Deck liebt Herausforderungen, vor allem, wenn es darum geht, bei gefüsterten Telefongesprächen mit anonymen Maulwürfen Schmutz zutage zu fördern. Ich gebe ihm meine dürftigen Informationen über Kelly und Cliff Riker, und kaum eine Stunde später kommt er mit einem stolzen Grinsen in mein Büro geschlichen.
Er liest von seinen Notizen ab.»Kelly Riker wurde vor drei Tagen in St. Peter's eingeliefert, um Mitternacht, wie ich hinzufügen möchte, mit einer ganzen Reihe von Verletzungen. In einem anonymen Anruf bei der Polizei meldeten irgendwelche Nachbarn einen heftigen Streit in ihrer Wohnung. Die Polizisten fanden Kelly zusammengeschlagen auf einem Sofa im Wohnzimmer liegend vor. Cliff Riker war offensichtlich betrunken und völlig ausgerastet und wollte sich über die Polizisten ebenso hermachen wie vorher über seine Frau. Mit einem Softballschläger aus Aluminium, offenbar die Waffe seiner Wahl. Er wurde schnell überwältigt, der Körperverletzung beschuldigt, festgenommen und abgeführt. Sie wurde mit einer Ambulanz ins Krankenhaus gebracht. Sie machte der Polizei gegenüber eine kurze Aussage, derzufolge er nach einem Softballspiel betrunken nach Hause gekommen war; es kam zu einem dummen Wortwechsel, sie kämpften, er gewann. Sie sagte, er hätte sie zweimal mit dem Schläger auf den Knöchel geschlagen und zweimal mit der Faust ins Gesicht.«
Letzte Nacht konnte ich nicht schlafen. Ich dachte an Kelly Riker und ihre braunen Augen und ihre langen Beine; bei dem Gedanken, daß ihr Mann auf diese Weise über sie hergefallen ist, wird mir schlecht. Deck beobachtet, wie ich wohl reagiere, also versuche ich, mir nichts anmerken zu lassen.»Ihre Handgelenke waren verbunden«, sage ich, und Deck schlägt stolz eine andere Seite auf. Er hat noch einen Bericht von einer weiteren Quelle, und diese Information lag tief in den Akten der Rettungsabteilung der Feuerwehr von Memphis vergraben.
«Was die Handgelenke angeht, ist der Bericht ein bißchen vage. Irgendwann während der Attacke hat er ihre Handgelenke auf den Boden gedrückt und versucht, sie zu vergewaltigen. Aber er war wohl nicht in der Stimmung, in der er zu sein glaubte, vermutlich zuviel Bier. Sie war nackt, als die Polizisten sie fanden, nur mit einem Laken bedeckt. Weglaufen konnte sie nicht, weil ihr Knöchel zersplittert war.«
«Was ist mit ihm geschehen?«
«Verbrachte die Nacht im Gefängnis. Seine Eltern haben Kaution gestellt. Kommt in einer Woche vor Gericht, aber es wird nichts passieren.«
«Weshalb nicht?«
«Höchstwahrscheinlich wird sie die Anklage zurückziehen, sie werden sich küssen und wieder vertragen, und dann wird sie die Luft anhalten, bis er es wieder tut.«
«Woher wissen Sie…«
«Weil es schon einmal passiert ist. Vor acht Monaten bekam die Polizei denselben Anruf, dieselbe Schlägerei, alles dasselbe, nur daß sie mehr Glück hatte. Nur ein paar Prellungen. Offensichtlich war der Schläger nicht zur Hand gewesen. Die Polizisten trennen sie, geben ihnen ein paar gute Ratschläge, schließlich sind sie ja noch halbe Kinder, jung verheiratet, und sie küssen sich und vertragen sich wieder. Dann, vor drei Monaten, kommt der Schläger ins Spiel, und sie verbringt eine Woche in St. Peter's mit gebrochenen Rippen. Die Sache wird der zuständigen Abteilung bei der Polizei von Memphis übergeben, und die drängt auf eine strenge Bestrafung. Aber sie liebt den Jungen und weigert sich, gegen ihn auszusagen. Die ganze Sache wird fallengelassen. Kommt immer wieder vor.«
Ich brauche einen Moment, um das zu verdauen. Ich hatte häuslichen Ärger vermutet, aber nichts so Grauenhaftes. Wie kann ein Mann zu einem Aluminiumschläger greifen und damit auf seine Frau eindreschen?
