Deck hat eine Visitenkarte, die ihn als Hilfsanwalt ausweist, eine Tierart, die mir neu ist. Er treibt sich auf den Fluren des Stadtgerichts herum und macht sich an kleine Ganoven heran, die auf ihr erstes Erscheinen vor den verschiedenen Richtern warten. Er sucht sich einen Mann aus, der verängstigt aussieht und ein Blatt Papier in der Hand hält, dann spricht er ihn an. Deck nennt dies den Bussard-Twostep, eine kurze, schnelle Art der Mandantenwerbung, in der es viele der vor dem Stadtgericht herumlungernden Anwälte zur Vollendung gebracht haben. Einmal hat er mich eingeladen, mitzukommen, damit ich lernen kann, wie es gemacht wird. Ich habe abgelehnt.
Derrick Dogan war ursprünglich als Objekt dieser Methode vorgesehen gewesen, aber das Geschäft kam nicht zustande, als er Deck fragte:»Was zum Teufel ist ein Hilfsanwalt?«Deck, der sonst immer eine stereotype Antwort parat hat, schaffte es nicht, diese Frage zu beantworten, und ergriff eilends die Flucht. Aber Dogan behielt die Karte, auf der Decks Name stand. Später am selben Tag hatte Dogan einen Zusammenstoß mit einem zu schnell fahrenden Teenager. Ungefähr vierundzwanzig Stunden nachdem er Deck vor dem Stadtgericht gesagt hatte, er solle sich zum Teufel scheren, wählte Dogan von einem Zimmer in St. Peter's aus die Nummer, die auf der Karte stand. Deck nahm den Anruf im Büro entgegen, wo ich mich gerade durch ein undurchdringliches Labyrinth von Versicherungsdokumenten hindurchkämpfte. Minuten später waren wir in Richtung Krankenhaus unterwegs. Dogan wollte mit einem richtigen Anwalt sprechen, nicht mit einem Hilfsanwalt.
Dies ist ein halbwegs legaler Besuch im Krankenhaus, mein erster. Wir finden Dogan allein mit einem gebrochenen Bein, gebrochenen Rippen, einem gebrochenen Handgelenk und
Schnittwunden und Prellungen im Gesicht. Er ist jung, um die Zwanzig herum, kein Ehering. Ich nehme die Sache in die Hand wie ein richtiger Anwalt, serviere ihm die üblichen routinemäßigen Ermahnungen, daß er sich nicht mit Versicherungsgesellschaften einlassen und zu niemandem etwas sagen soll. Es sind einfach wir gegen sie, und meine Kanzlei bearbeitet mehr Verkehrsunfälle als jede andere in der Stadt. Deck lächelt. Er hat es mir gut beigebracht.
Dogan unterschreibt einen Vertrag und eine Vollmacht, die es uns gestattet, seine Krankenakte einzusehen. Er hat offensichtlich starke Schmerzen, also bleiben wir nicht lange. Sein Name steht auf dem Vertrag. Wir verabschieden uns und versprechen, morgen wiederzukommen.
Gegen Mittag hat Deck eine Kopie des Unfallberichts. Er hat bereits mit dem Vater des Teenagers gesprochen. Sie sind bei State Farm versichert. Obwohl er das besser nicht getan hätte, teilt der Vater Deck mit, daß die Police seines Wissens auf fünfundzwanzigtausend Dollar begrenzt ist. Ihm und seinem Sohn tut das alles furchtbar leid. Kein Problem, sagt Deck, überaus dankbar dafür, daß der Unfall passiert ist.
Ein Drittel von fünfundzwanzigtausend sind achttausend und ein bißchen Kleingeld. Wir gehen zum Lunch in ein wundervolles Restaurant im Peabody, das Dux heißt. Ich trinke Wein. Deck bestellt sich Nachtisch. Es ist der größte Moment in der Geschichte unserer Kanzlei. Drei Stunden lang essen wir und geben unser Geld aus.
Am Donnerstag nach dem Montag, den ich in Cleveland verbracht habe, sitzen wir um halb sechs Uhr nachmittags in Kiplers Gerichtssaal. Seine Ehren hat diesen Zeitpunkt gewählt, damit der große Leo F. Drummond nach einem langen Tag vor Gericht herbeieilen und weitere Schelte einstecken kann. Sein Erscheinen vervollständigt das Team der Verteidigung — alle fünf sind anwesend und wirken hinreichend selbstgefällig, obwohl sie wissen, daß ihnen einiges bevorsteht. Jack Underhall, als Hausanwalt von Great Benefit, ist da, aber die anderen Herren haben es vorgezogen, in Cleveland zu bleiben. Ich kann es ihnen nicht verübeln.
