Kapitel 47

Sekunden, nachdem sich Payton Reisky früh am Donnerstag morgen munter im Zeugenstand niedergelassen hat, gebe ich ihm eine Kopie des Blöde-Briefes und fordere ihn auf, ihn zu lesen. Dann frage ich:»Also, Mr. Reisky, ist das nach Ihrer Expertenmeinung eine faire und vernünftige Reaktion von Great Benefit?«

Er ist vorgewarnt worden.»Natürlich nicht. Das ist fürchterlich.«

«Schockierend, nicht wahr?«

«Das ist es. Aber soweit ich weiß, ist der Schreiber dieses Briefes nicht mehr bei Great Benefit angestellt.«

«Wer hat Ihnen das gesagt?«frage ich argwöhnisch.

«Das weiß ich nicht so genau. Irgend jemand von der Firma.«

«Hat Ihnen diese unbekannte Person auch den Grund dafür genannt, weshalb Mr. Krokit nicht mehr bei der Firma angestellt ist?«

«Ich weiß es nicht genau. Vielleicht hatte es etwas mit diesem Brief zu tun.«

«Vielleicht? Sind Sie sicher, oder vermuten Sie es nur?«

«Genaueres weiß ich wirklich nicht.«

«Danke. Hat diese unbekannte Person Ihnen auch mitgeteilt, daß Mr. Krokit die Gesellschaft zwei Tage vor seiner vorgesehenen Vernehmung in diesem Fall verlassen hat?«

«Ich glaube nicht.«

«Sie wissen nicht, weshalb er sie verlassen hat?«

«Nein.«

«Gut. Ich glaubte schon, Sie versuchten bei den Geschworenen den Eindruck zu erwecken, als hätte er die Gesellschaft verlassen, weil er diesen Brief geschrieben hat. Sie haben doch nicht versucht, das zu tun?«

«Nein.«

«Danke.«

Beim Wein gestern abend sind wir übereingekommen, daß es ein Fehler wäre, Reisky die Handbücher um die Ohren zu schlagen. Für diese Entscheidung gab es mehrere Gründe. Erstens hat die Jury die Beweise bereits gehört. Zweitens wurden sie ihr auf eine sehr dramatische und wirkungsvolle Weise präsentiert, als wir Lufkin dabei ertappten, wie er das Blaue vom Himmel herunterlog. Drittens ist Reisky sehr wortgewandt und wird sich nur schwer festnageln lassen. Viertens hatte er genügend Zeit, sich auf die Attacke vorzubereiten, und wird seine Position besser behaupten können. Fünftens würde er die Chance nutzen, um die Geschworenen noch weiter zu verwirren. Und, was das wichtigste ist, es würde Zeit kosten. Ich könnte ohne weiteres den ganzen Tag damit verbringen, Reisky zu den Handbüchern und dem statistischen Material zu befragen. Damit würde ich einen Tag verlieren und keinen Schritt weiterkommen.

«Wer zahlt Ihnen Ihr Gehalt, Mr. Reisky?«

«Mein Arbeitgeber. Der Nationale Versicherungsverband.«

«Wer hat diesen Verband gegründet?«

«Die Versicherungsbranche.«

«Trägt Great Benefit zu seiner Finanzierung bei?«

«Ja.«

«Und wie hoch ist dieser Beitrag?«

Er schaut zu Drummond, der bereits auf den Beinen ist.»Einspruch, Euer Ehren, das ist irrelevant.«

«Abgelehnt. Ich halte das für durchaus relevant.«

«Wieviel, Mr. Reisky?«wiederhole ich hilfreich.

Er möchte es offensichtlich nicht sagen und wirkt verlegen.»Zehntausend Dollar im Jahr.«

«Also zahlen sie Ihnen mehr, als sie für Donny Ray Black gezahlt haben.«

«Einspruch!«

«Stattgegeben.«

«Tut mir leid, Euer Ehren. Ich nehme die Bemerkung zurück.«

«Ordnen Sie an, daß sie aus dem Protokoll gestrichen wird, Euer Ehren«, schnaubt Drummond wütend.

«Angeordnet.«

Wir schöpfen Atem, während sich die Aufregung wieder legt.»Tut mir leid, Mr. Reisky«, sage ich demütig mit betont reuiger Miene.

