Kapitel 31

Auf Kiplers Rat und mit seiner Zustimmung treffen wir uns für Dots Vernehmung in seinem Gerichtssaal. Nachdem Drummond sie für meine Kanzlei vorgesehen hatte, ohne mich vorher zu fragen, habe ich bewußt weder Ort noch Zeitpunkt zugestimmt. Kipler schaltete sich ein, rief Drummond an, und binnen Sekunden war alles geregelt.

Als wir Donny Ray vernahmen, konnten alle einen Blick auf den in seinem Fairlane sitzenden Buddy werfen. Ich habe Kipler und auch Drummond erklärt, daß es meiner Meinung nach keinen Sinn hat, Buddy zu vernehmen. Er ist nicht ganz richtig, wie Dot es ausdrückt. Der arme Kerl ist harmlos, und er weiß nichts über den Versicherungsschlamassel. In der gesamten Akte deutet nichts darauf hin, daß Buddy irgend etwas darüber weiß. Ich habe noch nie einen vollständigen Satz von ihm gehört, und ich kann mir nicht vorstellen, daß er dem Streß einer eingehenden Vernehmung gewachsen wäre. Buddy könnte durchdrehen und ein paar Anwälte krankenhausreif schlagen.

Dot läßt ihn zu Hause. Ich war gestern zwei Stunden bei ihr und habe sie auf Drummonds Fragen vorbereitet. Sie wird bei der Verhandlung aussagen, also ist dies nicht die offizielle Zeugenaussage, sondern nur eine Vernehmung zu Ermittlungszwecken. Drummond wird den Anfang machen, praktisch alle Fragen stellen und die meiste Zeit freie Bahn haben. Es wird Stunden dauern.

Kipler gedenkt auch diesmal anwesend zu sein. Wir versammeln uns an einem der Anwaltstische unterhalb seines Podiums. Er instruiert die Bedienerin der Videokamera und die Protokollantin. Das hier ist sein Reich, und er will es so haben.

Ich bin überzeugt, er befürchtet, daß Drummond mich einfach überrennen könnte, wenn ich auf mich allein gestellt bin. Die Abneigung zwischen diesen beiden sitzt so tief, daß sie es kaum ertragen können, einander anzusehen. Ich finde das großartig.

Die arme Dot sitzt allein und mit zitternden Händen am Ende des Tisches. Ich bin dicht neben ihr, und das macht sie vermutlich noch nervöser. Sie trägt ihre beste Baumwollbluse und ihre besten Jeans. Ich habe ihr erklärt, daß sie sich nicht herauszuputzen braucht, weil die Geschworenen das Video nicht zu sehen bekommen werden. Aber beim Prozeß ist es wichtig, daß sie ein Kleid trägt. Was wir mit Buddy machen werden, weiß Gott allein.

Kipler sitzt auf meiner Seite des Tisches, aber soweit weg wie möglich, dicht neben der Videokamera. Auf der anderen Seite sitzen Drummond und nur drei Mitstreiter — B. Dewey Clay Hill der Dritte, M. Alec Plunk Junior und Brandon Fuller Grone.

Deck ist im Gebäude, irgendwo draußen auf dem Flur, auf der Jagd nach Mandanten. Er hat gesagt, er würde vielleicht später dazukommen.

Also sind fünf Anwälte und ein Richter anwesend und starren Dot an, als sie die rechte Hand hebt und schwört, die Wahrheit zu sagen. Mir würden auch die Hände zittern. Drummond lächelt breit, stellt sich Dot vor, fürs Protokoll, und verbringt die ersten fünf Minuten mit einer liebenswürdigen Erklärung über den Zweck der Vernehmung. Wir sind auf die Wahrheit aus. Er wird nicht versuchen, sie zu irgend etwas zu verleiten oder sie zu verwirren. Sie kann sich jederzeit mit ihrem Anwalt beraten und so weiter und so weiter. Er hat es ganz und gar nicht eilig. Die Uhr tickt vor sich hin.