«Kommt immer wieder vor«, wiederholt Deck, meine Gedanken lesend.
«Sonst noch etwas?«
«Nein. Aber halten Sie Abstand.«
«Danke«, sage ich. Ich fühle mich schwach und benommen.»Danke.«
Er gleitet von seinem Stuhl.»Keine Ursache.«
Natürlich hat Booker wesentlich intensiver für das Anwaltsexamen gelernt als ich. Und er macht sich meinetwegen Sorgen. Das ist typisch für ihn. Für diesen Nachmittag hat er einen Lernmarathon in einem Konferenzraum der Kanzlei Shankle angesetzt.
Ich komme, wie Booker mir eingeschärft hat, genau um zwölf Uhr dort an. Die Büros sind modern, es herrscht Hochbetrieb, und das seltsamste an der Kanzlei ist, daß alle Mitarbeiter schwarz sind. Ich habe in den letzten Monaten eine ganze Menge Kanzleien aufgesucht, und ich kann mich nur an eine schwarze Sekretärin und keinen schwarzen Anwalt erinnern. Hier dagegen ist kein weißes Gesicht zu sehen.
Booker führt mich kurz herum. Obwohl Lunchzeit ist, läuft der Betrieb auf vollen Touren. Computer, Kopierer, Faxgeräte, Telefone, Stimmen — auf den Fluren herrscht beträchtlicher Lärm. Die Sekretärinnen essen an ihren Schreibtischen, die ausnahmslos mit Stapeln von eiliger Arbeit bedeckt sind. Die Anwälte und Anwaltsgehilfen sind recht freundlich, aber sichtlich in Eile. Alle unterliegen einer strengen Kleiderordnung — dunkle Anzüge und weiße Hemden für die Männer, schlichte Kleider für die Frauen, keine grellen Farben, keine Hosen.
Vor meinen Augen rasen Bilder von der Kanzlei von J. Lyman Stone vorbei. Ich verdränge sie.
Booker erklärt, daß Marvin Shankle ein strenges Regiment führt. Er ist immer wie aus dem Ei gepellt, in jeder Hinsicht ein ausgemachter Profi, arbeitet praktisch Tag und Nacht und erwartet von seinen Partnern und Angestellten dasselbe.
Der Konferenzraum liegt in einer stillen Ecke. Ich war für den Lunch zuständig, also packe ich ein paar Sandwiches aus, die ich unterwegs bei Yogi's geholt habe. Kostenlose Sandwiches. Wir unterhalten uns höchstens fünf Minuten über Familie, Fakultät und Freunde. Er stellt ein paar Fragen über meinen Job, aber er weiß, daß er sich zurückhalten muß. Ich habe ihm schon alles erzählt. Fast alles. Ich möchte nicht, daß er etwas über meinen neuen Außenposten in St. Peter's oder meine Aktivitäten dort erfährt.
Booker ist so wahnsinnig anwaltlich geworden. Nach der zugestandenen Zeit für Geplauder schaut er auf die Uhr, dann ergeht er sich über den prachtvollen Nachmittag, den er für uns geplant hat. Wir werden sechs Stunden nonstop lernen, mit kurzen Kaffee- und Toilettenpausen, und um achtzehn Uhr müssen wir draußen sein, weil dann jemand anders diesen Raum braucht.
Von Viertel nach zwölf bis halb zwei repetieren wir die Bundeseinkommensteuergesetze. Booker besorgt den größten Teil des Redens, weil er ein besseres Gespür für Steuern hat. Wir arbeiten nach Examensrepetitorien, und das Steuerrecht ist genauso undurchdringlich wie im letzten Herbst.
Um halb zwei erlaubt er mir, auf die Toilette zu gehen und Kaffee zu holen, und dann übernehme ich bis halb drei den Ball und renne damit durch die Bundesvorschriften über die Beweisaufnahme. Ungeheuer aufregend. Bookers hohe Oktanzahl ist ansteckend, und wir nieten das langweilige Zeug nur so durch.
Bei der Zulassungsprüfung durchzufallen ist ein Alptraum für jeden jungen Anwaltsanwärter; aber ich bin mir sicher, daß es für Booker besonders katastrophal wäre. Für mich wäre es offen gestanden nicht das Ende der Welt. Es würde meinem Ego einen schweren Dämpfer versetzen, aber ich würde es verkraften. Ich würde angestrengter lernen und es nach sechs Monaten noch einmal versuchen. Bruiser würde es nicht kümmern, solange ich jeden Monat ein paar Mandanten an Land ziehe. Ein guter Fall mit schweren Verbrennungen, und Bruiser würde nicht einmal von mir erwarten, daß ich einen zweiten Versuch unternehme.