«Kommt all Ihr Geld von Versicherungsgesellschaften?«

«Wir haben keine anderen Geldgeber.«

«Wie viele Versicherungsgesellschaften tragen zur Finanzierung Ihres Verbandes bei?«

«Zweihundertzwanzig.«

«Und wie hoch war die Gesamtsumme dieser Beiträge im vorigen Jahr?«

«Sechs Millionen Dollar.«

«Und Sie benutzen dieses Geld, um die Interessen der Branche zu vertreten?«

«Ja, das gehört zu unseren Aufgaben.«

«Werden Sie für Ihr Erscheinen bei diesem Prozeß extra bezahlt?«

«Nein.«

«Weshalb sind Sie hier?«

«Weil sich Great Benefit mit mir in Verbindung gesetzt hat. Ich wurde gebeten, herzukommen und auszusagen.«

Sehr langsam drehe ich mich um und zeige auf Dot Black.»Und, Mr. Reisky, können Sie Mrs. Black ansehen, ihr in die Augen schauen und ihr sagen, daß der Anspruch ihres Sohnes von Great Benefit fair und angemessen gehandhabt wurde?«

Er braucht ein oder zwei Sekunden, bis es ihm gelingt, den Blick auf Mrs. Black zu richten, aber er hat keine andere Wahl. Er nickt, dann sagt er entschlossen:»Ja, das wurde er.«

Das hatte ich natürlich vorausgesehen. Ich wollte die Vernehmung von Mr. Reisky auf dramatische Weise beenden. Aber damit, daß es lustig werden würde, hatte ich weiß Gott nicht gerechnet. Mrs. Beverdee Hardaway, eine untersetzte, einundfünfzig Jahre alte Schwarze, die in der Mitte der vordersten Reihe der Geschworenenbank sitzt, lacht auf Reiskys absurde Antwort hin laut auf. Es ist ein plötzliches Auflachen, offensichtlich spontan, weil sie es so schnell wie möglich unterdrückt. Beide Hände fliegen zu ihrem Mund hoch. Sie knirscht mit den Zähnen und beißt die Kiefer zusammen und schaut sich hektisch um, um zu sehen, wieviel Schaden sie angerichtet hat. Aber ihr Körper zuckt leicht weiter.

Zu Mrs. Hardaways Pech, für uns dagegen recht erfreulich, ist der Moment ansteckend. Mr. Ranson Pelk, der direkt hinter ihr sitzt, wird von irgend etwas angesteckt, ebenso Mrs. Ella Faye Salter, die neben Mrs. Hardaway sitzt. Binnen Sekunden nach der ursprünglichen Eruption hat sich das Lachen über die Bänke der Geschworenen ausgebreitet. Einige Geschworene sehen Mrs. Hardaway an, als wäre noch immer sie die Missetäterin. Andere richten den Blick auf Reisky und schütteln in belustigter Verblüffung den Kopf.

Reisky geht vom Schlimmsten aus. Er nimmt an, er selbst wäre der Grund dafür, daß sie lachen. Sein Kopf sackt herunter, und er betrachtet den Fußboden. Drummond entscheidet sich dafür, es einfach zu ignorieren, aber es muß fürchterlich weh tun. Bei seinen jungen Strahlemännern ist kein Gesicht zu sehen. Sie haben alle ihre Nase in Akten und Bücher gesteckt. Aldy und Underhall betrachten ihre Socken.

Kipler würde am liebsten mitlachen. Er duldet die Heiterkeit kurze Zeit; erst als sie sich zu legen beginnt, läßt er seinen Hammer niederfahren, als wollte er offiziell die Tatsache festhalten, daß die Geschworenen über die Aussage von Payton Reisky gelacht haben.

Es geht ganz schnell. Die absurde Antwort, das Auflachen, das Unterdrücken, das Glucksen und Kichern und das skeptische Kopfschütteln, all das dauert nur ein paar Sekunden. Bei einigen Geschworenen stelle ich jedoch eine gewisse Erleichterung fest. Sie möchten lachen, ihrer Ungläubigkeit Ausdruck geben, und indem sie das tun, können sie, wenn auch nur eine Sekunde lang, Reisky und Great Benefit unmißverständlich mitteilen, was sie von dem halten, was sie da zu hören bekommen.