Die erste Stunde wird mit Familiengeschichte verbracht. Drummond ist, wie nicht anders zu erwarten, makellos vorbereitet. Er bewegt sich langsam von einem Thema zum nächsten — Schulbildung, Beschäftigungen, Wohnsitze, Hobbys — und stellt Fragen, die mir nicht einmal im Traum eingefallen wären. Das meiste davon ist sinnloses Geschwätz, aber so verhalten sich gewiefte Anwälte nun mal bei einer Vorvernehmung. Frage, grabe, stoß nach, grabe noch ein bißchen, man kann ja nie wissen, was vielleicht dabei herauskommt. Aber selbst wenn er auf irgend etwas besonders Pikantes stoßen würde, sagen wir, eine Teenagerschwangerschaft, dann wäre das völlig nutzlos. Er könnte es nicht vor Gericht verwenden.

Aber die Vorschriften erlauben derartigen Unfug, und sein Mandant zahlt ihm eine Wagenladung Geld dafür, daß er ausgiebigst im trüben fischt.

Kipler kündigt eine Pause an, und Dot stürmt hinaus auf den Flur. Die Zigarette steckt schon zwischen ihren Lippen, bevor sie die Tür erreicht hat. Wir stellen uns an eine Trinkwasserfontäne.

«Sie machen das ausgezeichnet«, sage ich zu ihr, und sie hält sich tatsächlich sehr gut.

«Wird mich dieser Mistkerl auch nach meinem Sexleben fragen?«knurrt sie.

«Vermutlich. «Vor meinem inneren Auge erscheint das Bild von Dot und ihrem Ehemann im Bett, und ich bin nahe daran, mich mal eben entschuldigen zu müssen.

Sie raucht so hastig, als könnte diese Zigarette die letzte sein.

«Können Sie den Kerl nicht stoppen?«

«Wenn er zu weit geht, werde ich es tun. Aber er hat das Recht, nach fast allem zu fragen.«

«Dieser neugierige Bastard.«

In der zweiten Stunde geht es so langsam voran wie in der ersten. Drummond kommt zu den finanziellen Verhältnissen der Blacks, und wir erfahren vom Kauf ihres Hauses und vom Kauf ihrer verschiedenen Wagen, einschließlich des Fairlane, und vom Kauf ihrer größeren Haushaltsgeräte. Da reicht es Kipler, und er fordert Drummond auf, zum nächsten Thema überzugehen. Wir erfahren eine Menge über Buddy, seine Kriegsverletzung, seine Jobs und seine Rente. Und über seine Hobbys und darüber, wie er seine Tage verbringt.

Kipler sagt bissig zu Drummond, er sollte zusehen, daß er etwas Relevantes findet.

Dot informiert uns, daß sie auf die Toilette muß. Ich habe ihr gesagt, das sollte sie immer dann tun, wenn sie erschöpft wäre. Wir unterhalten uns ein paar Minuten auf dem Flur. Währenddessen raucht sie drei Zigaretten, und ich versuche, dem Rauch auszuweichen.

Ungefähr in der Mitte der dritten Stunde kommen wir endlich auf die Versicherung. Ich habe eine vollständige Kopie sämtlicher zu der Akte gehörenden Unterlagen, Donny Rays Krankengeschichte eingeschlossen, angefertigt, und alle diese Dokumente liegen in einem säuberlichen Stapel auf dem Tisch. Kipler hat sie sich angesehen. Wir sind in der seltenen und beneidenswerten Lage, daß wir keine üblen Dokumente haben. Es ist nichts dabei, was wir lieber verbergen würden. Drummond kann alles sehen.

Kipler und auch Deck zufolge ist es in derartigen Fällen nicht ungewöhnlich, daß die Versicherungsgesellschaften versuchen, Dinge vor ihren eigenen Anwälten zu verbergen. Es kommt sogar ziemlich oft vor, zumal dann, wenn die Gesellschaft wirklich schmutzige Wäsche hat, die sie vergraben möchte.

Während eines Seminars über Prozeßführung im vorigen Jahr haben wir fassungslos einen Fall nach dem anderen durchgenommen, bei dem Firmen für ihre Untaten bestraft wurden, weil sie versucht hatten, Dokumente vor ihren eigenen Anwälten geheimzuhalten.

Als wir zu dem Papierkram kommen, bin ich fürchterlich aufgeregt. Und Kipler ist es auch. Drummond hat diese Dokumente bereits angefordert, aber ich habe noch eine Woche Zeit, bis sie ihm vorliegen müssen. Ich würde zu gern sein Gesicht sehen, wenn er den Blöde-Brief liest. Und Kipler auch.

