Montag morgen. Jetzt, da ich ein vermögender Mann bin und Zeit habe, schlafe ich bis neun, ziehe eine bequeme KhakiHose und Turnschuhe an, keine Krawatte, und bin gegen zehn im Büro. Mein Partner ist damit beschäftigt, die Black-Akte in Kartons zu packen und die Tische zusammenzuklappen, die unser vorderes Büro monatelang verstopft haben. Wir grinsen beide und lächeln über alles mögliche. Der Druck ist weg. Wir sind ausgeruht, jetzt können wir uns freuen. Er läuft hinunter und holt Kaffee, dann sitzen wir an meinem Schreibtisch und lassen unsere schönste Stunde noch einmal Revue passieren.
Deck hat den Artikel aus der gestrigen Memphis Press ausgeschnitten für den Fall, daß ich ein zweites Exemplar brauche. Ich bedanke mich bei ihm, sage, es könnte sein, daß ich es brauche; dabei liegt in meiner Wohnung ein Dutzend Exemplare der Zeitung. Der Bericht stand auf der Titelseite des Lokalteils, ein langer, gut geschriebener Artikel über meinen Triumph, mit einem ziemlich großen Foto von mir an meinem Schreibtisch. Ich konnte gestern den ganzen Tag den Blick nicht davon abwenden. Die Zeitung wurde in dreihunderttausend Haushalte geliefert. So viel Werbung kann man mit Geld nicht kaufen.
Es sind ein paar Faxe eingegangen. Zwei von ehemaligen Studienkollegen mit Glückwünschen. Ein sehr nettes von Madeline Skinner in der Juristischen Fakultät. Und zwei von Max Leuberg. Das erste ist die Kopie eines kurzen Artikels aus einer Zeitung in Chicago über das Urteil. Das zweite ist die Kopie eines Artikels, der gestern in einer Zeitung in Cleveland gestanden hat. Darin wird der Black-Fall ausführlich beschrieben und dann auf die wachsenden Schwierigkeiten verwiesen, in denen Great Benefit steckt. Mindestens sieben Staaten, darunter Ohio, ermitteln inzwischen gegen die Firma. Überall im Lande werden Klagen von Inhabern von Policen eingereicht, und viele weitere werden erwartet. Man rechnet damit, daß das Urteil von Memphis eine Flut von Prozessen auslösen wird.
Ha, ha, ha. Wir freuen uns über den Jammer, den wir ausgelöst haben. Wir lachen, als wir uns Mr. Wilfred Keeley vorstellen, wie er abermals seine Bilanz studiert und versucht, mehr Geld darin zu finden. Irgendwo muß es doch stecken!
Ein Bote erscheint mit einem prächtigen Blumenarrangement, einem Glückwunsch von Booker Kane und seinen Kollegen in der Kanzlei von Marvin Shankle.
Ich hatte damit gerechnet, daß das Telefon ununterbrochen läuten und Mandanten anrufen würden, denen es um eine solide juristische Vertretung zu tun wäre. Bisher ist nichts dergleichen passiert. Deck sagt, vor zehn wären zwei Anrufe gekommen, von denen einer falsch verbunden war. Ich mache mir keine Sorgen.
Um elf ruft Kipler an, und ich wechsle zu dem sauberen Telefon über, nur für den Fall, daß Drummond immer noch mithört. Er hat eine interessante Story, eine, die auch mich betreffen könnte. Vor Beginn des Prozesses am vorigen Montag, als wir alle in seinem Amtszimmer saßen, hatte ich zu Drummond gesagt, daß wir einen Vergleich über eins Komma zwei Millionen abschließen könnten. Drummond hatte es empört abgelehnt, und der Prozeß nahm seinen Lauf. Allem Anschein nach hat er es unterlassen, die Leute von Great Benefit über dieses Angebot zu informieren, und die behaupten jetzt, sie hätten ernsthaft erwogen, mir zu zahlen, was ich haben wollte. Ob die Firma zu jenem Zeitpunkt dem Vergleich zugestimmt hätte, weiß der Himmel, aber in der Rückschau sind eins Komma zwei Millionen wesentlich leichter zu verdauen als fünfzig Komma zwei. Auf jeden Fall behauptet die Firma jetzt, sie hätte dem Vergleich zugestimmt, und sie behauptet außerdem, ihr Anwalt, der große Leo F. Drummond, hätte einen schwerwiegenden Fehler begangen, als er es unterließ oder sich weigerte, sie über mein Angebot zu informieren.