So kurz er auch ist, es ist ein goldener Moment. Ich lächle sie an. Sie lächeln mich an. Sie glauben alles, was meine Zeugen sagen. Drummonds Zeugen glauben sie kein Wort.

«Keine weiteren Fragen, Euer Ehren«, sage ich verächtlich, als hätte ich die Nase voll von diesem verlogenen Schurken.

Drummond ist offensichtlich überrascht. Er dachte, ich würde den ganzen Tag damit verbringen, mit den Handbüchern und den Statistiken auf Reisky einzuhämmern. Er raschelt mit Papier, füstert T. Price etwas zu, dann steht er auf und sagt:»Unser nächster Zeuge ist Richard Pellrod.«

Pellrod ist leitender Schadenssachbearbeiter. Bei der Vernehmung war er ein fürchterlicher Zeuge, der so tat, als bräche er unter der Last seines Amtes fast zusammen. Sein Auftreten ist keine Überraschung. Sie mußten etwas unternehmen, um Jackie Lemancyzk mit Dreck bewerfen zu können. Pellrod war ihr direkter Vorgesetzter.

Er ist sechsundvierzig, von mittlerem Körperbau mit einem Bierbauch, wenig Haar, einem nichtssagenden Gesicht, Leberflecken und einer dicken Brille. Dieser arme Kerl ist in keiner Hinsicht körperlich anziehend, aber es macht ihm offensichtlich nichts aus. Ich wette, wenn er sagt, Jackie Lemancyzk wäre nur eine Hure, die versucht hat, auch ihn zu umgarnen, dann werden die Geschworenen wieder laut auflachen.

Pellrod hat den jähzornigen Charakter, den man von einem Mann erwarten kann, der seit zwanzig Jahren in der Schadensabteilung arbeitet. Er ist nur eine Spur freundlicher als der durchschnittliche Rechnungseintreiber und kann den Geschworenen weder Wärme vermitteln noch Vertrauen einflößen. Er ist eine Firmenratte auf einem der niederen Ränge und hat wahrscheinlich solange, wie er sich erinnern kann, an demselben Schreibtisch gesessen.

Und er ist der Beste, den sie haben! Sie können Lufkin, Aldy oder Keeley nicht wieder hereinholen, weil die bei den Geschworenen bereits jede Glaubwürdigkeit verloren haben. Auf Drummonds Liste steht noch ein halbes Dutzend Männer aus der Zentrale in Cleveland, aber ich bezweifle, daß er einen von ihnen aufrufen wird. Was können sie schon sagen? Die Handbücher existieren nicht? Ihre Firma lügt nicht und unterschlägt keine Dokumente?

Drummond und Pellrod arbeiten sich eine halbe Stunde lang durch ein gründlich geprobtes Skript, wieder atemberaubende interne Vorgehensweisen in der Schadensabteilung, wieder heroische Anstrengungen von Great Benefit, die Versi-cherten fair zu behandeln, wieder Gähnen bei den Geschworenen.

Richter Kipler beschließt, sich in die Langweilerei einzuschalten. Er unterbricht das einstudierte Frage- und Antwortspiel und sagt:»Herr Anwalt, können Sie zu etwas anderem übergehen?«

Drummond macht einen schockierten und verletzten Eindruck.»Aber, Euer Ehren, ich habe das Recht auf eine eingehende Befragung dieses Zeugen.«

«Das haben Sie. Aber der größte Teil dessen, was er bisher gesagt hat, ist der Jury bereits bekannt. Das ist pure Wiederholung.«

Drummond kann es einfach nicht glauben. Er ist fassungslos und versucht, ziemlich erfolglos, so zu reagieren, als würde er vom Richter schikaniert.

«Ich kann mich nicht erinnern, daß Sie den Vertreter der Anklage aufgefordert haben, seine Verhöre abzukürzen.«

Das hätte er nicht sagen sollen. Er versucht, diesen Wortwechsel zu verlängern, aber er legt sich mit dem falschen Richter an.»Das liegt daran, daß Mr. Baylor die Geschworenen wach hält, Mr. Drummond. Und jetzt gehen Sie zu etwas anderem über.«

Mrs. Hardaways Ausbruch und das anschließende Gelächter hat die Geschworenen offensichtlich gelockert. Sie sind jetzt lebhafter und eher bereit, auf Kosten der Verteidigung zu lachen.