Aber Booker könnte in Schwierigkeiten geraten. Ich vermute, Mr. Marvin Shankle würde ihm das Leben zur Hölle machen, wenn er beim ersten Mal durchfällt. Fällt er zweimal durch, dann ist er vermutlich Geschichte.
Um genau halb drei betritt Marvin Shankle den Konferenzraum, und Booker stellt mich ihm vor. Er ist Anfang Fünfzig, sehr fit und elegant. Sein Haar ist um die Ohren herum leicht angegraut. Er hat eine sanfte Stimme, aber einen durchdringenden Blick. Marvin Shankle entgeht nichts. In Juristenkreisen im Süden ist er eine Legende, und ich fühle mich geehrt, ihn kennenzulernen.
Booker hat einen Vortrag arrangiert. Fast eine Stunde lang hören wir aufmerksam zu, wie Shankle uns mit der Rechtsprechung in Bürgerrechtsfragen im allgemeinen und der Diskriminierung bei der Vergabe von Arbeitsplätzen im besonderen vertraut macht. Wir machen uns Notizen, stellen ein paar Fragen, aber die meiste Zeit hören wir einfach nur zu.
Dann verschwindet er zu einer Konferenz, und wir verbringen die nächste halbe Stunde allein und ackern uns durch Antitrust-Gesetze und Kartellrecht. Um vier folgt eine weitere Lektion.
Unser nächster Redner ist Tyrone Kipler, ein Partner, der in Harvard studiert und sich auf Verfassungsrecht spezialisiert hat. Er geht die Sache sehr langsam an und kommt erst ein bißchen in Fahrt, als Booker in die Bresche springt und ihn mit Fragen zu überschütten beginnt. Ich ertappe mich dabei, wie ich nachts im Gebüsch lauere und mich mit einem überdimensionalen Baseballschläger wie ein Wilder über Cliff Riker hermache. Um mich wach zu halten, wandere ich um den Tisch herum, trinke becherweise Kaffee, versuche mich zu konzentrieren.
Gegen Ende der Stunde ist Kipler angeregt und gesprächig, und wir bombardieren ihn mit Fragen. Er bricht mitten im Satz ab, schaut nervös auf die Uhr und sagt, er müsse jetzt gehen. Irgendwo wartet ein Richter. Wir danken ihm für seine Zeit, und er stürmt davon.
«Wir haben noch eine Stunde«, sagt Booker. Es ist fünf Minuten nach fünf.»Was wollen wir tun?«
«Trinken wir ein Bier.«
«Tut mir leid. Entweder Sachenrecht oder Ethik.«
Ethik könnte mir nicht schaden, aber ich bin müde und nicht in der Stimmung, mich daran erinnern zu lassen, wie schwerwiegend meine Sünden sind.»Dann eben Sachenrecht.«
Booker schießt durch den Raum und holt die Bücher.
Es ist fast acht, als ich mich durch das Labyrinth der Korridore von St. Peter's schleppe und feststellen muß, daß an meinem Lieblingstisch ein Arzt und eine Schwester sitzen. Ich hole mir Kaffee und lasse mich in der Nähe nieder. Die Schwester ist sehr attraktiv und sehr bekümmert, und nach ihrem Geflüster zu urteilen, würde ich sagen, daß ihre Affäre auf der Kippe steht. Er ist sechzig mit implantiertem Haar und einem neuen Kinn. Sie ist dreißig und wird den Status einer Ehefrau offensichtlich nicht erreichen. Nur Geliebte auf Zeit. Ernstes Geflüster.
Ich bin nicht in Lernstimmung. Für einen Tag habe ich genug gehabt; das einzige, was mich motiviert, ist die Tatsache, daß Booker immer noch im Büro ist, arbeitet und sich auf das Examen vorbereitet.
Ein paar Minuten später verschwinden die Liebenden — sie in Tränen, er kalt und herzlos. Ich lasse mich an meinem Tisch nieder, breite meine Unterlagen aus und versuche zu lernen.
Und ich warte.
Kelly kommt ein paar Minuten nach zehn. Heute schiebt ein anderer Mann ihren Rollstuhl. Sie wirft mir einen kalten Blick zu und deutet auf einen Tisch in der Mitte des Raums. Er parkt sie dort. Ich sehe ihn an. Er sieht mich an.
