt, daß ich Miss Birdie Birdsong vertrete, daß sie mich gebeten habe, für sie ein neues Testament aufzusetzen, und daß ich Informationen brauchte über den Nachlaß ihres verstorbenen Ehemannes. In seinem Brief an sie fragt er nur, ob er mir irgendwelche Informationen zukommen lassen darf. Es hört sich ziemlich gleichgültig an, so, als befolgte er lediglich Anweisungen.

«Hier steht es schwarz auf weiß«, sage ich.»Ich bin Ihr Anwalt. Ich versuche, mir Informationen zu beschaffen.«

«Sie haben mir nicht gesagt, daß Sie vorhatten, in Atlanta herumzuschnüffeln.«

«Was haben Sie dagegen einzuwenden? Was ist dort versteckt, Miss Birdie? Weshalb ist das so geheim?«

«Der Richter hat die Akte versiegelt«, sagt sie mit einem Achselzucken, als wäre damit der Fall erledigt.

«Was steht in der Akte?«

«Ein Haufen Blödsinn.«

«Über Sie?«

«Großer Gott, nein!«

«Okay. Über wen sonst?«

«Tonys Angehörige. Sein Bruder war ungeheuer reich, unten in Florida, hatte mehrere Frauen und einen Haufen Kinder. Die ganze Familie war verrückt. Es gab ein großes Hickhack über seine Testamente, vier Stück, glaube ich. Ich weiß nicht viel davon, aber ich habe einmal gehört, daß die Anwälte, als alles vorbei war, sechs Millionen Dollar kassiert haben. Etwas von dem Geld ist Tony zugefallen, der gerade noch lange genug gelebt hat, um es nach den in Florida gültigen Gesetzen zu erben. Tony hat nicht einmal davon erfahren, weil er so kurz darauf selber gestorben ist. Hat nichts hinterlassen außer einer Ehefrau. Mir. Das ist alles, was ich weiß.«

Es ist unwichtig, wie sie das Geld bekommen hat. Aber es wäre hübsch zu wissen, wieviel sie geerbt hat.»Möchten Sie über Ihr Testament reden?«frage ich.

«Nein. Später«, sagt sie und greift nach ihren Gartenhandschuhen.»Gehen wir wieder an die Arbeit.«

Stunden später sitze ich mit Dot und Donny Ray auf der mit Unkraut bewachsenen Terrasse vor ihrer Küche. Buddy ist im Bett, Gott sei Dank. Donny Ray ist erschöpft von seinem Tag bei Miss Birdie.

Es ist ein Samstagabend in den Vororten, und in der stickigen Luft liegt der Geruch nach Holzkohle und gegrilltem Fleisch. Die Stimmen von Gartenköchen und ihren Gästen dringen über Holzzäune und säuberlich beschnittene Hecken zu uns herüber.

Es ist leichter, dazusitzen und zuzuhören, als dazusitzen und zu reden. Dot zieht es vor, zu rauchen und ihren koffeinfreien Instantkaffee zu trinken und hin und wieder ein nutzloses Bröckchen Klatsch über einen ihrer Nachbarn von sich zu geben. Oder über einen der Hunde der Nachbarn. Der Rentner nebenan hat vorige Woche beim Arbeiten mit einer Stichsäge einen Finger verloren, und das erwähnt sie nicht weniger als dreimal.

Es ist mir egal. Ich kann stundenlang dasitzen und zuhören. Mein Geist ist immer noch vom Anwaltsexamen benommen. Es gehört nicht viel dazu, mich zu unterhalten. Und wenn es mir gelingt, die Juristerei zu vergessen, dann ist da immer noch Kelly, mit der sich mein Denken beschäftigen kann. Ich muß mir noch etwas einfallen lassen, wie ich mich mit ihr in Verbindung setzen kann, ohne ihr zu schaden. Aber ich werde es tun. Laßt mir nur ein bißchen Zeit.

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