Kapitel 4

Meine Behausung ist eine schäbige Zweizimmerwohnung im ersten Stock eines zerfallenden Ziegelsteingebäudes, das den Namen The Hampton trägt; zweihundertfünfundsiebzig pro Monat, selten fristgemäß bezahlt. Es ist einen Block von einer belebten Straße entfernt, eine Meile vom Campus. Hier war seit fast drei Jahren mein Zuhause. In der letzten Zeit habe ich oft daran gedacht, mich mitten in der Nacht einfach lautlos hinauszuschleichen und dann zu versuchen, eine monatliche Abzahlung während der nächsten zwölf Monate auszuhandeln. Bis jetzt bin ich bei diesen Plänen immer von einem Job und einem monatlichen Gehaltsscheck von Broadnax and Speer ausgegangen. Im Hampton wimmelt es von Studenten, Habenichtsen wie mir, und der Hauswirt ist es gewöhnt, Mietrückstände einzufordern.

Als ich kurz vor zwei Uhr ankomme, ist der Parkplatz still und dunkel. Ich parke in der Nähe der Mülltonnen, und als ich aus meinem Wagen krieche und die Tür schließe, sehe ich nicht weit entfernt eine plötzliche Bewegung. Ein Mann steigt schnell aus seinem Wagen aus, knallt die Tür zu und steuert direkt auf mich zu. Ich erstarre. Alles ist still und dunkel.

«Sind Sie Rudy Baylor?«fragt er mich ins Gesicht. Er ist ein richtiggehender Cowboy — spitze Stiefel, enge Levis, Jeanshemd, kurzgeschnittenes Haar und Bart. Er kaut schmatzend auf einem Kaugummi herum und sieht aus, als hätte er nichts gegen ein paar Handgreiflichkeiten einzuwenden.

«Wer sind Sie?«frage ich.

«Sind Sie Rudy Baylor? Ja oder nein?«

«Ja.«

Er zieht ein paar Papiere aus seiner Gesäßtasche und hält sie mir hin.»Tut mir leid«, sagt er aufrichtig.

«Was ist das?«frage ich.

«Vorladungen.«

Ich nehme langsam die Papiere. Es ist zu dunkel, um etwas

entziffern zu können, aber ich habe begriffen.»Sie sind Zustellungsbeamter?«

«Ja.«

«Texaoo?«

«Ja. Und The Hampton. Sie werden vor die Tür gesetzt.«

Wenn ich nüchtern wäre, würde mich der Anblick eines Zwangsräumungsbefehls vielleicht schockieren. Aber für einen Tag habe ich schon genug einstecken müssen. Ich werfe einen Blick auf das dunkle, schäbige Gebäude mit Müll auf dem Rasen und Unkraut auf den Wegen und frage mich, wie dieser jämmerliche Bau es fertiggebracht hat, mich kleinzukriegen.

Er tritt einen Schritt zurück.»Da steht alles drin«, erklärt er.»Tag der Verhandlung, Namen von Anwälten und so weiter. Wahrscheinlich können Sie die ganze Sache mit ein paar Anrufen klären. Aber das geht mich nichts an. Nicht mein Job.«

Was für ein Job. Sich im Schatten verstecken, sich auf nichtsahnende Leute stürzen, ihnen Papiere in die Hand drücken, ein paar Worte kostenlosen juristischen Rat von sich geben und dann verschwinden, um jemand anderen zu terrorisieren.

Im Davongehen bleibt er noch einmal stehen und sagt:»Übrigens, ich war früher bei der Polizei und habe ein Funkgerät im Wagen. Vor ein paar Stunden kam eine komische Meldung durch. Irgendein Typ namens Rudy Baylor hat in der Innenstadt eine Anwaltskanzlei demoliert. Der Beschreibung nach könnten Sie es gewesen sein. Auch Typ und Baujahr des Wagens stimmen. Aber Sie waren es wohl nicht.«

«Und wenn doch?«

«Das ist nicht meine Sache. Aber die Polizei sucht nach Ihnen. Beschädigung von Privateigentum.«

«Sie meinen, man wird mich verhaften?«

«Ja. Ich an Ihrer Stelle würde heute nacht woanders schlafen.«

Er steigt in seinen Wagen, einen BMW. Ich sehe zu, wie er wegfährt.

Booker erwartet mich auf der Vortreppe seiner hübschen Doppelhaushälfte. Er trägt einen Paisley-Morgenrock über dem

Schlafanzug. Keine Slipper, nur nackte Füße. Booker mag auch nur ein mittelloser Jurastudent sein, der die Tage zählt, bis er anfangen kann zu arbeiten, aber er ist sehr modebewußt. In seinem Kleiderschrank hängt nicht viel, aber seine Garderobe ist mit Bedacht ausgewählt.»Was zum Teufel ist los mit dir?«fragt er ein wenig barsch mit noch schlaftrunkenen Augen. Ich habe ihn von einem Münzfernsprecher im Junior Food Mart um die Ecke aus angerufen.