Ich vermute, es ist Cliff. Er ist ungefähr so groß wie ich, nicht über einsachtzig, mit untersetztem Körper und Ansatz zum Bierbauch. Aber seine Schultern sind breit, und sein Bizeps wölbt sich unter einem T-Shirt, das viel zu eng ist und seine Arme offenbar zur Geltung bringen soll. Enge Jeans. Braunes, lockiges Haar, zu lang, um modisch zu sein. Massenhaft Haare auf den Unterarmen und im Gesicht. Cliff war der Junge, der sich in der achten Klasse schon rasieren mußte.
Er hat grünliche Augen und ein hübsches Gesicht, das wesentlich älter wirkt als neunzehn. Er geht um den Knöchel herum, den er mit einem Softballschläger gebrochen hat, zur Theke, um etwas zu trinken zu holen. Sie weiß, daß ich sie anstarre. Sie läßt den Blick ganz bewußt durch den Raum schweifen, und im letzten Moment zwinkert sie mir rasch zu. Ich verschütte beinahe meinen Kaffee.
Es gehört nicht viel Phantasie dazu, die Worte zu hören, die die beiden kürzlich gewechselt haben. Drohungen, Entschuldigungen, Bitten, noch mehr Drohungen. Sieht ganz so aus, als wäre ihnen heute abend nicht besonders wohl zumute. Sie machen beide ein ernstes Gesicht und nippen schweigend an ihren Getränken. Gelegentlich werden ein oder zwei Worte gewechselt, aber sie sind wie ein junges Pärchen in der Mitte seiner allwöchentlichen Schmollszene. Ein kurzer Satz hier, eine noch kürzere Erwiderung dort. Sie sehen sich nur an, wenn es unbedingt sein muß. Statt dessen mustern sie intensiv die Wände und den Fußboden. Ich verstecke mich hinter einem Buch.
Sie sitzt so, daß sie mich ansehen kann, ohne ertappt zu werden. Er wendet mir den Rücken zu. Von Zeit zu Zeit sieht er sich um, aber seine Bewegungen sind leicht vorhersehbar. Schon lange bevor sein Blick auf mich fällt, kann ich mir den Kopf kratzen und mich in meine Arbeit vertiefen.
Nachdem sie sich ungefähr zehn Minuten lang weitgehend angeschwiegen haben, sagt sie etwas, das eine hitzige Erwiderung auslöst. Ich wollte, ich könnte mithören. Er zittert plötzlich vor Wut und zischt ihr etwas zu. Sie zahlt ihm in gleicher Münze heim. Die Lautstärke steigt, und ich kann ziemlich schnell heraushören, daß es darum geht, ob sie vor Gericht gegen ihn aussagen wird oder nicht. Sieht so aus, als hätte sie sich noch nicht entschieden. Sieht so aus, als machte das Cliff wirklich Sorgen. Er ist ziemlich schnell auf hundertachtzig, kein Wunder bei einem Macho-Typ wie ihm, und sie sagt ihm, er solle nicht so herumbrüllen. Er sieht sich um und versucht, seine Stimme zu senken. Ich kann nicht hören, was er sagt.
Nachdem sie ihn provoziert hat, beruhigt sie ihn wieder, aber er ist immer noch sehr unglücklich. Er schmort vor sich hin, während sie einander eine Zeitlang ignorieren.
Dann tut sie es wieder. Sie murmelt etwas, und sein Rük-ken versteift sich. Seine Hände zittern, er pöbelt herum. Sie streiten eine Minute, dann hört sie auf zu reden und ignoriert ihn. Cliff kann nicht hinnehmen, daß man ihn ignoriert, also wird er lauter. Sie sagt ihm, er solle still sein, sie befänden sich in einem öffentlichen Raum. Er wird noch lauter, redet über das, was er tun wird, wenn sie nicht alles fallenläßt, daß man ihn ins Gefängnis stecken könnte und so weiter und so weiter.
Sie sagt etwas, das ich nicht hören kann, und er wischt plötzlich mit einem Schlag seinen hohen Styroporbecher vom Tisch und springt auf. Die Cola fliegt durch den halben Raum und verspritzt kohlensäurehaltigen Schaum über die anderen Tische und den Fußboden. Sie ergießt sich über sie. Sie keucht, schließt die Augen und beginnt zu weinen. Ich höre, wie er schimpfend und fluchend den Korridor entlangstampft.
