Kapitel 5

Wie eine Schlange, die sich durchs Unterholz windet, schleiche ich lange nach Mittag und Stunden nach dem Ende meiner beiden heutigen Vorlesungen in die Fakultät. Sportrecht und ausgewählte Texte aus dem Code Napoleon, was für ein Witz. Ich verstecke mich in meinem kleinen Nest im Kellergeschoß der Bibliothek.

Booker hat mich auf dem Sofa mit der erfreulichen Nachricht geweckt, daß er mit Marvin Shankle gesprochen hat und die Räder in der Innenstadt angefangen haben, sich zu drehen. Ein gewisser Captain wurde angerufen, und Mr. Shankle war zuversichtlich, daß die Dinge ins Lot gebracht werden können. Mr. Shankles Bruder ist Richter, und wenn die Anklage nicht fallengelassen wird, gibt es noch andere Möglichkeiten. Aber bisher ist immer noch nicht bekannt, ob die Polizei nach mir sucht oder nicht. Booker würde noch ein paar weitere Anrufe machen und mich auf dem laufenden halten.

Booker hat bereits ein Büro in der Kanzlei Shankle. Er hat schon in den letzten beiden Jahren stundenweise dort gearbeitet und dabei mehr gelernt als fünf von uns übrigen zusammen. Zwischen den Vorlesungen ruft er eine Sekretärin an, jongliert gekonnt mit seinem Terminkalender, erzählt mir von diesem und jenem Mandanten. Er wird einen guten Anwalt abgeben.

Es ist unmöglich, mit einem Kater klar zu denken. Ich kritzele Notizen an mich selbst auf einen Block, so von der Art, daß ich es geschafft habe, ungesehen in dieses Gebäude zu gelangen, aber wie geht's weiter? Ich werde ein paar Stunden hier warten, bis sich der Bau geleert hat. Es ist Freitagnachmittag, die trägste Zeit der Woche. Dann werde ich mich in die Stellenvermittlung schleichen und der Leiterin des Büros mein Leid klagen. Wenn ich Glück habe, gibt es vielleicht irgendeine obskure Behörde, die jeder andere Bewerber verschmäht hat und die immer noch zwanzigtausend im Jahr für einen klugen juristischen Kopf offeriert. Oder vielleicht hat ein kleiner Betrieb plötzlich festgestellt, daß er unbedingt einen Firmenanwalt braucht. An diesem Punkt sind nicht mehr viele Vielleichts übrig.

In Memphis gibt es eine Legende mit Namen Jonathan Lake, einen Absolventen der Fakultät, dem es auch nicht gelungen war, bei einer der großen Kanzleien in der Innenstadt einen Job zu bekommen. Das war vor ungefähr zwanzig Jahren. Die etablierten Kanzleien wollten Lake nicht haben, also mietete er ein paar Räume und brachte ein Schild an, auf dem stand, daß er bereit war, zu prozessieren. Er hungerte ein paar Monate, dann stürzte er eines Abends mit seinem Motorrad und wachte mit einem gebrochenen Bein in St. Peter's, dem Wohlfahrtskrankenhaus der Stadt, wieder auf. Bald danach wurde das Bett neben ihm mit einem Mann belegt, der ebenfalls einen Motorradunfall gehabt hatte. Dieser Mann hatte mehrere Knochenbrüche und außerdem erhebliche Brandwunden. Seine Freundin hatte sogar noch schlimmere Verbrennungen erlitten und starb nach ein paar Tagen. Lake und der Mann freundeten sich an. Lake übernahm beide Fälle. Wie sich herausstellte, war der Fahrer des Jaguars, der ein Stoppschild überfahren und das Motorrad gerammt hatte, auf dem Lakes neue Mandanten saßen, zufällig der Seniorpartner der drittgrößten Kanzlei von Memphis. Außerdem war er derselbe Mann, der sechs Monate zuvor das Vorstellungsgespräch mit Lake geführt und ihn abgewiesen hatte. Und er war betrunken, als er das Stoppschild überfuhr.