Drummond funkelt Kipler an, als gedächte er, diese Sache bei anderer Gelegenheit noch mal zur Sprache und ins rechte Lot zu bringen. Zurück zu Pellrod, der dasitzt wie eine Kröte, mit nur halb geöffneten Augen und zur Seite geneigtem Kopf. Es wurden Fehler gemacht, gesteht Pellrod mit einem schwachen Versuch, Reue zu zeigen, aber keine schwerwiegenden. Und, ob man es glaubt oder nicht, die meisten Fehler gehen auf das Konto von Jackie Lemancyzk, einer jungen Frau mit vielen Problemen.

Für eine Weile zurück zur Black-Akte. Pellrod spricht über einige der weniger belastenden Dokumente. Er äußert sich nicht über die Ablehnungsschreiben, sondern verbringt statt dessen eine Menge Zeit mit Papierkram, der irrelevant und unwichtig ist.

«Mr. Drummond«, unterbricht Kipler streng,»ich habe Sie gebeten, zu etwas anderem überzugehen. Diese Dokumente liegen den Geschworenen vor, und diese Aussagen wurden bereits von anderen Zeugen gemacht. Und jetzt sehen Sie bitte zu, daß Sie vorankommen.«

Drummonds Gefühle sind verletzt. Er wird von einem unfairen Richter vermahnt und gemaßregelt. Er braucht einige Zeit, um sich wieder zu fassen. Er ist mit seiner Leistung nicht auf der Höhe.

Sie entschließen sich zu einer neuen Strategie hinsichtlich des Schadenshandbuchs. Pellrod sagt, es ist nur ein Leitfaden, nicht mehr und nicht weniger. Er persönlich hat seit Jahren keinen Blick mehr in das verdammte Ding geworfen. Es wird so oft geändert, daß die erfahrenen Schadenssachbearbeiter es einfach ignorieren. Drummond zeigt ihm Abschnitt U, und, es ist kaum zu glauben, er hat ihn noch nie gesehen. Hat für ihn ebensowenig Bedeutung wie für die vielen Sachbearbeiter, die ihm unterstehen. Er persönlich kennt keinen einzigen Sachbearbeiter, der dieses Handbuch zu Rate zieht.

Also wie werden die Ansprüche in Wirklichkeit bearbeitet? Pellrod sagt es uns. Von Drummond dazu aufgefordert, befördert er einen hypothetischen Anspruch durch die normalen Kanäle. Schritt um Schritt, Formular um Formular, Aktennotiz um Aktennotiz. Pellrods Stimme verbleibt in derselben Oktave, und er langweilt die Geschworenen zu Tode. Lester Days, einer der Geschworenen in der hinteren Reihe, nickt ein. Überall Gähnen und schwere Lider, während sie vergeblich versuchen, wach zu bleiben.

Das bleibt nicht unbemerkt.

Wenn Pellrod unter seinem Versagen, die Geschworenen zu beeindrucken, leidet, läßt er es sich nicht anmerken. Seine Stimme und sein Verhalten ändern sich nicht. Er endet mit ein paar bestürzenden Enthüllungen über Jackie Lemancyzk. Es war bekannt, daß sie Probleme mit dem Trinken hatte, und sie kam oft nach Alkohol riechend zur Arbeit. Sie blieb dem Büro öfter fern als die anderen Sachbearbeiter. Sie wurde immer verantwortungsloser, und ihre Kündigung war unvermeidlich. Was war mit ihren sexuellen Eskapaden?

Hier müssen Pellrod und Great Benefit vorsichtig sein, weil dieses Thema an einem anderen Tag in einem anderen Gerichtssaal zur Sprache kommen wird. Was immer hier gesagt wird, wird protokolliert und kann später verwendet werden. Also begibt sich Drummond klugerweise, anstatt sie zu einer Hure zu machen, die bereitwillig mit jedem ins Bett ging, auf eine höhere Ebene.