Rein instinktiv springe ich auf, aber sie schüttelt rasch den Kopf. Ich setze mich wieder hin. Die Kassiererin hat die Szene beobachtet und erscheint mit einem Handtuch. Sie gibt es Kelly, die sich die Cola vom Gesicht und von den Armen wischt.
«Tut mir leid«, sagt sie zu der Kassiererin.
Ihr Nachthemd ist durchweicht. Sie kämpft gegen die Tränen an, während sie ihren Gipsverband und ihr Bein abtrocknet. Ich bin in der Nähe, aber ich kann nicht helfen. Vermutlich hat sie Angst, er könnte zurückkommen und uns dabei erwischen, daß wir miteinander reden.
In diesem Krankenhaus gibt es viele Orte, wo man sich niederlassen und einen Kaffee oder eine Cola trinken kann, aber sie hat ihn hierher gebracht, weil sie wollte, daß ich ihn sehe. Ich bin ziemlich sicher, daß sie ihn provoziert hat, damit ich mit eigenen Augen sehe, wie cholerisch er ist.
Wir sehen uns lange Zeit an, während sie sich methodisch das Gesicht und die Arme abwischt. Tränen strömen ihr übers Gesicht, und sie tupft sie ab. Sie verfügt über diese unerklärliche weibliche Fähigkeit, Tränen zu produzieren, ohne den Eindruck zu erwecken, daß sie weint. Sie schluchzt und heult nicht. Ihre Lippen beben nicht. Ihre Hände zittern nicht. Sie sitzt einfach da, in einer anderen Welt, sieht mich mit tränenverschleierten Augen an und betupft ihre Haut mit dem weißen Handtuch.
Zeit vergeht, aber ich weiß nicht, wieviel. Ein verkrüppelter Aufwärter erscheint und wischt den Boden um sie herum. Drei Schwestern kommen hereingestürmt, laut redend und lachend, bis sie sie sehen, dann sind sie plötzlich still. Sie mu-stern sie, flüstern miteinander und sehen gelegentlich in meine Richtung.
Er ist lange genug fort, als daß man wohl nicht mehr mit seiner Rückkehr rechnen muß, und es ist ein verlockender Gedanke, den Gentleman zu spielen. Die Schwestern verlassen die Cafeteria, und Kelly winkt langsam mit einem Zeigefinger. Jetzt kann ich zu ihr kommen.
«Tut mir leid«, sagt sie, als ich mich neben ihr niederhocke.
«Das ist schon okay.«
Und dann sagt sie etwas, das ich nie vergessen werde.»Bringen Sie mich in mein Zimmer?«
In einer anderen Umgebung hätten diese Worte weitreichende Konsequenzen haben können, und für einen Augenblick schweifen meine Gedanken ab zu einem exotischen Strand, an dem die beiden Liebenden endlich beschlossen haben, einander in die Arme zu sinken.
Ihr Zimmer ist natürlich ein Raum mit einer Tür, die von unzähligen Leuten geöffnet werden kann. Sogar Anwälte können in ihn eindringen.
Ich steuere Kelly und ihren Rollstuhl behutsam um die Tische herum und auf den Flur hinaus.»Fünfter Stock«, sagt sie über die Schulter. Ich habe es nicht eilig. Ich bin sehr stolz auf mich, weil ich so ritterlich bin. Mir gefällt die Tatsache, daß ihr sämtliche Männer hinterhersehen, während wir den Korridor entlangrollen.
Im Fahrstuhl sind wir ein paar Sekunden allein. Ich knie mich neben sie.»Sind Sie okay?«frage ich.
Jetzt weint sie nicht mehr. Ihre Augen sind nach wie vor feucht und ein wenig gerötet, aber sie hat sich unter Kontrolle. Sie nickt rasch und sagt:»Danke«. Und dann ergreift sie meine Hand und drückt sie fest.»Vielen Dank.«
Der Fahrstuhl hält mit einem Ruck. Ein Arzt kommt herein, und sie läßt rasch meine Hand los. Ich trete hinter den Rollstuhl wie ein hingebungsvoller Ehemann. Ich möchte wieder ihre Hand halten.
Nach der Uhr an der Wand des fünften Stocks ist es fast elf. Von ein paar Schwestern und Pflegern abgesehen ist der Flur menschenleer und ruhig. Eine Stationsschwester mustert uns, während wir vorbeirollen. Mrs. Riker ist mit einem Mann losgezogen und kommt nun mit einem anderen zurück.