«Ich habe Sie wegen der Dokumente gewarnt, Mr. Drummond«, erklärt Seine Ehren vom Podium herab. Er hat die Sitzung keine fünf Minuten zuvor eröffnet, und Drummond blutet schon jetzt.»Ich dachte, ich hätte mich recht deutlich ausgedrückt, habe es Ihnen, wie Sie wissen, sogar schriftlich in Form einer Anweisung gegeben. Also, was ist passiert?«
Es ist wahrscheinlich nicht Drummonds Schuld. Sein Mandant treibt Spielchen mit ihm, und ich vermute stark, daß er den Burschen in Cleveland bereits seinerseits die Meinung gesagt hat. Leo Drummond ist ein überaus selbstbewußter Mann und kann Demütigungen nur schwer hinnehmen. Er tut mir fast leid. Er steckt mitten in einem Millionen-Dollar-Prozeß vor dem Bundesgericht, schläft vermutlich nachts nur drei Stunden, hat hundert Dinge gleichzeitig im Kopf, und nun wird er über die Straße gezerrt, um die dubiosen Aktionen seines unberechenbaren Mandanten zu verteidigen.
Er tut mir fast leid.
«Dafür gibt es keine Entschuldigung, Euer Ehren«, sagt er, und seine Aufrichtigkeit ist überzeugend.
«Wann haben Sie erfahren, daß diese drei Zeugen nicht mehr für Ihren Mandanten arbeiten?«
«Sonntagnachmittag.«
«Haben Sie versucht, den Anwalt des Klägers zu informieren?«
«Ja, das habe ich. Wir konnten ihn nicht ausfindig machen. Wir haben sogar die Fluggesellschaften angerufen, aber umsonst.«
Ihr hättet es mit Greyhound versuchen sollen.
Kipler zieht eine große Schau ab. Er schüttelt den Kopf und gibt sich entrüstet.»Setzen Sie sich, Mr. Drummond«, sagt er. Ich brauchte bisher den Mund noch nicht aufzumachen.
«Hier ist der Plan, meine Herren«, sagt Seine Ehren.»Übernächsten Montag kommen wir hier für die Vernehmungen wieder zusammen. Für die Beklagte werden folgende Personen anwesend sein: Richard Pellrod, leitender Sachbearbeiter in der Schadensabteilung, Everett Lufkin, Vizepräsident der Schadensabteilung, Kermit Aldy, Vizepräsident der Haftungsabteilung, Bradford Barnes, Vizepräsident der Verwaltungsabteilung, und M. Wilfred Keeley, Generaldirektor. «Kipler hatte mich aufgefordert, eine Wunschliste vorzulegen.
Ich kann fast spüren, wie die Luft aus dem Saal in die Lungen der Jungs auf der anderen Seite des Ganges einströmt.
«Keine Ausreden, keine Verzögerungen, keine Vertagungen. Sie werden natürlich auf eigene Kosten reisen. Sie werden sich für Vernehmungen nach dem Ermessen des Klägers verfügbar halten, bis Mr. Baylor sagt, daß sie entlassen sind. Sämtliche Kosten der Vernehmungen, einschließlich des Honorars für die Protokollantin, werden von Great Benefit getragen. Wir gehen vorerst von drei Tagen für die Vernehmungen aus.
Weiterhin sind dem Vertreter der Anklage Kopien aller Dokumente auszuhändigen, und zwar nicht später als bis Mittwoch nächster Woche, fünf Tage vor den Vernehmungen. Die Dokumente müssen sauber kopiert und in chronologischer Ordnung sein. Zuwiderhandlung wird strenge Sanktionen zur Folge haben.
Da wir gerade von Sanktionen sprechen, weise ich hiermit die Beklagte an, Mr. Baylor die Kosten seiner vergeblichen Reise nach Cleveland zu erstatten. Mr. Baylor, wieviel kostet ein Ticket nach Cleveland und zurück?«
«Siebenhundert Dollar«, erwidere ich wahrheitsgemäß.