«Darüber weiß ich wirklich nichts«, sagt Pellrod und kassiert einen kleinen Punkt bei den Geschworenen.

Sie schlagen noch ein bißchen mehr Zeit tot und ziehen es fast bis zwölf Uhr hin, bevor Pellrod mir ausgeliefert wird. Kipler will für den Lunch unterbrechen, aber ich versichere ihm, daß es nicht lange dauern wird. Er erklärt sich widerstrebend einverstanden.

Ich fange damit an, daß ich Pellrod eine Kopie des Abweisungsschreibens gebe, das er unterzeichnet und an Dot Black geschickt hat. Es war die vierte Abweisung, und sie wurde damit begründet, daß Donny Rays Leukämie eine Krankheit wäre, die bereits vor Vertragsabschluß bestanden hätte. Ich fordere ihn auf, den Brief den Geschworenen vorzulesen, und er gibt zu, daß er ihn geschrieben hat. Ich lasse zu, daß er zu erklären versucht, weshalb er ihn geschrieben hat; aber natürlich gibt es dafür keine Erklärung. Der Brief war eine Privatangelegenheit zwischen Pellrod und Dot Black, nie dazu bestimmt, irgend jemand anderem unter die Augen zu kommen, schon gar nicht in diesem Gerichtssaal.

Er redet über ein Formular, das irrtümlich von Jackie ausgefüllt wurde, und über ein Mißverständnis mit Mr. Krokit; nun ja, die ganze Sache war einfach ein Versehen. Und es tut ihm sehr leid.

«Es ist ein bißchen spät für eine Entschuldigung, nicht wahr?«

«Vermutlich.«

«Als Sie diesen Brief schrieben, haben Sie nicht gewußt, daß es noch vier weitere Abweisungsschreiben geben würde, oder?«

«Nein.«

«Also sollte dieser Brief die endgültige Abweisung von Mrs. Blacks Anspruch sein, richtig?«

Der Brief enthält die Worte» endgültige Abweisung«.

«Vermutlich.«

«Woran ist Donny Ray Black gestorben?«

Er zuckt die Achseln.»Leukämie.«

«Und welche Krankheit führte zur Erhebung des Anspruchs?«

«Leukämie.«

«Auf welche Vorerkrankung bezieht sich Ihr Schreiben?«

«Eine Grippe.«

«Und wann hatte er diese Grippe?«

«Das weiß ich nicht genau.«

«Ich kann die Akte holen, wenn Sie sie mit mir durchsehen wollen.«

«Nein, das ist okay. «Alles, um mich von der Akte fernzuhalten.»Ich glaube, er war fünfzehn oder sechzehn«, sagt er.

«Er hatte also eine Grippe, als er fünfzehn oder sechzehn war, also bevor die Police ausgestellt wurde, und sie wurde im Antrag nicht erwähnt.«

«Das ist richtig.«

«Also. Mr. Pellrod, haben Sie im Laufe Ihrer langjährigen Erfahrung mit Schadensfällen jemals einen Fall erlebt, bei dem eine Grippe irgend etwas mit einer fünf Jahre später ausgebrochenen Leukämie zu tun hatte?«

Darauf gibt es nur eine Antwort, aber er kann sie einfach nicht geben.»Ich glaube nicht.«

«Heißt das nein?«

«Ja, es heißt nein.«

«Also hatte die Grippe nichts mit der Leukämie zu tun?«

«Nein.«

«Also haben Sie in Ihrem Brief gelogen, nicht wahr?«

Natürlich hat er in seinem Brief gelogen, und wenn er behaupten würde, er hätte damals nicht gelogen, würde er jetzt lügen. Den Geschworenen würde es nicht entgehen. Er sitzt in der Falle, aber Drummond hatte Zeit, mit ihm zu arbeiten.

«Der Brief war ein Irrtum«, sagt Pellrod.

«Eine Lüge oder ein Irrtum?«

«Ein Irrtum.«

«Ein Irrtum, der dazu beigetragen hat, daß Donny Ray Black gestorben ist?«

«Einspruch!«brüllt Drummond von seinem Platz aus.

