Kapitel 48

Lange nachdem die Geschworenen gegangen sind und lange nachdem Drummond und seine Mannschaft sich eilig auf den Weg zu ihren Büros aufgemacht haben, vermutlich, um ein weiteres Mal hektisch darüber zu debattieren, was denn nun schiefgelaufen ist, sitzen wir im Gerichtssaal am Tisch der Anklage und unterhalten uns über morgen. Cooper Jackson und die beiden Anwälte aus Raleigh, Hurley und Grunfeld, bemühen sich, mir nicht allzu viele unerbetene Ratschläge zu erteilen, aber mir macht es nichts aus, ihre Ansichten zu hören. Alle wissen, daß dies mein erster Prozeß ist. Sie scheinen beeindruckt von der Arbeit, die ich geleistet habe. Ich bin müde, immer noch ziemlich nervös und sehr realistisch, was das Geschehene angeht. Ich hatte einen wundervollen Tatbestand, einen niederträchtigen, aber reichen Beklagten, einen unglaublich wohlwollenden Richter — ein Glücksfall, nachdem ich es zuerst mit einem anderen zu tun hatte. Ich habe außerdem eine tolle Jury; aber die muß ihre Arbeit erst noch leisten.

Künftige Prozesse können nur schlechter ausgehen, sagen sie. Sie sind überzeugt, daß ein siebenstelliges Urteil herauskommen wird. Jackson hat zwölf Jahre lang Fälle verhandelt, bevor er sein erstes Eme-Million-Dollar-Urteil erreichte.

Sie erzählen Kriegsgeschichten, um mich zuversichtlich zu stimmen. Es ist eine angenehme Art, den Nachmittag zu verbringen. Deck und ich werden die Nacht durcharbeiten, aber im Augenblick genieße ich den Trost verwandter Seelen, die sich ehrlich wünschen, daß ich Great Benefit einen gewaltigen Denkzettel verpasse.

Jackson ist etwas bestürzt über Neuigkeiten aus Florida. Ein Anwalt dort konnte die Zeit nicht abwarten und hat heute morgen vier Klagen gegen Great Benefit eingereicht. Sie glaubten, der Mann würde sich ihrer konzertierten Aktion anschließen, aber offensichtlich hat ihn die Habgier gepackt. Nach dem heutigen Stand der Dinge vertreten diese drei Anwalte neunzehn Ansprüche gegen Great Benefit, und sie haben vor, die Klagen Anfang nächster Woche einzureichen.

Sie wollen mich aufmuntern. Sie wollen uns ein gutes Abendessen spendieren, aber wir müssen arbeiten. Das letzte, was ich heute abend gebrauchen kann, ist ein schweres Essen und Wein und Drinks hinterher.

Also essen wir im Büro ein paar Sandwiches und trinken Limonade. Ich deponiere Deck auf einem Stuhl in meinem Büro und probe mein Schlußplädoyer für die Geschworenen. Ich habe so viele Versionen davon memoriert, daß ich sie jetzt alle durcheinanderbringe. Ich benutze eine kleine Tafel und notiere die entscheidenden Zahlen. Ich bitte um Fairneß und fordere gleichzeitig eine horrende Geldsumme. Deck unterbricht mich häufig, und wir diskutieren wie Schulkinder.

Keiner von uns beiden hat je ein Schlußplädoyer vor einer Jury gehalten, aber er hat mehr gehört als ich, also ist er der Experte. Es gibt Augenblicke, in denen ich mir unbesiegbar vorkomme, regelrecht arrogant, weil ich es auf eine so phantastische Art bis hierher geschafft habe. Deck spürt diese Anmaßung und versetzt mir schnell einen Dämpfer. Er erinnert mich wiederholt daran, daß der Fall morgen früh immer noch gewonnen oder verloren werden kann.

Aber die meiste Zeit habe ich einfach Angst. Die Angst ist kontrollierbar, aber sie verläßt mich nie. Sie motiviert mich und spornt mich zum Weitermachen an, aber ich werde sehr glücklich sein, wenn ich sie los bin.