«Tut mir leid«, sage ich, als wir ins Wohnzimmer gehen. Ich kann Charlene in der winzigen Küche sehen, gleichfalls in einem Paisley-Morgenrock und mit verschlafenen Augen. Sie macht Kaffee oder sonst etwas. Irgendwo im Hintergrund höre ich ein Kind weinen. Es ist fast drei Uhr nachts, und ich habe die ganze Familie aufgeweckt.

«Setz dich«, sagt Booker, nimmt mich am Arm und schiebt mich sanft aufs Sofa.»Du hast getrunken.«

«Ich bin betrunken, Booker.«

«Irgendein spezieller Grund?«Er steht vor mir, ungefähr wie ein wütender Vater.

«Das ist eine lange Geschichte.«

«Du hast die Polizei erwähnt.«

Charlene stellt eine Tasse heißen Kafee auf den Tisch neben mir.»Bist du okay, Rudy?«fragt sie mit ihrer süßesten Stimme.

«Mir geht's großartig«, erwidere ich angeberisch.

«Geh und sieh nach den Kindern«, sagt Booker zu ihr, und sie verschwindet.

«Tut mir leid«, sage ich wieder. Booker läßt sich dicht neben mir auf der Kante des Beistelltisches nieder und wartet.

Ich ignoriere den Kaffee. Mein Kopf dröhnt. Ich lade meine Version dessen ab, was sich ereignet hat, seit wir uns gestern am frühen Nachmittag voneinander trennten. Meine Zunge ist dick und schwerfällig, also lasse ich mir Zeit und versuche, mich auf meinen Bericht zu konzentrieren. Charlene läßt sich auf dem am nächsten stehenden Sessel nieder und hört mit großer Anteilnahme zu.»Es tut mir leid«, flüstere ich in ihre Richtung.

«Das ist schon okay, Rudy. Das ist okay.«

Charlenes Vater ist Geistlicher, irgendwo im ländlichen Tennessee, und sie hat keinerlei Verständnis für Betrunkenheit oder ausfallendes Benehmen. Die paar Drinks, die Booker und ich in der Fakultät zusammen hatten, haben wir heimlich gekippt.

«Du hast zwei Sechserpacks getrunken?«fragt er ungläubig.

Charlene geht ins Hinterzimmer, um nach dem Kind zu sehen, das wieder angefangen hat zu weinen. Ich beende meinen Bericht mit dem Zustellungsbeamten, der Klage, dem Rausschmiß aus meiner Wohnung. Es war einfach ein scheußlicher Tag.

«Ich muß einen Job finden, Booker«, sage ich und trinke einen großen Schluck Kaffee.

«Im Augenblick hast du wesentlich größere Probleme. In drei Monaten ist das Examen, danach müssen wir vor den Prüfungsausschuß. Eine Verhaftung und Verurteilung wegen dieser Sache würden dich ruinieren.«

Daran hatte ich noch gar nicht gedacht. Jetzt fühlt mein Kopf sich an, als wollte er zerspringen.»Könnte ich vielleicht ein Sandwich haben?«Mir ist schlecht. Zum zweiten Sechserpack habe ich eine Tüte Brezeln gegessen, aber das war alles seit dem Lunch mit Bosco und Miss Birdie.

Charlene hört das in der Küche.»Wie wäre es mit Eiern und Speck?«

«Wunderbar, Charlene. Danke.«

Booker ist tief in Gedanken versunken.»In ein paar Stunden rufe ich Marvin Shankle an. Er kann mit seinem Bruder reden, vielleicht bei der Polizei ein gutes Wort für dich einlegen. Wir müssen verhindern, daß du verhaftet wirst.«

«Hört sich gut an. «Marvin Shankle ist der prominenteste schwarze Anwalt in Memphis, Bookers künftiger Boß.»Wenn du mit ihm sprichst, frage ihn, ob bei ihm eine Stelle frei ist.«

«Okay. Du willst also für eine schwarze Bürgerrechtskanzlei arbeiten.«

«Im Augenblick würde ich sogar einen Job bei einer koreanischen Scheidungskanzlei annehmen. Nimm mir's nicht übel, Booker, aber ich muß unbedingt Arbeit finden. Ich stehe vor der Pleite, Mann. Durchaus möglich, daß da draußen noch weitere Gläubiger unterwegs sind, im Gestrüpp lauern und nur darauf warten, daß sie sich mit noch mehr Papieren auf mich stürzen können. Das halte ich nicht aus. «Ich strecke mich langsam auf dem Sofa aus. Charlene brät Eier und Speck, und der Geruch zieht durch das kleine Wohnzimmer.

«Wo sind die Papiere?«fragt Booker.

«Im Wagen.«

Er verläßt das Zimmer und ist eine Minute später wieder da. Er setzt sich auf einen nahe stehenden Stuhl und studiert die Texaco-Klage und den Räumungsbefehl. Charlene hantiert in der Küche, bringt mir mehr Kafee und Aspirin. Es ist halb vier Uhr morgens. Die Kinder sind endlich ruhig. Ich fühle mich warm und sicher, sogar geliebt.

In meinem Kopf dreht es sich langsam, als ich die Augen schließe und davondrifte.

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