Lake stürzte sich in den Prozeß. Der betrunkene Seniorpartner hatte tonnenweise Versicherungen, mit denen seine Kanzlei Lake sofort zu überschütten begann. Alle wollten einen schnellen Vergleich. Sechs Monate, nachdem er das Anwaltsexamen bestanden hatte, schloß Lake die Fälle mit einer Vergleichssumme von zwei Komma sechs Millionen Dollar ab. In bar, keine langfristigen Auszahlungsvereinbarungen. Bar auf die Hand.

Der Legende zufolge hatte der Motorradfahrer, während sie beide im Krankenhaus lagen, gesagt, weil Lake so jung wäre und gerade mit dem Studium fertig, sollte er die Hälfte von dem bekommen, was er herausholte. Lake hatte es nicht vergessen. Der Motorradfahrer hielt Wort. Lake strich eins Komma drei Millionen ein, der Legende zufolge.

Was mich betrifft — ich würde mich mit meinen eins Komma drei Millionen in die Karibik absetzen, meine eigene Yacht segeln und Rumpunsch trinken.

Nicht so Lake. Er baute sich ein Büro, füllte es mit Sekretärinnen und Anwaltsgehilfen und Boten und Ermittlern und machte sich ernsthaft an die Arbeit. Er schuftete achtzehn Stunden am Tag und scheute sich nicht, jedermann vor Gericht zu bringen, der sich etwas hatte zuschulden kommen lassen. Er studierte fleißig, lernte ständig hinzu und wurde bald der schärfste Prozeßanwalt in ganz Tennessee.

Jetzt, zwanzig Jahre später, arbeitet Jonathan Lake immer noch achtzehn Stunden am Tag, besitzt eine Kanzlei mit elf angestellten Anwälten, hat keine Partner, verhandelt mehr große Fälle als jeder andere Anwalt in der Stadt und verdient, der Legende zufolge, so an die drei Millionen Dollar im Jahr.

Und er gibt sie mit vollen Händen aus. Drei Millionen Dollar im Jahr sind in Memphis schwer zu verheimlichen, also ist Jonathan Lake immer eine brandheiße Neuigkeit. Und seine Legende wächst. Alljährlich schreibt sich eine unbekannte Anzahl von Studenten nur wegen Jonathan Lake an dieser Fakultät ein. Sie haben den Traum. Und ein paar Graduierte verlassen diesen Laden hier ohne Jobs, weil sie sich nichts sehnlicher wünschen als eine Bude in der Innenstadt mit ihrem Namen an der Tür. Sie wollen hungern und die Pfennige zusammenkratzen, genau wie Lake.

Ich vermute, sie fahren sogar Motorrad wie er. Vielleicht ist es das, was vor mir liegt. Vielleicht besteht noch Hoffnung. Ich und Lake.

Ich erwische Max Leuberg in einem ungünstigen Moment. Er ist am Telefon, redet mit den Händen und flucht wie ein betrunkener Matrose. Irgend etwas über einen Prozeß in St. Paul, bei dem er aussagen soll. Ich tue so, als machte ich mir Notizen, betrachte den Fußboden, versuche, nicht zuzuhören, während er hinter seinem Schreibtisch herumstapft und an der Telefonschnur zerrt.

Er legt auf.»Sie haben sie beim Genick«, sagt er schnell zu mir und greift gleichzeitig nach irgend etwas in dem Chaos auf seinem Schreibtisch.

«Wen?«

«Great Benefit. Ich habe gestern abend die ganze Akte gelesen. Typischer Fall eines Debetversicherungsbetrugs. «Er greift sich eine Akte von einer Ecke seines Schreibtisches und läßt sich mit ihr auf seinen Stuhl sinken.»Wissen Sie, was eine Debetversicherung ist?«