Kipler denkt eine Sekunde darüber nach. Ich hatte einen Einspruch erwartet, und ich rechne damit, daß ihm stattgegeben wird. Seine Ehren jedoch ist anderer Ansicht.»Abgelehnt. Beantworten Sie die Frage.«

«Ich möchte einen grundsätzlichen Einspruch gegen diese Art der Befragung erheben«, sagt Drummond wütend.

«Zur Kenntnis genommen. Bitte beantworten Sie die Frage, Mr. Pellrod.«

«Es war ein Irrtum, mehr kann ich dazu nicht sagen.«

«Keine Lüge?«

«Nein.«

«Was ist mit Ihrer Aussage vor dieser Jury? Steckt sie voller Lügen oder voller Irrtümer?«

«Keines von beidem.«

Ich drehe mich um und zeige auf Dot Black, dann wende ich mich wieder an den Zeugen.»Mr. Pellrod, können Sie als leitender Schadenssachbearbeiter Mrs. Black hier in die Augen sehen und ihr sagen, daß der Anspruch ihres Sohnes von Ihrer Gesellschaft fair gehandhabt wurde? Können Sie das?«

Er zwinkert und windet sich und runzelt die Stirn und wirft Drummond einen Instruktionen heischenden Blick zu. Er räuspert sich, versucht, den Beleidigten zu spielen, sagt:»Ich glaube nicht, daß ich dazu gezwungen werden kann.«

«Danke. Keine weiteren Fragen.«

Ich habe weniger als fünf Minuten gebraucht, und die Verteidigung ist ins Schleudern gekommen. Sie dachte, wir würden den Tag mit Reisky verbringen und dann morgen mit Pellrod weitermachen. Aber ich denke nicht daran, mit diesen Affen Zeit zu vergeuden. Ich will zu den Geschworenen sprechen.

Kipler ordnet eine zweistündige Lunchpause an. Ich nehme Leo beiseite und gebe ihm eine Liste von sechs zusätzlichen Zeugen.

«Was zum Teufel ist das?«fragt er.

«Sechs Ärzte, alle aus der Stadt, alles Onkologen, alle bereit, hier auszusagen, falls Sie Ihren Quacksalber aufrufen. «Walter Kord ist wütend über Drummonds Vorhaben, Knochenmarkstransplantationen als ein experimentelles Verfahren hinzustellen. Er hat seine Partner und Freunde bekniet, und sie stehen bereit, um auszusagen.

«Er ist kein Quacksalber.«

«Sie wissen, daß er ein Quacksalber ist. Er ist ein Spinner aus New York oder irgendeiner anderen fernen Stadt. Ich habe hier sechs Einheimische. Rufen Sie ihn auf. Könnte lustig werden.«

«Diese Zeugen wurden nicht in der Vorverhandlung benannt. Eine solche Überrumpelung ist unfair.«

«Sie sind Widerlegungszeugen. Beschweren Sie sich beim Richter. «Ich gehe fort, während er noch dasteht und auf meine Liste starrt.

Nach dem Lunch, aber bevor Kipler die Sitzung wieder eröffnet hat, unterhalte ich mich neben meinem Tisch mit Dr. Walter Kord und zweien seiner Partner. In der vordersten Reihe hinter dem Tisch der Verteidigung sitzt ganz für sich allein Dr. Milton Jiffy, Drummonds Quacksalber. Während sich die Anwälte auf die Nachmittagssitzung vorbereiten, rufe ich Drummond herbei und mache ihn mit Kords Partnern bekannt. Es ist ein peinlicher Moment. Drummond ist sichtlich betroffen von ihrer Anwesenheit im Saal. Die drei Ärzte nehmen ihre Plätze in der vordersten Reihe hinter mir ein. Die fünf Clowns von Trent & Brent können nicht anders, sie müssen sie anstarren.

Die Geschworenen werden hereingeführt, und Drummond ruft Jack Underhall in den Zeugenstand. Er wird vereidigt, setzt sich und grinst die Geschworenen idiotisch an. Sie haben ihn jetzt seit drei Tagen ständig vor Augen gehabt, und ich kann nicht begreifen, wie Drummond auf die Idee kommt, daß man diesem Kerl glauben könnte.