Wir vermuten, daß er das meiste, wenn nicht sogar alles, was vor Dot auf dem Tisch liegt, bereits gesehen hat. Er hat seine Dokumente von seinem Mandanten bekommen. Meine stammen von den Blacks. Aber wir vermuten, daß die meisten davon identisch sind. Ich habe, genau wie er es getan hat, eine schriftliche Aufforderung zur Vorlage sämtlicher Dokumente eingereicht. Wenn er dieser Aufforderung nachkommt, wird er mir Dokumente schicken, die ich seit drei Monaten besitze. Die Papierschlacht.

Später, wenn alles so läuft wie geplant, werde ich in der Zentrale der Gesellschaft in Cleveland einen frischen Haufen Dokumente dazubekommen.

Wir fangen mit dem Antrag und der Police an. Dot gibt sie Drummond, der sie überfliegt und dann an Hill weiterreicht; dann wandert sie weiter zu Plunk und schließlich zu Grone.

Es dauert seine Zeit, bis diese Affen sie Seite für Seite durchgeblättert haben. Sie haben die verdammte Police und den Antrag seit drei Monaten. Aber Zeit ist Geld. Dann macht die Protokollantin sie zu einem Beweisstück in Dots Vernehmung.

Das nächste Dokument ist der erste ablehnende Brief, und er wird gleichfalls um den Tisch herumgereicht. Ebenso geht es mit den anderen Ablehnungsschreiben. Ich bemühe mich angestrengt, nicht einzuschlafen.

Der Blöde-Brief kommt als nächster. Ich habe Dot eingeschärft, ihn Drummond einfach auszuhändigen, ohne irgendeinen Kommentar zu seinem Inhalt. Ich will nicht, daß er vorgewarnt ist, falls er ihn bisher noch nicht zu Gesicht bekommen hat. Das ist ziemlich viel verlangt von Dot, denn der Brief kann einen immer wieder neu in Rage bringen. Drummond nimmt ihn und liest:

Sehr geehrteMrs. Black,

unsere Gesellschaft hat Ihre Ansprüche bereits siebenmal schriftlich abgewiesen. Wir tun es jetzt zum achten und letzten Mal. Offenbar sindSe blöde, blöde, blöde!

Nachdem er die letzten dreißig Jahre in Gerichtssälen verbracht hat, ist Drummond ein vorzüglicher Schauspieler. Mir ist sofort klar, daß er diesen Brief noch nie gesehen hat. Sein Mandant hat ihn der Akte nicht beigefügt. Der Brief ist ein schwerer Schlag für ihn. Sein Mund öffnet sich leicht. Auf seiner Stirn erscheinen drei dicke Falten. Er kneift angestrengt die Augen zusammen und liest den Brief ein zweites Mal.

Dann tut er etwas, von dem er sich später wünscht, er hätte es nicht getan. Er hebt den Blick über den Brief hinweg und sieht mich an. Ich natürlich starre ihn an, mit einer etwas höhnischen Miene, die besagt:»Erwischt, großes Tier.«

Dann macht er die Sache noch schlimmer, indem er Kipler ansieht. Seine Ehren läßt sich keine Gesichtsbewegung entgehen, kein Zucken und Zwinkern, und er registriert das Offenkundige. Drummond ist fassungslos über das, was er in der Hand hält.

Er erholt sich rasch, aber der Schaden ist angerichtet. Er gibt den Brief an Hill weiter, der vor sich hindöst und keine Ahnung hat, daß sein Boß ihm eine Bombe überreicht. Wir beobachten Hill ein paar Sekunden, dann explodiert sie.

«Außerhalb des Protokolls«, sagt Kipler. Die Protokollantin und die Bedienerin der Videokamera stellen ihre Geräte ab.»Mr. Drummond, es ist offensichtlich, daß Sie diesen Brief nie zuvor gesehen haben. Und ich vermute, daß dies nicht das erste oder letzte Dokument sein wird, das Ihre Mandanten verheimlichen möchten. Ich habe genügend Versicherungsgesellschaften verklagt, um zu wissen, daß Dokumente die Neigung haben, verlorenzugehen. «Kipler beugt sich vor und zeigt mit dem Finger auf Drummond.»Wenn ich Sie oder Ihre Mandanten dabei ertappe, daß Sie dem Kläger Dokumente vorenthalten, werde ich Ihnen beiden Sanktionen auferlegen. Ich werde Sie zu hohen Geldbußen verurteilen, in denen Kosten und Anwaltshonorare auf stündlicher Basis in der Höhe enthalten sind, die Sie Ihren Mandanten berechnen. Haben Sie mich verstanden?«

Derartige Sanktionen sind der einzige Weg, auf dem ich jemals zweihundertfünfzig Dollar pro Stunde verdienen werde.