Wir biegen links ab, und sie deutet auf ihre Tür. Zu meiner Überraschung und Freude hat sie ein Privatzimmer mit eigenem Fenster und Bad. Das Licht brennt.
Ich bin nicht sicher, wie gut sie sich in Wirklichkeit bewegen kann, aber in diesem Moment ist sie völlig hilfos.»Sie müssen mir helfen«, sagt sie. Das lasse ich mir nicht zweimal sagen. Ich beuge mich über sie, und sie legt mir die Arme um den Hals. Sie klammert sich wesentlich fester an mich, als erforderlich wäre, aber das stört mich durchaus nicht. Ihr Nachthemd ist mit Cola durchtränkt, und auch das stört mich nicht sonderlich. Sie fühlt sich gut an, und ich stelle rasch fest, daß sie keinen Büstenhalter trägt. Ich drücke sie noch fester an mich.
Ich hebe sie sanft aus dem Rollstuhl, keine große Anstrengung, weil sie nicht mehr wiegt als fünfundfünfzig Kilo, einschließlich Gipsverband. Wir manövrieren uns zu ihrem Bett, lassen uns dabei soviel Zeit wie möglich, machen eine Menge Aufhebens um ihren gebrochenen Knöchel, bringen sie in genau die richtige Stellung, damit ich sie sehr langsam auf ihr Bett gleiten lassen kann. Dann lassen wir einander widerstrebend los. Unsere Gesichter sind nur Zentimeter voneinander entfernt, als die Schwester hereinkommt und ihre Gummisohlen über den gefliesten Boden quietschen.
«Was ist passiert?«fragt sie und deutet auf das nasse Nachthemd.
Wir versuchen immer noch, uns voneinander zu lösen.»Ach, das. Nur ein Mißgeschick«, erklärt Kelly.
Die Schwester öffnet eine Schublade unter dem Fernseher und holt ein zusammengefaltetes Nachthemd heraus.»Sie müssen sich umziehen«, sagt sie und wirft es neben Kelly aufs Bett.»Und Sie müssen gewaschen werden. «Sie hält eine Sekunde inne, deutet mit einem Kopfnicken auf mich und sagt:»Er kann Ihnen ja helfen.«
Ich hole tief Luft. Mir wird schwach.
«Das schaffe ich allein«, sagt Kelly und legt das Nachthemd auf den Tisch neben dem Bett.
«Die Besuchszeit ist vorbei, junger Mann«, sagt sie zu mir.
«Für heute müßt ihr beide euch voneinander verabschieden. «Sie quietscht aus dem Zimmer. Ich mache die Tür zu und kehre zu ihrem Bett zurück. Wir sehen uns an.
«Wo ist der Schwamm?«frage ich, und wir lachen beide. Wenn sie lächelt, bilden sich dicke Grübchen an ihren Mundwinkeln.
«Setzen Sie sich hierher«, sagt sie und klopft auf die Bettkante. Ich lasse mich mit baumelnden Beinen nieder. Wir berühren uns nicht. Sie zieht ein weißes Laken bis zu den Achselhöhlen hoch, als wollte sie die Colaflecken verbergen.
Ich bin vollkommen im Bilde. Auch eine mißhandelte Ehefrau ist die Frau eines anderen, bis sie geschieden ist. Oder bis sie den Mistkerl umbringt.
«Und was halten Sie von Cliff?«fragt sie.
«Sie wollten, daß ich ihn sehe, nicht wahr?«
«Wahrscheinlich.«
«Man sollte ihn erschießen.«
«Das wäre eine ziemlich harte Strafe für einen kleinen Wutanfall.«
Ich schweige einen Moment und schaue woandershin. Ich habe beschlossen, nicht um den heißen Brei herumzureden. Wenn wir schon miteinander reden, dann werden wir auch ehrlich sein.
«Nein, Kelly, sie ist nicht zu hart. Ein Mann, der mit einem Aluminiumschläger auf seine Frau eindrischt, sollte erschossen werden. «Ich beobachte sie genau, während ich das sage, und sie zuckt nicht zusammen.
«Woher wissen Sie das?«fragt sie.