Seine Absicht wird rasch deutlich. Alles dreht sich um Jackie Lemancyzk. Sie hat über die zehntausend Dollar Bargeld gelogen. Sie hat über das Unterschreiben der Abmachung gelogen, weil es keine Abmachung gibt. Sie hat über das System der Zahlungsverweigerung gelogen. Sie hat über den Sex mit ihren Bossen gelogen. Sie hat sogar gelogen, als sie behauptete, die Firma hätte die Bezahlung ihrer Arztrechnungen verweigert. Underhalls Stimme klingt zuerst leicht mitfühlend, wird aber bald schrill und rachsüchtig. Es ist unmöglich, diese grauenhaften Dinge mit einem Lächeln vorzubringen, aber er scheint felsenfest entschlossen zu sein, kein gutes Haar an ihr zu lassen.

Es ist ein kühnes und riskantes Manöver. Die Tatsache, daß dieser Gangster jemanden des Lügens beschuldigt, ist eine schamlose Ironie. Sie sind zu dem Schluß gekommen, daß dieser Prozeß weitaus wichtiger ist als alle späteren von Jackie Lemancyzk angestrengten Verfahren. Drummond ist offenbar willens, die totale Abneigung der Geschworenen in Kauf zu nehmen, wenn er dafür genügend Schmutz aufwirbeln kann, um das Wasser zu trüben. Und vermutlich denkt er, daß er kaum etwas zu verlieren hat bei dieser gemeinen Attacke auf eine junge Frau, die nicht anwesend ist und sich nicht wehren kann.

Jackies Arbeit war miserabel, teilt Underhall uns mit. Sie trank und harte Probleme, mit ihren Kollegen und Kolleginnen auszukommen. Es mußte etwas unternommen werden. Sie gaben ihr die Chance, zu kündigen, damit sie keinen dunklen Fleck in ihren Papieren hätte. Das alles hatte nichts zu tun mit der Tatsache, daß sie vernommen werden sollte, nicht das allergeringste mit dem Black-Fall.

Seine Aussage ist bemerkenswert kurz. Sie hoffen, ihn in den Zeugenstand und wieder heraus zu bekommen, ohne daß dadurch wesentlicher Schaden angerichtet wird. Es gibt nicht viel, was ich tun kann, aber ich hoffe, die Geschworenen verabscheuen ihn ebensosehr wie ich. Er ist Anwalt und nicht gerade jemand, mit dem ich mich anlegen möchte.

«Mr. Underhall, gibt es in Ihrer Firma Personalakten?«frage ich sehr höflich.

«Ja.«

«Haben Sie eine Akte über Jackie Lemancyzk?«

«Ja.«

«Haben Sie sie bei sich?«

«Nein, Sir.«

«Wo befindet sie sich?«

«Im Büro, nehme ich an.«

«In Cleveland?«

«Ja. Im Büro.«

«Also können wir sie uns nicht ansehen?«

«Ich habe sie nicht bei mir. Und ich wurde auch nicht aufgefordert sie mitzubringen.«

«Enthält sie auch Leistungsbeurteilungen und dergleichen?«

«Ja.«

«Wenn eine Angestellte eine Abmahnung erhält, heruntergestuft oder versetzt wird, steht das dann in der Personalakte?«

«Ja.«

«Finden sich in Jackies Akte derartige Angaben?«

«Ich nehme es an.«

«Enthält ihre Akte eine Kopie ihrer Kündigung?«

«Ja.«

«Aber was den Inhalt der Akte angeht, müssen wir uns auf Ihr Wort verlassen, richtig?«

«Ich wurde nicht aufgefordert, sie mitzubringen, Mr. Baylor.«

Ich werfe einen Blick auf meine Notizen und räuspere mich.»Mr. Underhall, haben Sie eine Kopie der Abmachung, die Jak-kie unterschrieben hat, als Sie ihr das Geld gaben und sie versprach, Stillschweigen zu bewahren?«

«Ihr Gehör scheint nicht in Ordnung zu sein.«

«Wie bitte?«

«Ich habe gerade ausgesagt, daß es keine derartige Abmachung gibt.«

«Sie meinen, sie existiert nicht?«

Er schüttelt vehement den Kopf.»Sie hat nie existiert. Sie hat gelogen.«

Ich tue überrascht, dann gehe ich langsam zu meinem Tisch, der mit Papieren übersät ist. Ich finde das, was ich wollte,