Underhall, der Firmenanwalt, hat den ganzen Morgen am Telefon gehangen und mit Drummond und Kipler gesprochen. Great Benefit ist wütend, gedemütigt und verletzt und offensichtlich auf der Suche nach einem Sündenbock. Drummond hat zuerst abgestritten, daß es je passiert ist, aber das hat Kipler gleich im Keim erstickt. Und das ist der Punkt, an dem ich ins Spiel komme. Es könnte sein, daß sie eine eidesstattliche Erklärung von mir brauchen, in der ich die Fakten so schildere, wie sie mir in Erinnerung sind. Gern, sage ich. Ich mache mich gleich an die Arbeit.
Great Benefit hat Drummond und Trent & Brent bereits entlassen, und es könnte noch viel schlimmer kommen. Underhall hat davon gesprochen, die Kanzlei wegen sträflichen Fehlverhaltens zu verklagen. Die Folgen wären katastrophal. Wie alle Kanzleien hat auch Trent & Brent eine Haftpflichtversicherung, aber die hat ihre Grenzen. Eine Police über fünfzig Millionen Dollar ist undenkbar. Ein Fünfzig-Mülionen-Dollar-Fehler von Leo F. Drummond würde die Kanzlei in ernsthafte finanzielle Schwierigkeiten stürzen.
Ich kann nicht anders — ich muß lächeln, als ich das höre. Nachdem ich den Hörer aufgelegt habe, erzähle ich Deck den Inhalt des Gesprächs. Der Gedanke, daß Trent & Brent von einer Versicherungsgesellschaft verklagt wird, ist einfach umwerfend.
Der nächste Anruf kommt von Cooper Jackson. Er und seine Freunde haben heute morgen vor dem Bundesgericht in Charlotte Klage eingereicht. Sie vertreten mehr als zwanzig Inhaber von Policen, die 1991, im Jahr des großen Systems, von Great Benefit aufs Kreuz gelegt wurden. Wenn ich nichts dagegen hätte, würde er bei Gelegenheit gern zu mir kommen und meine Akte durchsehen. Gern, sage ich, jederzeit.
Deck und ich gehen zum Lunch zu Moe's, einem alten Restaurant in der Nähe der Gerichte, in dem vorzugsweise Anwälte und Richter verkehren. Ich bekomme ein paar Blicke, ein Händeschütteln, einen Schlag auf den Rücken von einem ehemaligen Mitstudenten. Ich sollte öfter hier essen.
Unsere Aktion ist für heute abend, Montag, angesetzt, weil der Boden trocken ist und die Temperatur bei fünf Grad plus liegt. Die letzten drei Spiele sind wegen schlechten Wetters ausgefallen. Was sind das für Irre, die im Winter Softball spielen? Kelly beantwortet meine Frage nicht. Es liegt auf der Hand, mit was für einem Irren wir es zu tun haben. Sie ist sicher, daß sie heute abend spielen werden, weil es sehr wichtig für sie ist. Sie haben zwei Wochen ohne Sieg hinter sich, also keine Bierparties hinterher und keine Heldentaten, deren sie sich rühmen konnten. Cliff würde es nicht wagen, das Spiel zu versäumen.
Es fängt um sieben an, und sicherheitshalber fahren wir an dem Softballfeld vorbei. PFX Freights spielt tatsächlich. Ich gebe Gas. Ich habe so etwas noch nie gemacht, und ich bin ziemlich nervös. Wir sind beide nervös. Wir reden nicht viel. Je näher wir der Wohnung kommen, desto schneller fahre ich. Ich habe einen.38er unter dem Sitz und bin entschlossen, sie griffbereit zu halten.
Kelly meint, daß wir in zehn Minuten drinnen und wieder draußen sein können, wenn er nicht die Schlösser ausgewechselt hat. Sie will die meisten ihrer Kleider holen und noch ein paar andere Sachen. Zehn Minuten ist das Maximum, erkläre ich ihr, weil Nachbarn uns beobachten könnten. Und diese Nachbarn könnten auf die Idee kommen, Cliff anzurufen. Und wer weiß, was dann passiert.