Ich glaube es zu wissen, aber ich fürchte, er will Details.»Nicht genau.«

«Das sind billige kleine Policen, die von Haustür zu Haustür an Leute mit geringem Einkommen verkauft werden. Die Agenten, die die Policen verkaufen, kommen alle ein oder zwei Wochen vorbei, kassieren die Prämien und tragen das Debet in die Quittungsbücher ein, die bei den Versicherten verbleiben. Sie bearbeiten Leute ohne nennenswerte Schulbildung, und wenn Ansprüche gestellt werden, verweigern die Versicherer routinemäßig die Zahlung. Tut uns leid, keine Deckung aus diesem oder jenem Grund. Wenn es darum geht, sich Ablehnungsgründe einfallen zu lassen, sind sie äußerst kreativ.«

«Werden sie nicht verklagt?«

«Nicht sehr oft. Untersuchungen haben ergeben, daß nur ungefähr einer von dreißig Fällen böswilliger Leistungsverweigerung vor Gericht kommt. Die Gesellschaften wissen das natürlich, sie kalkulieren das mit ein. Vergessen Sie nicht, sie sind auf die ärmeren Schichten aus, auf Leute, die Angst haben vor Anwälten und dem Rechtssystem.«

«Was passiert, wenn sie verklagt werden?«

Er läßt vehement seine Knöchel knacken.»In der Regel nicht viel. Es hat ein paar Urteile mit hohen Geldstrafen gegeben. An einem oder zwei solchen Prozessen war ich selbst beteiligt. Aber die Jurys scheuen davor zurück, aus einfachen Leuten, die billige Versicherungen gekauft haben, Millionäre zu machen. Überlegen Sie doch mal. Da ist ein Kläger mit, sagen wir, fünftausend Dollar an legitimen Arztrechnungen, die eindeutig von der Police gedeckt sind. Aber die Versicherungsgesellschaft behauptet nein. Und die Gesellschaft ist, sagen wir, zweihundert Millionen schwer. Beim Prozeß verlangt der Anwalt des Klägers die fünftausend Dollar und außerdem ein paar Millionen als Strafe für den Übeltäter. Das funktioniert höchst selten. Sie werden die fünftausend bewilligen, zehntausend als Geldstrafe dazutun, und die Gesellschaft hat wieder gesiegt.«

«Aber Donny Ray Black stirbt. Und er stirbt, weil er die Knochenmarkstransplantation nicht bekommen kann, auf die er im Rahmen der Police Anspruch hat. Habe ich recht?«

Leuberg bedenkt mich mit einem boshaften Lächeln.»Sie haben vollkommen recht. Vorausgesetzt, daß die Eltern Ihnen alles gesagt haben. Verlassen kann man sich darauf nie.«

«Aber hier steht doch alles drin?«sage ich und deute auf die Akte.

Er zuckt die Achseln, nickt und lächelt abermals.»Dann ist es ein guter Fall. Kein großartiger, aber ein guter.«

«Das verstehe ich nicht.«

«Simpel, Rudy. Das hier ist Tennessee. Das Land mit den fünfstelligen Urteilen. Hier wird niemand zu einer Geldstrafe verurteilt. Die Geschworenen sind überaus konservativ. Das Pro-Kopf-Einkommen ist ziemlich niedrig, also fällt es den Geschworenen äußerst schwer, ihre Nachbarn zu reichen Leuten zu machen. Und in Memphis ist es besonders schwierig, ein anständiges Urteil herauszuschlagen.«

Ich wette, Jonathan Lake würde ein solches Urteil bewirken. Und vielleicht würde er mir ein Scheibchen abgeben, wenn ich ihm den Fall brächte. Ungeachtet meines Katers drehen sich die Rädchen in meinem Kopf.

«Also was soll ich tun?«

«Die Mistbande verklagen.«

«Ich habe noch keine Lizenz.«

«Nicht Sie. Schicken Sie diese Leute zu irgendeinem tüchtigen Prozeßanwalt. Telefonieren Sie mit ein paar Leuten, reden Sie mit dem Anwalt. Schreiben Sie einen zweiseitigen Bericht für Smoot, und damit ist die Sache für Sie erledigt. «Er springt auf, weil das Telefon läutet, und schiebt mir die Akte über den Schreibtisch hinweg zu.»Da drin ist eine Liste von mindestens drei Dutzend Leistungsverweigerungsfällen, die Sie lesen sollten. Nur für den Fall, daß es Sie interessiert.«

«Danke«, sage ich.