«Läßt sich alles nachlesen. Polizeiberichte, Krankentransportberichte, Krankenhausunterlagen. Wollen Sie warten, bis er Ihnen diesen Schläger über den Kopf zieht? Das könnte Ihr Ende bedeuten. Ein paar kräftige Hiebe auf den Schädel…«
«Hören Sie auf! Sie brauchen mir nicht zu sagen, wie sich das anfühlt. «Sie schaut zur Wand, und als sie mich wieder ansieht, fließen abermals die Tränen.»Sie wissen nicht, wovon Sie reden.«
«Dann sagen Sie es mir.«
«Wenn ich darüber hätte sprechen wollen, hätte ich schon selber damit angefangen. Sie haben kein Recht, in meinem Leben herumzuwühlen.«
«Reichen Sie die Scheidung ein. Ich bringe morgen die erforderlichen Papiere mit. Tun Sie es jetzt, während Sie im Krankenhaus sind und wegen der letzten Attacke behandelt werden. Gibt es einen besseren Beweis? Die Klage wird glatt durchkommen, und in drei Monaten sind Sie eine freie Frau.«
Sie schüttelt den Kopf, als wäre ich ein ausgemachter Idiot. Vermutlich bin ich das auch.
«Sie verstehen das nicht.«
«Da haben Sie vollkommen recht. Aber ich weiß, wie so was weitergeht. Wenn Sie sich diesen Mistkerl nicht vom Hals schaffen, sind Sie in einem Monat vielleicht tot. Ich habe die Namen und Telefonnummern von drei Hilfsorganisationen für mißhandelte Frauen.«
«Mißhandelt?«
«Richtig. Mißhandelt. Sie sind mißhandelt worden, Kelly, ist Ihnen das nicht klar? Dieser Nagel in Ihrem Knöchel bedeutet, daß Sie mißhandelt worden sind. Dieser veilchenblaue Fleck an Ihrem Kinn ist ein klarer Beweis dafür, daß Ihr Mann Sie schlägt. Sie können Hilfe bekommen. Reichen Sie die Scheidung ein, und lassen Sie sich helfen.«
Sie denkt eine Sekunde darüber nach. Es ist ganz still im Zimmer.»Scheidung ist unmöglich. Das habe ich schon versucht.«
«Wann?«
«Vor ein paar Monaten. Das wissen Sie nicht? Ich bin sicher, daß es beim Gericht Unterlagen darüber gibt. War's diesmal nichts mit dem Nachlesen?«
«Was ist aus der Scheidung geworden?«
«Ich habe sie zurückgezogen.«
«Warum?«
«Weil ich es satt hatte, auf mich einprügeln zu lassen. Er hätte mich umgebracht, wenn ich sie nicht zurückgezogen hätte. Er behauptet, er liebt mich.«
«Eindeutig. Darf ich Sie etwas fragen? Haben Sie einen Vater oder einen Bruder?«
«Wieso?«
«Wenn meine Tochter von ihrem Mann geschlagen würde, dann bräche ich ihm das Genick.«
«Mein Vater weiß nichts davon. Meine Eltern sind immer noch wütend wegen meiner Schwangerschaft. Sie werden nie darüber hinwegkommen. Sie haben Cliff von dem Moment an verachtet, als er zum erstenmal den Fuß in unser Haus setzte, und als dann der Skandal losbrach, haben sie sich völlig von mir zurückgezogen. Ich habe nicht mehr mit ihnen gesprochen, seit ich von zu Hause fort bin.«
«Kein Bruder?«
«Nein. Niemand, der auf mich aufpaßt. Bis jetzt.«
Das trifft mich hart, und es dauert eine Weile, bis ich es verdaut habe.»Ich werde tun, was immer Sie möchten«, sage ich.»Aber Sie müssen die Scheidung einreichen.«
Sie wischt sich die Tränen mit den Fingern ab, und ich gebe ihr ein Papiertaschentuch vom Nachttisch.»Ich kann die Scheidung nicht einreichen.«
«Warum nicht?«
«Er würde mich umbringen. Das sagt er ständig. Sehen Sie, als ich es zum ersten Mal versucht habe, hatte ich einen wirklich lausigen Anwalt; ich hatte ihn aus den Gelben Seiten. Ich dachte, einer wäre so gut wie der andere. Und er hielt es für ganz besonders klug, Cliff die Scheidungsklage bei der Arbeit überbringen zu lassen, vor den Augen seiner besten Kumpel, seiner Saufkumpane und den Typen aus dem Softballteam. Das war natürlich furchtbar demütigend für Cliff. Danach kam ich zum erstenmal ins Krankenhaus. Eine Woche später habe ich die Scheidungsklage zurückgezogen, und er droht mir immer noch. Er würde mich umbringen.«
Die Angst und das Grauen in ihren Augen sind unübersehbar. Sie bewegt sich ein wenig und verzieht dabei das Gesicht, als zuckte ein heftiger Schmerz durch ihren Knöchel. Sie stöhnt und sagt:»Könnten Sie ein Kissen drunterlegen?«
Ich springe vom Bett.»Natürlich. «Sie deutet auf zwei dicke Kissen auf dem Stuhl.