Drummond und Genossen taumeln noch immer. Ich kann mir kaum vorstellen, wie dieser Brief auf die Geschworenen wirken wird, und ich bin sicher, daß sie dasselbe denken.

«Beschuldigen Sie mich, daß ich Ihnen Dokumente vorenthalte, Euer Ehren?«

«Noch nicht. «Kiplers Finger ist immer noch ausgestreckt.»Im Moment warne ich Sie nur.«

«Ich finde, Sie sollten diesen Fall abgeben, Euer Ehren.«

«Ist das ein Antrag?«

«Ja, Sir.«

«Abgelehnt. Sonst noch was?«

Drummond hantiert mit Papieren und schlägt ein paar Sekunden tot. Die arme Dot ist wie versteinert und denkt vermutlich, sie hätte etwas getan, das diese Funken hervorgerufen hat. Ich bin selbst ein wenig steif.

«Zurück zum Protokoll«, sagt Kipler, ohne Drummond auch nur einen Augenblick aus den Augen zu lassen.

Ein paar Fragen werden gestellt und beantwortet. Ein paar weitere Dokumente laufen über das Fließband. Um halb eins unterbrechen wir für die Mittagspause, und eine Stunde später sind wir wieder versammelt. Dot ist erschöpft.

Kipler gibt Drummond ziemlich streng zu verstehen, daß er die Sache beschleunigen soll. Er versucht es, aber es ist schwierig. Er tut dies schon so lange und hat dabei so viel Geld verdient, daß er buchstäblich endlos Fragen stellen könnte.

Meine Mandantin entschließt sich zu einer Strategie, für die ich sie bewundere. Sie erklärt den Anwesenden, außerhalb des Protokolls, daß sie ein Blasenproblem hat, nichts Ernstes, Sie wissen schon, aber schließlich ist sie fast sechzig. Jedenfalls muß sie, je weiter der Tag fortschreitet, immer öfter auf die Toilette. Drummond hat, wie nicht anders zu erwarten, ein Dutzend Fragen zu ihrer Blase, aber Kipler macht dem ein rasches Ende. Also entschuldigt sich Dot ungefähr alle Viertelstunde und verläßt den Gerichtssaal. Sie läßt sich viel Zeit.

Ich bin sicher, daß mit ihrer Blase alles in Ordnung ist, und ich bin auch sicher, daß sie sich in einer Kabine versteckt und wie ein Schornstein qualmt. Diese Strategie erlaubt es ihr, das Tempo vorzugeben, und entkräftet schließlich auch Drummond.

Um halb vier, sechseinhalb Stunden nachdem wir angefangen haben, erklärt Kipler die Vernehmung für beendet.

Zum ersten Mal seit über zwei Wochen sind sämtliche Mietwagen verschwunden. Nur Miss Birdies Cadillac steht noch da. Ich parke dahinter, auf meinem alten Platz, und gehe ums Haus herum. Niemand da.

Sie sind endlich abgereist. Ich habe seit dem Tag, an dem Delbert eingetroffen ist, nicht mehr mit Miss Birdie gesprochen, und es gibt einiges zu bereden. Ich bin nicht wütend, ich will nur ein bißchen plaudern.

Ich bin bei der Treppe zu meiner Wohnung angelangt, als ich eine Stimme höre. Es ist nicht die von Miss Birdie.

«Rudy, haben Sie eine Minute Zeit?«Es ist Randolph, der sich von einem Schaukelstuhl auf der Terrasse erhebt.

Ich deponiere meinen Aktenkoffer und mein Jackett auf der Treppe und gehe hinüber.

«Setzen Sie sich«, sagt er.»Wir müssen miteinander reden. «Er scheint hervorragender Stimmung zu sein.

«Wo ist Miss Birdie?«frage ich. Im Haus brennt kein Licht.

«Sie ist, äh, für eine Weile verreist. Will einige Zeit mit uns in Florida verbringen. Sie ist heute morgen abgeflogen.«

«Wann kommt sie zurück?«frage ich. Das geht mich im Grunde nichts an, aber fragen muß ich trotzdem.