Er winkt mich hinaus. Beim Verlassen seines Büros höre ich Max Leuberg schon wieder ins Telefon röhren.

Das Jurastudium hat mich gelehrt, Recherchen zu hassen. Ich habe jetzt drei Jahre in diesem Bau gelebt, und zumindest die Hälfte dieser qualvollen Stunden habe ich damit verbracht, mich durch ramponierte alte Bücher hindurchzuwühlen, auf der Suche nach lange zurückliegenden Fällen, die irgendwelche primitiven juristischen Theorien stützen, an die seit Jahrzehnten kein vernünftiger Anwalt mehr gedacht hat. Hier liebt man es, einen auf Schatzsuche zu schicken. Die Professoren, von denen fast alle lehren, weil sie in der realen Welt nicht zurechtkommen, sind überzeugt, es wäre ein gutes Training für uns, wenn wir obskure Fälle ausgraben und anschließend sinnlose Schriftsätze darüber verfassen, damit wir gute Noten bekommen, die es uns ermöglichen, als gut ausgebildete junge Anwälte unser Brot zu verdienen.

So lief es vor allem in den ersten beiden Studienjahren. Jetzt ist es nicht mehr so schlimm. Und vielleicht hat der Wahnsinn dieses Trainings auch Methode. Ich habe Tausende von Geschichten gehört über die großen Kanzleien und ihre Praxis, Anfänger zwei Jahre lang in der Bibliothek schuften und Schriftsätze und Prozeßberichte schreiben zu lassen.

Alle Uhren bleiben stehen, wenn man mit einem Kater recherchiert. Die Kopfschmerzen werden schlimmer. Booker findet mich am späten Freitagnachmittag in meinem kleinen Nest mit einem Dutzend aufgeschlagener Bücher auf dem Tisch. Leubergs Liste der einschlägigen Fälle.»Wie geht es dir?«fragt er.

Booker trägt Jackett und Krawatte, und bestimmt ist er in seinem Büro gewesen, hat alle möglichen Leute angerufen und das Diktiergerät benutzt wie ein richtiger Anwalt.

«Ich bin okay.«

Er kniet sich neben mir hin und betrachtet den Stapel Bücher.»Was ist denn das?«fragt er.

«Nichts fürs Examen. Nur ein bißchen Recherche für Smoots Seminar.«

«Du hast für Smoots Seminar doch noch nie recherchiert.«

«Ich weiß. Ich bin mir meiner Schuld bewußt.«

Booker steht auf und lehnt sich an die Wand meiner Nische.»Zweierlei«, sagt er fast flüsternd.»Mr. Shankle glaubt, daß der kleine Zwischenfall bei Broadnax and Speer abgetan ist. Er hat mit ein paar Leuten telefoniert, und es wurde ihm versichert, daß die sogenannten Opfer nicht vorhaben, Anklage zu erheben.«

«Gut«, sage ich.»Danke, Booker.«

«Keine Ursache. Ich glaube, du kannst dich jetzt wieder hinauswagen. Das heißt, falls du dich von deinen Recherchen losreißen kannst.«

«Ich werde es versuchen.«

«Zweitens. Ich hatte ein langes Gespräch mit Mr. Shankle. Komme gerade aus seinem Büro. Und, also, im Moment ist nichts frei. Er hat drei neue Leute eingestellt, mich und zwei weitere aus Washington, und er weiß nicht einmal, wo er sie unterbringen soll. Er ist schon jetzt auf der Suche nach größeren Räumlichkeiten.«

«Das hättest du nicht zu tun brauchen, Booker.«

«Nein. Aber ich wollte es. Nicht der Rede wert. Mr. Shankle hat versprochen, ein paar Fühler auszustrecken, ein bißchen auf den Busch zu klopfen, du weißt schon. Er kennt eine Menge Leute.«

Ich bin so gerührt, daß mir beinahe die Worte fehlen. Noch vor vierundzwanzig Stunden hatte ich Aussicht auf einen guten Job mit einem hübschen Gehalt. Jetzt habe ich Leute, die ich nicht einmal kenne und die versuchen, ihren Einfluß geltend zu machen und irgendein winziges Fetzchen Arbeit für mich aufzuspüren.