«Ist das erste Klasse oder Economy?«
«Economy.«
«Mr. Drummond, Ihre Kanzlei hat vier Anwälte nach Cleveland geschickt. Sind sie erster Klasse oder Economy geflogen?«
Drummond wirft einen Blick auf T. Pierce, der sich windet wie ein Kind, das beim Stehlen erwischt worden ist, dann sagt er:»Erster Klasse.«
«Das dachte ich mir. Wieviel kostet ein Ticket erster Klasse?«
«Dreizehnhundert.«
«Wieviel haben Sie für Unterkunft und Verpflegung ausgegeben, Mr. Baylor?«
In Wirklichkeit weniger als vierzig Dollar. Aber es wäre überaus peinlich, das vor Gericht zuzugeben. Ich wollte, ich wäre in einer Penthouse-Suite abgestiegen.»Ungefähr sechzig Dollar«, sage ich, ein bißchen übertreibend, aber nicht geldgie-rig. Ihre Zimmer haben bestimmt hundertfünfzig Dollar pro Nacht gekostet.
Kipler notiert sich das mit großer Geste, in seinem Gehirn klickt die Rechenmaschine.»Wie lange sind Sie unterwegs gewesen? Jeweils zwei Stunden?«
«Kann sein«, sage ich.
«Bei zweihundert Dollar die Stunde macht das achthundert Dollar. Weitere Auslagen?«
«Zweihundertfünfzig für die Protokollantin.«
Er schreibt sich alles auf, addiert es, überprüft seine Zahlen und sagt dann:»Ich weise die Beklagte an, Mr. Baylor als Straf-maßnahme die Summe von zweitausendundvierhundertzehn Dollar zu zahlen, und zwar innerhalb von fünf Tagen. Falls das Geld nicht binnen fünf Tagen bei Mr. Baylor eingegangen ist, wird sich die Summe jeden Tag verdoppeln, bis der Scheck vorliegt. Haben Sie das verstanden, Mr. Drummond?«
Ich kann ein Lächeln nicht unterdrücken.
Drummond erhebt sich langsam, in der Taille leicht gebeugt, und streckt die Hände aus.»Ich erhebe Einspruch«, sagt er. Er schmort innerlich, aber er hat sich in der Gewalt.
«Ihr Einspruch ist zur Kenntnis genommen. Ihr Mandant hat fünf Tage.«
«Es gibt keinen Beweis dafür, daß Mr. Baylor erster Klasse geflogen ist.«
Es liegt in der Natur eines Anwalts der Verteidigung, alles zu bestreiten. Haarspalterei gehört zu seinem Handwerk. Außerdem ist sie einträglich. Aber das Geld ist für seinen Mandanten ein Klacks, und Drummond sollte einsehen, daß er damit nichts erreicht.
«Der Flug nach Cleveland und zurück ist offenkundig dreizehnhundert Dollar wert. Und diese Summe hat Ihr Mandant zu zahlen.«
«Mr. Baylor wird nicht stundenweise bezahlt.«
«Wollen Sie damit sagen, daß seine Zeit nichts wert ist?«
«Nein.«
Was er damit sagen will, ist, daß ich nur ein Anfänger und ein Feld-Wald-und-Wiesen-Anwalt bin und meine Zeit bei weitem nicht soviel wert ist wie seine oder die seiner Kumpane.
«Dann werden Sie ihm zweihundert pro Stunde bezahlen. Sie können sich glücklich schätzen. Ich habe daran gedacht, Ihnen sämtliche Stunden zu berechnen, die er in Cleveland verbracht hat.«
So nahe dran!
Drummond schwenkt frustriert die Arme und setzt sich wieder hin. Kipler funkelt auf ihn herunter. Nach ein paar Monaten im Amt ist er bereits berüchtigt für seine Abneigung gegen große Firmen. Er war auch in anderen Fällen mit Sank-honen rasch bei der Hand, und in Juristenkreisen wird eine Menge darüber geredet. Dazu gehört nicht viel.
«Sonst noch etwas?«knurrt er in ihre Richtung.
«Nein, Sir«, sage ich laut, damit alle wissen, daß ich auch noch da bin.
Bei den Verschwörern jenseits des Ganges findet ein kollektives Kopfschütteln statt, und Kipler läßt seinen Hammer niederfahren. Ich raffe rasch meine Papiere zusammen und verlasse den Gerichtssaal.