Gegen zehn schalten wir das Licht aus und fahren nach Hause. Ich trinke ein Bier als Einschlafhilfe, und es funktioniert. Irgendwann nach elf schlafe ich über den in meinem Kopf herumtosenden Erfolgsvisionen ein.

Kaum eine Stunde später läutet das Telefon. Es ist eine mir unbekannte Stimme, eine Frau, jung und sehr eindringlich.»Sie kennen mich nicht, aber ich bin eine Freundin von Kelly«, sagt sie fast füsternd.

«Was ist passiert?«frage ich und bin schlagartig wach.

«Kelly geht es nicht gut. Sie braucht Ihre Hilfe.«

«Was ist passiert?«frage ich noch einmal.

«Er hat sie wieder geschlagen. Kam betrunken nach Hause, das Übliche.«

«Wann?«Ich stehe im Dunkeln neben meinem Bett und versuche, den Lampenschalter zu finden.

«Gestern abend. Sie braucht Ihre Hilfe, Mr. Baylor.«

«Wo ist sie?«

«Hier bei mir. Nachdem die Polizei Cliff mitgenommen hatte, ist sie in eine Notfallklinik gefahren. Gott sei Dank ist nichts gebrochen. Ich habe sie dort abgeholt, und jetzt versteckt sie sich hier bei mir.«

«Wie schwer ist sie verletzt?«

«Es sieht ziemlich schlimm aus, aber keine gebrochenen Knochen. Schnittwunden und schwere Prellungen.«

Ich lasse mir ihren Namen und ihre Adresse geben, lege den Hörer auf und ziehe mich schnell an. Es ist eine große Wohnanlage, nicht weit von Kellys Wohnung entfernt, und ich fahre durch etliche Einbahnstraßen, bevor ich das richtige Gebäude gefunden habe.

Robin, die Freundin, öffnet die Tür bei vorgelegter Kette einen Spaltbreit, und ich muß mich ausweisen, bevor sie mich einläßt. Sie dankt mir, daß ich gekommen bin. Sie ist selbst noch sehr jung, vermutlich geschieden und für kaum mehr als den Mindestlohn arbeitend. Ich trete ins Wohnzimmer, einen kleinen Raum mit gemietetem Mobiliar. Kelly sitzt auf dem Sofa, mit einem Eisbeutel auf dem Kopf.

Ich kann nur vermuten, daß es die Frau ist, die ich kenne. Ihr linkes Auge ist vollständig zugeschwollen, die Haut darum herum verfärbt sich bereits blau. Über dem Auge sitzt ein Verband mit einem Blutfleck darauf. Beide Wangen sind geschwollen. Ihre Unterlippe ist aufgeplatzt und steht auf groteske Weise vor. Sie trägt ein langes T-Shirt, sonst nichts, und auf beiden Schenkeln und oberhalb der Knie zeigen sich große Quetschungen.

Ich beuge mich vor und küsse sie auf die Stirn, dann setze ich mich dicht vor ihr auf einen Schemel. Im rechten Auge ist bereits eine Träne.»Danke fürs Kommen«, murmelt sie. Wegen der verletzten Wangen und der aufgeplatzten Lippe kann sie kaum sprechen. Ich tätschele ihr sehr sanft das Knie. Sie streichelt meinen Handrücken.

Ich könnte ihn umbringen.

Robin, die neben ihr sitzt, sagt:»Sie sollte nicht sprechen, okay? Der Doktor hat gesagt, sowenig Bewegung wie möglich. Diesmal hat er seine Fäuste gebraucht. Er konnte den Baseballschläger nicht finden.«

«Wie ist es passiert?«frage ich Robin, sehe aber weiterhin Kelly an.