«Danke«, sage ich, beiße mir auf die Lippe und starre auf meine Finger.

Er schaut auf die Uhr.»Ich muß los. Wollen wir morgen früh für das Examen lernen?«

«Natürlich.«

«Ich rufe dich an. «Er schlägt mir einmal aufmunternd auf die Schulter und verschwindet.

Um genau zehn Minuten vor fünf steige ich die Treppe zum Erdgeschoß hinauf und verlasse die Bibliothek. Ich halte jetzt nicht mehr Ausschau nach Polizisten, fürchte mich nicht davor, Sara Plankmore zu begegnen, mache mir nicht einmal mehr Sorgen wegen weiterer Zustellungsbeamter. Und ich habe praktisch überhaupt keine Angst vor unerfreulichen Begegnungen mit gewissen Kommilitonen. Sie sind alle verschwunden. Es ist Freitag, und die Fakultät ist menschenleer.

Das Vermittlungsbüro befindet sich im Erdgeschoß in der Nähe des Haupteingangs, wo die ganze Verwaltung untergebracht ist. Ich werfe einen Blick auf das Schwarze Brett, bleibe aber nicht davor stehen. Normalerweise hängen hier Dutzende von Stellenangeboten — bei großen und mittelgroßen Kanzleien, allein arbeitenden Anwälten, Privatfirmen, staatlichen Ämtern. Ein kurzer Blick sagt mir, was ich bereits weiß. Am Schwarzen Brett hängt keine einzige Notiz. Um diese Jahreszeit gibt es keinen Stellenmarkt.

Madeline Skinner leitet das Vermittlungsbüro hier schon seit Jahrzehnten. Einem Gerücht zufolge will sie in Pension gehen, aber ein anderes Gerücht besagt, daß sie jedes Jahr damit droht, um wieder irgend etwas aus dem Dekan herauszuquetschen. Sie ist sechzig und sieht aus wie siebzig, eine magere Frau mit kurzem grauen Haar, unzähligen Fältchen um die Augen herum und immer einer brennenden Zigarette im Aschenbecher. Vier Schachteln pro Tag heißt es, was schon irgendwie komisch ist, weil der Bau jetzt offiziell zur Nichtraucherzone erklärt wurde; aber niemand hat den Mut aufgebracht, Madeline das mitzuteilen. Sie ist eine überaus wichtige Persönlichkeit, weil sie die Leute anschleppt, die die Jobs anbieten. Wenn es keine Jobs gäbe, gäbe es auch keine Juristische Fakultät.

Und sie ist sehr gut bei dem, was sie tut. Sie kennt die richtigen Leute in den richtigen Kanzleien. Vielen der Leute, die jetzt für die Neueinstellungen zuständig sind, hat sie früher mal ihre Jobs verschafft, und sie ist brutal. Wenn ein Absolvent der Memphis State Personalchef einer großen Kanzlei ist und diese große Kanzlei Absolventen der Traditionsuniversitäten bevorzugt und unsere vernachlässigt, dann ruft, wie man sich erzählt, Madeline den Präsidenten der Universität an und bringt eine inoffizielle Beschwerde vor. Dann sucht, wie man sich ebenfalls erzählt, der Präsident die großen Kanzleien in der Innenstadt auf, speist mit den Partnern zu Mittag und stellt das Gleichgewicht wieder her. Madeline kennt jede freie Stelle in Memphis, und sie weiß ganz genau, wer für einen bestimmten Posten geeignet ist.

Aber ihr Job wird härter. Zu viele Leute mit einem juristischen Diplom. Und dies ist keine der Traditionsuniversitäten.

Sie steht beim Wasserkühler und schaut zur Tür, als wartete sie auf mich.»Hallo, Rudy«, sagt sie mit einer Stimme wie Sandpapier. Sie ist allein, alle anderen sind gegangen. In der einen Hand hält sie einen Becher mit Wasser, in der anderen eine dünne Zigarette.