Mein Abendessen besteht aus einem Sandwich mit Dot. Die Sonne versinkt langsam hinter den Bäumen in ihrem Hintergarten, hinter dem Fairlane, in dem Buddy sitzt und sich weigert, zum Essen hereinzukommen. Sie sagt, er verbringt immer mehr Zeit dort draußen wegen Donny Ray. Es ist nur noch eine Sache von Tagen, bis er stirbt, und Buddys Art, damit fertig zu werden, besteht darin, sich in seinem Wagen zu verstecken und zu trinken. Er verbringt jeden Morgen ein paar Minuten bei seinem Sohn, verläßt sein Zimmer gewöhnlich weinend und versucht dann, für den Rest des Tages jedermann aus dem Wege zu gehen.
Außerdem kommt er in der Regel nicht herein, wenn Besuch da ist. Das kann mir nur recht sein. Und Dot ist es auch recht. Wir unterhalten uns über die Klage, über die Aktionen von Great Benefit und die kaum glaubliche Fairneß von Richter Kipler, aber sie hat das Interesse daran verloren. Die leidenschaftliche Frau, die ich vor sechs Monaten in Cypress Gardens kennengelernt habe, scheint den Kampf aufgegeben zu haben. Damals war sie felsenfest davon überzeugt, daß ein
Anwalt, jeder beliebige Anwalt, sogar ich, Great Benefit dazu veranlassen könnte, das Rechte zu tun. Damals war noch Zeit für ein Wunder. Jetzt ist alle Hoflhung verflogen.
Dot wird sich immer die Schuld an Donny Rays Tod geben. Sie hat mir mehr als einmal gesagt, daß sie sofort, nachdem Great Benefit ihren Anspruch abgelehnt hatte, zu einem Anwalt hätte gehen müssen. Statt dessen hat sie sich dafür entschieden, die Briefe selbst zu schreiben. Ich bin jetzt ziemlich sicher, daß Great Benefit auf die Androhung einer Klage hin sehr schnell klein beigegeben und die Behandlung übernommen hätte. Das glaube ich aus zwei Gründen. Einmal sind sie eindeutig im Unrecht und wissen das. Und zweitens haben sie, kurz nachdem ich, ein ziemlich grüner Anfänger, sie verklagt hatte, mir einen Vergleich über fünfundsiebzigtausend Dollar angeboten. Sie haben Angst. Ihre Anwälte haben Angst. Die Typen in Cleveland haben Angst.
Dot serviert mir eine Tasse koffeinfreien Instantkaffee, dann geht sie hinaus, um nach ihrem Mann zu sehen. Ich nehme meinen Kaffee mit in den hinteren Teil des Hauses, in Donny Rays Zimmer, wo er, auf der rechten Seite zusammengerollt, unter den Laken schläft. Die einzige Beleuchtung ist eine kleine Lampe in der Ecke. Ich lasse mich dicht neben ihr nieder, mit dem Rücken zum Fenster, durch das eine kühle Brise hereinweht. Die Nachbarschaft ist ruhig, im Zimmer kein Laut zu hören.
Sein Testament ist ein simples, aus nur zwei Absätzen bestehendes Dokument, in dem er alles seiner Mutter vermacht. Er besitzt nichts und hat auch keinerlei Schulden, und das Testament ist unnötig. Aber er hat sich dadurch besser gefühlt. Seine Beisetzung hat er auch geplant. Dot hat die nötigen Vorbereitungen getroffen. Er möchte, daß ich einer der Sargträger bin.
Ich greife nach dem Buch, in dem ich jetzt seit zwei Monaten von Zeit zu Zeit lese, ein Buch mit vier gekürzten Romanen. Es ist dreißig Jahre alt, eines der wenigen Bücher im Haus. Ich lasse es immer an der gleichen Stelle liegen und lese bei jedem Besuch ein paar Seiten.
Er stöhnt und bewegt sich ein bißchen. Ich frage mich, was
sie tun wird, wenn sie eines Morgens hereinkommt und er nicht mehr aufwacht.
Sie läßt uns allein, während ich bei Dornny Ray sitze. Ich kann hören, wie sie abwäscht. Buddy scheint jetzt im Haus zu sein. Ich lese eine Stunde und werfe hin und wieder einen Blick auf Donny Ray. Wenn er aufwacht, werden wir uns unterhalten, vielleicht schalte ich auch den Fernseher ein. Was immer er will.
Ich höre eine fremde Stimme im Wohnzimmer, dann klopft jemand an die Tür. Sie wird langsam geöffnet, und ich brauche ein paar Sekunden, um den jungen Mann zu erkennen, der da steht. Es ist Dr. Kord, der einen Hausbesuch macht. Wir geben uns die Hand und unterhalten uns leise an Fußende des Bettes, dann gehen wir drei Schritte zum Fenster.