«Es war ein Kreditkartenstreit. Die Weihnachtsrechnungen mußten bezahlt werden. Er hatte eine Menge getrunken. Den Rest kennen Sie. «Der Bericht ist füssig, und ich vermute, daß Robin selbst schon einiges erlebt hat. Sie trägt keinen Ehering.»Sie streiten. Er gewinnt, wie gewöhnlich. Nachbarn rufen die Polizei. Er geht ins Gefängnis, sie geht zu einem Arzt. Möchten Sie eine Cola oder sonst etwas?«

«Nein, danke.«

«Ich habe sie gestern abend hierhergebracht, und heute morgen war ich mit ihr in einer Beratungsstelle für mißhandelte Frauen in der Innenstadt. Sie hat mit einem der Berater dort gesprochen, der ihr gesagt hat, was sie tun muß. Er hat ihr einen Haufen Broschüren gegeben. Sie liegen da drüben, falls Sie sie brauchen. Im Grunde läuft es darauf hinaus, daß sie die Scheidung einreichen und dann sofort verschwinden soll.«

«Ist sie fotografiert worden?«frage ich, immer noch ihr Knie streichelnd. Sie nickt. Jetzt sind auch aus dem zugeschwollenen Auge Tränen hervorgequollen und rinnen ihr über die Wangen.

«Ja, sie haben eine Menge Aufnahmen gemacht. Da ist noch einiges, was Sie nicht sehen können. Zeig es ihm, Kelly. Er ist dein Anwalt. Er muß es sehen.«

Mit Robins Hilfe kommt sie langsam auf die Beine, dreht mir den Rücken zu und hebt das T-Shirt bis über die Taille an. Es ist nichts darunter, nichts außer massiven Quetschungen auf ihrem Hinterteil und der Rückseite ihrer Beine. Das T-Shirt rutscht höher und enthüllt noch mehr Quetschungen auf ihrem Rücken. Das T-Shirt fällt herunter, und sie läßt sich vorsichtig wieder auf das Sofa nieder.

«Er hat sie mit einem Gürtel geschlagen«, erklärt Robin.»Hat sie über sein Knie gezwungen und dann auf sie eingeschlagen.«

«Haben Sie ein Kleenex?«frage ich Robin.

«Natürlich. «Sie gibt mir einen großen Karton, und ich tupfe Kelly sehr behutsam die Wangen ab.

«Was willst du jetzt tun, Kelly?«frage ich.

«Machen Sie Witze?«sagt Robin.»Sie muß die Scheidung einreichen. Wenn sie es nicht tut, bringt er sie um.«

«Ist das wahr? Reichen wir die Scheidung ein?«

Kelly nickt und sagt:»Ja. So schnell wie möglich.«

«Ich tue es gleich morgen früh.«

Sie drückt meine Hand und schließt das rechte Auge.

«Womit wir zum zweiten Problem kommen«, sagt Robin.»Hier kann sie nicht bleiben. Cliff ist heute morgen aus dem Gefängnis entlassen worden, und er hat angefangen, ihre Freundinnen anzurufen. Ich bin heute nicht zur Arbeit gegangen, was ich nicht noch einmal tun kann, und er hat mich gegen Mittag angerufen. Ich habe ihm gesagt, ich wüßte von nichts. Eine Stunde später hat er wieder angerufen und mich bedroht. Die arme Kelly hat nicht besonders viele Freundinnen, und es wird nicht lange dauern, bis er sie gefunden hat. Außerdem habe ich eine Mitbewohnerin; es geht einfach nicht.«

«Ich kann hier nicht bleiben«, sagt Kelly leise und mühsam.

«Also, wo willst du hin?«frage ich.

Robin hat bereits darüber nachgedacht.»Nun, der Berater, mit dem wir heute morgen gesprochen haben, hat uns von einem Heim für mißhandelte Frauen erzählt, einer Art geheimem Zufluchtsort, der weder beim County noch beim Staat offiziell registriert ist. Es ist ein Haus hier in der Stadt, dessen Adresse nur von einem zum anderen weitergegeben wird. Die Frauen sind dort sicher, weil ihre geliebten Ehemänner sie nicht finden können. Das Problem ist, es kostet hundert Dollar pro Tag, und sie kann nur eine Woche bleiben. Ich verdiene keine hundert Dollar pro Tag.«

«Möchtest du dorthin?«frage ich Kelly. Sie nickt unter Schmerzen.