«Eins von denen dort«, sagt sie. Das bedeutet natürlich, daß das Laken zurückgeschlagen werden muß. Ich helfe dabei.
Sie schweigt einen Moment, schaut sich um, dann sagt sie:»Geben Sie mir auch das Nachthemd.«
Ich tue einen zittrigen Schritt zum Tisch und gebe ihr das frische Hemd.»Brauchen Sie Hilfe?«frage ich.
«Nein, drehen Sie sich nur um. «Während sie das sagt, zieht sie bereits an dem schmutzigen Nachthemd und streift es sich über den Kopf. Ich drehe mich sehr langsam um.
Sie läßt sich Zeit. Aus purem Übermut wirft sie das schmutzige Hemd auf den Boden vor mir. Sie ist hinter mir, kaum einen Meter entfernt, nackt bis auf einen Slip und einen Gipsverband. Ich bin felsenfest überzeugt, daß ich mich umdrehen und sie ansehen könnte, ohne daß sie es mir übelnehmen würde. Mir ist schwindlig bei dem Gedanken.
Ich schließe die Augen und frage mich: Was tue ich hier?
«Rudy, würden Sie mir bitte den Schwamm geben?«gurrt sie.»Er ist im Badezimmer. Lassen Sie etwas warmes Wasser drüberlaufen. Und ein Handtuch bitte.«
Sie sitzt in der Mitte des Bettes mit dem dünnen Laken vor der Brust. Das frische Nachthemd hat sie noch nicht angerührt.
Ich kann nicht anders, ich muß sie anstarren.»Da drin«, nickt sie. Ich gehe ins Badezimmer und nehme den Schwamm in die Hand. Während ich ihn naß mache, beobachte ich sie im Spiegel über dem Waschbecken. Durch einen Türspalt hindurch kann ich ihren Rücken sehen. Den ganzen Rücken. Die Haut ist glatt und gebräunt, aber zwischen den Schultern sieht man eine häßliche Prellung.
Ich beschließe, daß ich sie waschen werde. Sie möchte es auch, das ist offensichtlich. Sie ist verletzt und verwundbar. Sie flirtet gern, und sie möchte, daß ich ihren Körper sehe. In mir kribbelt alles.
Dann Stimmen. Die Schwester ist wieder da. Als ich aus dem Bad zurückkehre, macht sie sich im Zimmer zu schaffen. Sie hält inne und grinst mich an, als hätte sie uns beinahe erwischt.
«Die Zeit ist um«, sagt sie.»Es ist fast halb zwölf. Das hier ist kein Hotel. «Sie nimmt mir den Schwamm aus der Hand.»Das mache ich. Und Sie verschwinden jetzt.«
Ich stehe nur da, lächle Kelly an und träume davon, diese Beine zu berühren. Die Schwester packt entschlossen meinen Ellenbogen und schiebt mich zur Tür.»Und jetzt fort mit Ihnen«, sagt sie mit gespielter Empörung.
Um drei Uhr morgens schleiche ich hinunter zu der Hängematte und lasse mich gedankenverloren in der stillen Nacht hin- und herschaukeln. Ich beobachte die Sterne, die durch die Zweige und Blätter funkeln, und rufe mir jede ihrer Bewegungen ins Gedächtnis, höre ihre verängstigte Stimme und träume von ihren Beinen.
Es ist an mir, sie zu beschützen. Sonst hat sie niemanden. Sie erwartet von mir, daß ich sie rette und ihr wieder auf die Beine helfe. Wir wissen beide genau, was danach passieren wird.
Noch immer spüre ich, wie sie meinen Hals umklammert hat, als sie sich während dieser paar kostbaren Sekunden fest an mich drückte, und ihren Körper, der sich so natürlich und leicht in meine Arme schmiegte.
Ich beobachte, wie die Sonne zwischen den Bäumen aufgeht, dann schlafe ich ein, während ich die Stunden zähle, bis ich sie wiedersehen werde.