«Hi«, sage ich mit einem Lächeln, als wäre ich der glücklichste Mensch auf der Welt.

Sie deutet mit dem Becher auf die Tür zu ihrem Büro.»Lassen Sie uns da drinnen reden.«

«Gern«, sage ich und folge ihr hinein. Sie macht die Tür zu und deutet auf einen Stuhl. Ich lasse mich darauf nieder, und sie setzt sich auf die Kante des Stuhls hinter ihrem Schreibtisch.

«Harter Tag, wie?«sagt sie, als wüßte sie über alles Bescheid, was vorgefallen ist.

«Habe schon bessere erlebt.«

«Ich habe heute morgen mit Loyd Beck gesprochen«, sagt sie langsam. Ich wollte, er wäre tot.

«Und was hat er gesagt?«frage ich in möglichst arrogantem Tonfall.

«Nun, ich habe gestern abend von der Fusion erfahren, und da habe ich mir Ihretwegen Sorgen gemacht. Sie waren der einzige, den wir bei Broadnax and Speer untergebracht hatten, also lag mir viel daran, zu erfahren, was mit Ihnen passiert.«

«Und?«

«Die Fusion kam ganz plötzlich, einmalige Chance und so weiter.«

«Dasselbe Gewäsch, mit dem man mich abgespeist hat.«

«Dann habe ich ihn gefragt, wann man Sie über die Fusion unterrichtet hat, und er redete um den heißen Brei herum und behauptete, dieser Partner oder jener Partner hätte mehrfach versucht, Sie anzurufen, aber das Telefon wäre abgestellt gewesen.«

«Das Telefon war vier Tage lang abgestellt.«

«Jedenfalls habe ich ihn gefragt, ob er mir eine Kopie des Schriftwechsels zwischen Broadnax and Speer und Ihnen, Rudy Baylor, faxen könnte, der sich auf die Fusion bezieht und Ihre Position, nachdem sie stattgefunden hat.«

«Es gibt keinen.«

«Ich weiß. Das zumindest hat er zugegeben. Es läuft darauf hinaus, daß er nichts unternommen hat, bis die Fusion unter Dach und Fach war.«

«Das stimmt. Nichts.«

«Also habe ich ihm in allen Einzelheiten klargemacht, daß er einen unserer Graduierten aufs Kreuz gelegt hat, und wir hatten am Telefon einen fürchterlichen Streit.«

Ich kann nicht anders, ich muß lächeln. Ich weiß, wer bei diesem Streit gewonnen hat.

Sie fährt fort:»Beck schwört, daß man Sie behalten wollte. Ich bin mir nicht sicher, ob ich das glauben kann, aber ich habe ihm erklärt, daß er schon vor langer Zeit darüber mit Ihnen hätte reden müssen. Sie sind Student, kurz vor der Graduierung, fast ein fertiger Anwalt, kein Eigentum. Ich habe ihm gesagt, ich wüßte, daß sein Laden eine Tretmühle ist, aber die Zeiten der Sklaverei wären vorbei. Er kann Sie nicht einfach nehmen oder wegschicken, vor die Tür setzen oder behalten, schützen oder umbringen.«

Braves Mädchen. Genau meine Meinung.

«Wir beendeten den Streit, und ich habe den Dekan aufgesucht. Der Dekan hat Donald Hucek angerufen, den geschäftsführenden Partner bei Tinley Britt. Es folgten einige weitere Telefonate, und Hucek war wieder am Apparat mit derselben Story — Beck wollte Sie behalten, aber Sie würden Tinley Britts

Anforderungen an neue Mitarbeiter nicht genügen. Der Dekan war mißtrauisch, also sagte Hucek, er würde einen Blick auf die Arbeiten werfen, die Sie vorgelegt hätten.«

«Ich wäre bei Trent & Brent fehl am Platze«, sage ich wie ein Mann mit vielen Optionen.