«Gut. Ich bringe dich morgen hin.«

Robin seufzt erleichtert auf. Sie verschwindet in der Küche, um eine Karte mit der Adresse des Heims zu holen.

«Laß mich deine Zähne sehen«, sage ich zu Kelly.

Sie macht den Mund auf, soweit es ihr möglich ist, gerade genug, daß ich ihre Schneidezähne sehen kann.»Nichts gebrochen?«frage ich.

Sie schüttelt den Kopf. Ich berühre den Verband über ihrem zugeschwollenen Auge.»Wie viele Stiche?«

«Sechs.«

Ich beuge mich noch weiter vor und drücke ihre Hände.»So etwas wird nie wieder passieren, verstanden?«

Sie nickt und flüstert:»Versprichst du das?«

«Ich verspreche es.«

Robin kehrt auf ihren Platz neben Kelly zurück und gibt mir die Karte. Sie hat noch einen guten Rat.»Hören Sie, Mr. Baylor, Sie kennen Cliff nicht, aber ich kenne ihn. Er ist verrückt und verschlagen und unberechenbar, wenn er getrunken hat. Seien Sie bitte vorsichtig.«

«Machen Sie sich keine Sorgen.«

«Er könnte jetzt draußen stehen und dieses Haus beobachten.«

«Ich habe keine Angst. «Ich stehe auf und küsse Kelly abermals auf die Stirn.»Ich reiche morgen früh die Scheidung ein. Dann komme ich und hole dich ab. Ich stecke mitten in einem großen Prozeß, aber das geht vor.«

Robin bringt mich zur Tür, und wir danken uns gegenseitig. Die Tür wird hinter mir zugemacht, und ich lausche den Geräuschen von Kette, Schloß und Riegel.

Es ist fast ein Uhr. Die Luft ist klar und sehr kalt. Niemand lauert in den Schatten.

An Schlaf ist nicht mehr zu denken, also fahre ich ins Büro. Ich parke am Bordstein direkt unter meinem Fenster und renne zur Haustür des Gebäudes. Dies ist nachts alles andere als eine sichere Gegend.

Ich schließe die Tür hinter mir ab und gehe in mein Büro. So schrecklich die Umstände auch sein mögen, eine Scheidung ist im Grunde eine recht simple Angelegenheit, zumindest juristisch. Ich fange an zu tippen, eine Beschäftigung, die mir schwerfällt, aber der Zweck der Sache erleichtert die Arbeit. Ich bin fest davon überzeugt, daß ich in diesem Fall mithelfe, ein Leben zu retten.

Deck erscheint gegen sieben und weckt mich. Irgendwann nach vier bin ich auf meinem Stuhl eingeschlafen. Er sagt mir, daß ich müde und mitgenommen aussehe, und was ist aus der guten Nachtruhe geworden?

Ich erzähle ihm die Geschichte, und er reagiert sauer.»Sie haben die Nacht damit verbracht, an einer dämlichen Scheidung zu arbeiten? Und das, wo Sie in zwei Stunden Ihr Schlußplädoyer halten müssen?«

«Immer mit der Ruhe, Deck. Ich werde es schon hinkriegen.«

«Und wieso das Grinsen?«

«Wir werden Great Benefit in die Pfanne hauen.«

«Nein, das ist es nicht. Sie bekommen endlich die Frau, deshalb lächeln Sie.«

«Unsinn. Wo ist mein Kafee?«

Deck zuckt und zappelt. Er ist ein nervöses Wrack.»Ich hole ihn«, sagt er und verläßt mein Büro.

Die Scheidungsklage liegt auf meinem Tisch, fertig zum Einreichen. Ich werde einen Zusteller damit beauftragen, sie meinem Freund Cliff auszuhändigen, während er bei der Arbeit ist; sonst könnte er schwer aufzufinden sein. Die Klage enthält auch einen Antrag auf eine sofortige einstweilige Anordnung, sich von ihr fernzuhalten.

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