überfliege es, von allen beobachtet, nachdenklich und kehre dann mit dem Blatt Papier zum Podium zurück. Underhalls Rücken versteift sich, und er wirft einen verzweifelten Blick zu Drummond hinüber, der in diesem Moment das Papier in meiner Hand anstarrt. Sie denken an die Abschnitte U. Baylor hat es wieder geschafft! Er hat die vergrabenen Dokumente gefunden und uns beim Lügen ertappt.

«Aber Jackie Lemancyzk war sehr präzise, als sie den Geschworenen erzählte, was sie unterschreiben mußte. Erinnern Sie sich an ihre Aussage?«Ich lasse das Blatt vor dem Podium baumeln.

«Ja, ich habe ihre Aussage gehört«, sagt er. Seine Stimme ist jetzt ein wenig höher, seine Worte angespannter.

«Sie sagte, Sie hätten ihr zehntausend Dollar in bar gegeben und sie gezwungen, eine Abmachung zu unterschreiben. Erinnern Sie sich daran?«Ich schaue auf das Papier, als läse ich, was darauf steht. Jackie hat mir erzählt, daß die Geldsumme im ersten Absatz der Abmachung stand.

«Ja, ich habe es gehört«, sagt er und sieht Drummond an. Underhall weiß, daß ich keine Kopie der Abmachung habe, weil er das Original irgendwo vergraben hat. Aber sicher kann er nicht sein. Es passieren die merkwürdigsten Dinge. Wie in aller Welt konnte ich den Abschnitt U finden?

Er kann nicht zugeben, daß eine derartige Abmachung existiert. Und abstreiten kann er es auch nicht. Wenn er es abstreitet und ich dann plötzlich eine Kopie vorlege, wird der Schaden erst abzuschätzen sein, wenn die Geschworenen mit ihrem Spruch zurückkehren. Er zappelt, windet sich, wischt sich den Schweiß von der Stirn.

«Und Sie haben keine Kopie der Abmachung, die Sie den Geschworenen zeigen könnten?«sage ich, das Blatt Papier in meiner Hand schwenkend.

«Nein. Es gibt keine solche Abmachung.«

«Sind Sie sicher?«frage ich, fahre mit dem Finger an den Kanten des Blattes entlang, streichele es.

«Ich bin sicher.«

Ich starre ihn ein paar Sekunden an und genieße es, ihn leiden zu sehen. Die Geschworenen haben nicht ans Schlafen gedacht. Sie warten darauf, daß die Axt niedersaust, daß ich die Abmachung hervorzaubere und zusehe, wie er zu Boden geht.

Aber ich kann es nicht. Ich knülle das bedeutungslose Blatt Papier zusammen und werfe es dramatisch auf den Tisch.»Keine weiteren Fragen«, sage ich. Underhall atmet hörbar auf. Ein Herzanfall ist vermieden worden. Er springt aus dem Zeugenstand und verläßt den Saal.

Drummond bittet um fünf Minuten Pause. Kipler entscheidet, daß die Geschworenen mehr brauchen, und entläßt uns für eine Viertelstunde.

Die Strategie der Verteidigung, die Aussagen hinzuschleppen und die Geschworenen dadurch zu verwirren, hat offensichtlich nicht funktioniert. Die Geschworenen haben über Reisky gelacht und Pellrod verschlafen. Underhall war eine fast tödliche Katastrophe, weil Drummond befürchtete, ich hätte eine Kopie eines Dokuments, das angeblich nicht existiert.

Drummond reicht es. Er wird seine Chancen in einem kraftvollen Schlußplädoyer wahrnehmen, wenigstens etwas, wo ihm niemand hineinpfuschen kann. Nach der Pause verkündet er, daß die Verteidigung keine weiteren Zeugen aufzurufen gedenkt.

Der Prozeß ist nahezu vorüber. Kipler setzt die Schlußplädoyers auf neun Uhr am Freitag morgen an. Er verspricht den Geschworenen, daß ihnen der Fall um elf Uhr übergeben wird.

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