«Das weiß ich nicht. Vielleicht überhaupt nicht. Hören Sie, von jetzt an werden wir, ich und Delbert, uns um ihre Angelegenheiten kümmern. Wahrscheinlich haben wir sie in letzter Zeit ein bißchen vernachlässigt, aber sie möchte trotzdem, daß wir alles in die Hand nehmen. Und wir möchten, daß Sie hier wohnen bleiben. Wir möchten Ihnen sogar ein Angebot machen. Sie bleiben hier, passen auf das Haus auf, halten alles in Ordnung, und dafür brauchen Sie keine Miete zu zahlen.«

«Was meinen Sie mit alles in Ordnung halten?«

«Nur das Übliche, nichts Ausgefallenes. Mama hat gesagt, Sie wären ihr in diesem Sommer eine große Hilfe gewesen, und Sie brauchen nur zu tun, was Sie bisher auch schon getan haben. Für die Post haben wir einen Nachsendeantrag gestellt, darum brauchen Sie sich also nicht zu kümmern. Falls sich irgendwelche schwerwiegenden Probleme ergeben sollten, rufen Sie mich an. Es ist ein gutes Angebot, Rudy.«

Das ist es in der Tat.»Ich nehme an«, sage ich.

«Gut. Mama mag Sie wirklich, wissen Sie, sie sagt, Sie wären ein netter junger Mann, dem man vertrauen kann. Obwohl Sie Anwalt sind. Ha, ha, ha.«

«Was ist mit ihrem Wagen?«

«Den fahre ich morgen nach Florida. «Er überreicht mir einen großen Umschlag.»Hier sind die Schlüssel zum Haus, die Telefonnummern des Versicherungsagenten, der Firma, die für die Alarmanlage verantwortlich ist, und so weiter. Dazu meine Adresse und Telefonnummer.«

«Wo wird sie wohnen?«

«Bei uns, in der Nähe von Tampa. Wir haben ein hübsches kleines Haus mit einem Gästezimmer. Wir werden gut für sie sorgen. Zwei von meinen Kindern wohnen ganz in der Nähe, sie wird also eine Menge Gesellschaft haben.«

Ich kann sie vor mir sehen, wie sie sich geradezu überschlagen, um Granny zu Diensten zu sein. Eine Zeitlang werden sie damit glücklich sein, sie unter ihrer Liebe zu ersticken, und dabei gleichzeitig hoffen, daß sie nicht mehr allzu lange lebt. Sie können es gar nicht abwarten, daß sie stirbt, damit sie alle reich werden. Es fällt mir sehr schwer, ein Grinsen zu unterdrücken.

«Das ist schön«, sage ich.»Sie ist eine sehr einsame alte Frau gewesen.«

«Sie mag sie wirklich, Rudy. Sie waren gut zu ihr. «Seine Stimme ist leise und aufrichtig, und ich verspüre einen Anflug von Traurigkeit.

Wir geben uns die Hand und sagen uns Lebewohl.

Ich schaukele in der Hängematte, erschlage Moskitos, starre den Mond an. Ich bezweifle ernsthaft, daß ich Miss Birdie je wiedersehen werde, und fühle mich plötzlich einsam. Diese Leute werden sie unter ihrer Fuchtel haben, bis sie tot ist, und sehr genau aufpassen, daß sie keine Gelegenheit bekommt, ihr Testament zu ändern. Ein bißchen schuldbewußt bin ich schon, weil ich schließlich die Wahrheit über ihren Reichtum kenne, aber das ist ein Geheimnis, das ich niemandem anvertrauen kann.

Gleichzeitig kann ich mir ein Lächeln über diese Wendung des Schicksals nicht verkneifen. Miss Birdie ist heraus aus ihrem einsamen alten Haus und nun statt dessen von ihren Angehörigen umgeben. Sie steht plötzlich im Zentrum der Aufmerksamkeit, eine Position, die sie immer ersehnt hat. Ich erinnere mich an sie im Cypress Gardens Senior Citizens Building, wie sie die Leute herumdirigiert, sie zum Singen animiert, Ansprachen gehalten, auf Bosco und die anderen Gruftis eingeredet hat. Sie hat ein Herz aus Gold, aber sie hungert nach Beachtung.

Ich hoffe, der Sonnenschein tut ihr gut und sie ist glücklich. Ich frage mich, wer wohl im Cypress Gardens ihren Platz einnehmen wird.

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