«Ich war gerade in der Nähe«, sagt er, immer noch flüsternd, als führe er ständig in dieser Gegend herum.
«Setzen Sie sich«, sage ich und deute auf den einzigen weiteren Stuhl. Wir sitzen mit dem Rücken zum Fenster, Knie an Knie, und betrachten den sterbenden Jungen in dem knapp zwei Meter entfernten Bett.
«Wie lange sind Sie schon hier?«fragt er.
«Ungefähr zwei Stunden. Ich habe mit Dot zu Abend gegessen.«
«Ist er aufgewacht?«
«Nein.«
Wir sitzen im Halbdunkel mit einer sanften Brise im Genick. Uhren regulieren unser Leben, aber im Augenblick haben wir jedes Gefühl für die Zeit verloren.
«Ich habe nachgedacht«, sagt Kord, fast lautlos.»Über den Prozeß. Haben Sie schon eine Ahnung, wann er stattfinden soll?«
«Am 8. Februar.«
«Ist das definitiv?«
«Sieht so aus.«
«Finden Sie nicht auch, daß es mehr Eindruck machen würde, wenn ich direkt aussage, anstatt über ein Video oder eine schriftliche Vernehmung zu den Geschworenen zu sprechen?«
«Natürlich würde es das.«
Kord praktiziert seit mehreren Jahren. Er weiß über Prozesse und Vernehmungen Bescheid. Er beugt sich vor und stützt die Ellenbogen auf die Knie.»Dann lassen Sie uns die Vernehmung vergessen. Ich tue es live und in Farbe, und ich werde Ihnen keine Rechnung schicken.«
«Das ist sehr großzügig.«
«Nicht der Rede wert. Es ist das mindeste, was ich tun kann.«
Wir denken lange Zeit darüber nach. Gelegentlich kommt ein leises Geräusch aus der Küche, aber sonst ist es still im Haus. Kord ist ein Mann, dem lange Gesprächspausen nichts ausmachen.
«Wissen Sie, was ich tue?«fragt er schließlich.
«Was?«
«Ich untersuche Leute, dann bereite ich sie auf den Tod vor.«
«Weshalb haben Sie sich für die Onkologie entschieden?«
«Wollen Sie die Wahrheit hören?«
«Klar. Weshalb nicht?«
«Ganz einfach. Es herrscht Bedarf an Onkologen. Der Andrang ist nicht so groß wie auf anderen Spezialgebieten.«
«Ich nehme an, irgend jemand muß es tun.«
«So schlimm ist es im Grunde nicht. Ich liebe meine Arbeit. «Er schweigt einen Moment und betrachtet seinen Patienten.»Aber das hier geht mir an die Nieren. Zusehen zu müssen, wie ein Patient unbehandelt bleibt. Wenn die Knochenmarkstransplantation nicht so teuer wäre, hätten wir vielleicht etwas tun können. Ich war bereit, meine Zeit und meine Arbeit kostenlos zur Verfügung zu stellen, aber es ist trotzdem noch ein Zweihunderttausend-Dollar-Eingriff. Kein Krankenhaus im Lande kann es sich leisten, so viel Geld zu verschenken.«
«Und deshalb hassen Sie die Versicherungsgesellschaften, stimmt's?«
«Ja, das kann man wohl sagen. «Eine lange Pause, dann:»Wir müssen es ihnen heimzahlen.«
«Ich versuche es.«
«Sind Sie verheiratet?«fragt er, dann setzt er sich gerade auf und sieht auf die Uhr.
«Nein. Und Sie?«»Nein. Geschieden. Lassen Sie uns zusammen ein Bier trinken.«
«Okay. Wo?«
«Kennen Sie Murphy's Oyster Bar?«
«Natürlich.«
«Wir treffen uns dort.«
Wir schleichen auf Zehenspitzen an Donny Ray vorbei, verabschieden uns von Dot, die schaukelnd und rauchend auf der Vorderveranda sitzt, und verlassen sie für diesmal.
Ich schlafe zufällig gerade einmal, als um zwanzig Minuten nach drei in der Nacht das Telefon läutet. Entweder ist Donny Ray tot oder ein Flugzeug ist abgestürzt und Deck wittert fette Beute. Wer sonst würde um diese Zeit anrufen?
«Rudy?«ertönt eine sehr vertraute Stimme vom anderen Ende.
«Miss Birdie?«sage ich, setze mich auf und taste nach dem Lichtschalter.