«Der Ansicht ist Hucek auch. Er sagte, Tinley Britt würde lieber passen.«

«Gut«, sage ich, weil mir nichts Intelligentes einfällt. Sie weiß es besser. Sie weiß, daß ich hier sitze und leide.

«Bei Tinley Britt haben wir nicht viel Einfluß. In den vergangenen drei Jahren haben sie nur fünf von unseren Graduierten eingestellt. Sie sind so groß geworden, daß man sie nicht unter Druck setzen kann. Offen gestanden, ich würde dort nicht arbeiten wollen.«

Sie versucht, mich zu trösten, mir das Gefühl zu vermitteln, daß mir etwas Gutes widerfahren ist. Wer braucht schon Trent & Brent und ihre Anfangsgehälter von fünfzigtausend Dollar im Jahr?

«Also, was ist noch übrig?«frage ich.

«Nicht viel«, sagt sie schnell.»Im Grunde gar nichts. «Sie wirft einen Blick auf ein paar Notizen.»Ich habe alle angerufen, die ich kenne. Da war ein Job als Assistent eines Pflichtverteidigers, Teilzeit, Zwölftausend im Jahr, aber der wurde vor zwei Tagen vergeben. Ich habe ihn Hall Pasterini verschafft. Sie kennen Hall? Er hat Glück gehabt. Endlich ein Job für ihn.«

Ich wollte, das Glück hätte ich auch.

«Und dann sind da noch zwei Stellen als Firmenanwalt bei kleinen Unternehmen, aber beide bestehen auf bestandenem Anwaltsexamen.«

Das Anwaltsexamen ist im Juli. Praktisch jede Kanzlei stellt ihre neuen Leute unmittelbar nach der Graduierung ein, bezahlt sie, bereitet sie auf das Examen vor, und wenn sie es bestanden haben, läuft alles wie am Schnürchen weiter.

Sie legt ihre Notizen auf den Tisch.»Ich bohre weiter, okay? Vielleicht ergibt sich doch noch etwas.«

«Was soll ich tun?«

«Klinken putzen. Es gibt in dieser Stadt dreitausend Anwälte, und die meisten von ihnen praktizieren allein oder mit ein oder zwei anderen. Sie arbeiten nicht mit dem Vermittlungsbüro hier zusammen, also kennen wir sie nicht. Ich an Ihrer Stelle würde mit den kleinen Sozietäten anfangen, zwei, drei, vielleicht vier Anwälte, die zusammenarbeiten, und versuchen, ihnen einen Job abzuschwatzen. Bieten Sie ihnen an, Karteileichen zu bearbeiten, das Geld für sie einzutreiben…«

«Karteileichen?«frage ich.

«Na ja. Jeder Anwalt hat doch ein paar Karteileichen, die er in irgendeiner vergessenen Ecke vor sich hin modern läßt, und je länger sie dort liegen, desto schlimmer stinken sie. Das sind die Fälle, von denen jeder Anwalt wünscht, er hätte sie nie übernommen.«

Was sie einem doch beim Studium alles nicht beibringen.

«Darf ich etwas fragen?«

«Natürlich.«

«Dieser Rat, den Sie mir eben gegeben haben, daß ich Klinken putzen soll — wie oft haben Sie den in den letzten drei Monaten erteilt?«

Sie lächelt kurz, dann konsultiert sie einen Computerausdruck.»Wir haben noch ungefähr fünfzehn Graduierte auf der Suche nach einem Job.«

«Also sind diese Leute vermutlich gerade jetzt unterwegs und kämmen die Straßen durch.«

«Vermutlich. Aber im Grunde ist das schwer zu sagen. Einige von ihnen haben andere Pläne, über die sie mich nicht immer informieren.«

Es ist nach fünf, und sie möchte gehen.»Danke, Mrs. Skinner. Für alles. Es ist schön zu wissen, daß sich jemand um mich sorgt.«

«Ich sehe mich weiter um, das verspreche ich Ihnen. Schauen Sie nächste Woche wieder herein.«

«Das werde ich. Danke.«

Ich kehre unbemerkt in meine Arbeitsnische zurück.

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