«Tut mir leid, daß ich Sie zu einer so fürchterlichen Zeit anrufen muß.«
«Das ist okay. Wie geht es Ihnen?«
«Ach, sie sind so gemein zu mir.«
Ich schließe die Augen, hole tief Luft und lasse mich auf mein Bett zurücksinken. Weshalb überrascht mich das nicht?» Wer ist gemein?«frage ich, aber nur, weil es von mir erwartet wird. Es ist schwierig, um diese Zeit Mitgefühl aufzubringen.
«June ist die Gemeinste«, sagt sie, als hätte sie eine Rangordnung aufgestellt.»Sie will mich nicht im Haus haben.«
«Sie wohnen bei Randolph und June?«
«Ja, und es ist fürchterlich. Einfach fürchterlich. Ich habe Angst, etwas zu essen.«
«Weshalb?«
«Weil sie Gift hineingetan haben könnten.«
«Na, hören Sie mal, Miss Birdie.«
«Ich meine es ernst. Sie warten alle nur darauf, daß ich sterbe. Ich habe ein neues Testament unterschrieben, das ihnen gibt, was sie wollen. Das habe ich noch in Memphis getan. Und nachdem wir hier in Tampa angekommen waren, haben
sie sich ein paar Tage lang wirklich reizend benommen. Die Kinder schauten ständig herein. Brachten mir Blumen und Pralinen. Dann hat Delbert mich zu einem Arzt gebracht, damit er mich gründlich untersucht. Nachdem er damit fertig war, hat er erklärt, ich wäre bei bester Gesundheit. Ich glaube, sie haben etwas anderes erwartet. Sie schienen so enttäuscht zu sein von dem, was der Arzt gesagt hat. Und über Nacht wurde alles anders. June wurde wieder zu dem gemeinen kleinen Flittchen, das sie in Wirklichkeit ist. Randolph ging wieder Golfspielen und ist nie zu Hause. Delbert ist ständig beim Hunderennen. Vera haßt June, und June haßt Vera. Die Enkelkinder, die meisten von ihnen haben keinen Job, wissen Sie, sind einfach verschwunden.«
«Weshalb rufen Sie um diese Zeit an, Miss Birdie?«
«Weil, also, ich muß heimlich telefonieren. Gestern hat June mir gesagt, ich dürfte das Telefon nicht mehr benutzen, und da bin ich zu Randolph gegangen, und der hat gesagt, ich dürfte es zweimal am Tag benutzen. Ich vermisse mein Haus, Rudy. Ist alles in Ordnung?«
«Alles bestens, Miss Birdie.«
«Ich halte es hier nicht mehr lange aus. Sie haben mich in ein kleines Schlafzimmer mit einem winzigen Bad gesteckt. Ich bin es gewohnt, viel Platz zu haben, das wissen Sie, Rudy.«
«Ja. Miss Birdie. «Sie wartet darauf, daß ich ihr anbiete, zu kommen und sie zu holen, aber dazu ist es noch zu früh. Sie ist noch nicht einmal einen Monat fort. Das hier ist gut für sie.
«Und Randolph bekniet mich, daß ich eine notarielle Vollmacht unterschreibe, die ihn ermächtigt, sich um meine Angelegenheiten zu kümmern. Was halten Sie davon?«
«Ich empfehle meinen Mandanten nie, eine solche Vollmacht zu unterschreiben, Miss Birdie. Es ist keine gute Idee. «Ich hatte noch nie einen Mandanten, der vor diesem Problem stand, aber in ihrem Fall ist es eine üble Sache.
Armer Randolph. Er reißt sich den Hintern auf, um an das Zwanzig-Millionen-Dollar-Vermögen heranzukommen. Was wird er tun, wenn er die Wahrheit erfährt? Miss Birdie glaubt, im Augenblick liefe es schlecht für sie. Sie braucht nur abzuwarten.
«Also, ich weiß nicht recht…«Ihre Stimme verklingt.
«Unterschreiben Sie nicht, Miss Birdie.«
«Und noch etwas. Gestern hat Delbert — oh, da kommt jemand. Muß Schluß machen. «Am anderen Ende wird der Hörer auf die Gabel geknallt. Ich kann June sehen, wie sie Miss Birdie mit einem Lederriemen für ein unerlaubtes Telefongespräch verprügelt.
Ich betrachte den Anruf nicht als bedeutsames Ereignis. Er war fast belustigend. Wenn Miss Birdie heimkommen will, werde ich sie abholen.
Ich schaffe es, wieder einzuschlafen.