Ihre Verletzungen wurden ihr vor fünf Tagen beigebracht, und das Schlimmste ist überstanden. Sie kann fast ohne Schmerzen laufen. Sie behauptet, sie wäre kräftig genug, um ihre Sachen zusammenzuklauben und sich schnell zu bewegen. Aber wir müssen es schon gemeinsam tun.
Die Wohnanlage ist eine Viertelstunde von dem Softballfeld entfernt. Sie besteht aus einem halben Dutzend dreistöckiger Häuser, zwischen denen es einen Pool und zwei Tennisplätze gibt. Achtundsechzig Wohnungen, verkündet das Schild. Gott sei Dank liegt ihre Wohnung im Erdgeschoß. Ich kann nicht in der Nähe der Haustür parken, also beschließe ich, daß wir zuerst in die Wohnung gehen und alles holen, was sie haben will, dann fahre ich auf den Rasen, werfe alles auf den Rücksitz, und wir verschwinden.
Ich stelle den Wagen ab und hole tief Luft.
«Hast du Angst?«fragt sie.
«Ja. «Ich greife unter den Sitz und hole die Waffe hervor.
«Beruhige dich, er ist auf dem Spielfeld. Er würde es um nichts in der Welt versäumen.«
«Wenn du meinst. Also, dann los.«
Wir schleichen durch die Dunkelheit zu ihrer Wohnung, ohne jemanden zu sehen. Ihr Schlüssel paßt, die Tür ist offen, wir sind drinnen. In der Küche und auf dem Flur ist eine Lampe eingeschaltet, und das Licht reicht aus. Auf zwei Stühlen im Wohnzimmer liegen Kleidungsstücke. Die Beistelltische und der Fußboden sind übersät mit leeren Bierdosen und Chipstüten. Cliff, der Strohwitwer, ist ein ziemlicher Liederjan. Sie bleibt eine Sekunde stehen und sieht sich angewidert um.»Tut mir leid«, meint sie.
«Beeil dich, Kelly«, sage ich. Ich lege die Waffe auf die schmale Durchreiche zwischen Wohnzimmer und Küche. Wir gehen ins Schlafzimmer, wo ich eine kleine Lampe einschalte. Das Bett ist seit Tagen nicht gemacht. Noch mehr Bierdosen und eine Pizzaschachtel. Ein Playboy. Sie zeigt auf die Schubladen einer kleinen, billigen Kommode.»Da sind meine Sachen«, sagt sie. Wir füstern.
Ich ziehe die Kopfkissenbezüge ab und fange an, sie mit Wäsche, Strümpfen und Schlafanzügen vollzustopfen. Kelly holt Kleider aus dem Schrank. Ich trage eine Ladung davon ins Wohnzimmer und hänge sie über einen Stuhl, dann kehre ich ins Schlafzimmer zurück. Sie sagt nichts, gibt mir eine weitere Ladung, und ich bringe sie ins Wohnzimmer. Wir arbeiten schnell und schweigend.
Ich komme mir vor wie ein Dieb. Jede Bewegung macht zuviel Lärm. Mein Herz klopft, während ich mit einer Ladung nach der anderen vom Schlafzimmer ins Wohnzimmer renne.
«Das reicht«, sage ich schließlich. Sie trägt einen vollgestopften Kopfkissenbezug, und ich folge ihr mit mehreren Kleidern auf Bügeln ins Wohnzimmer.»Laß uns verschwinden«, sage ich, jetzt überaus nervös.
Dann hören wir ein leises Geräusch an der Tür. Jemand versucht, hereinzukommen. Wir erstarren und sehen uns an. Sie tut einen Schritt auf die Tür zu, als sie plötzlich auffliegt und gegen die Wand schleudert. Cliff Riker stürmt herein.»Kelly! Ich bin zu Hause!«ruft er, als er sie über einen Stuhl fallen sieht. Ich stehe direkt vor ihm, kaum zwei Meter entfernt, und er bewegt sich schnell. Alles, was ich sehen kann, ist sein gelbes PFX-Freights-Trikot, seine roten Augen und seine Lieblingswaffe. Ich erstarre vor Entsetzen, als er den AluminiumSoftballschläger hebt und Anstalten macht, ihn auf meinen Kopf niedersausen zu lassen.»Du Dreckskerl!«brüllt er. Trotz meiner Erstarrung gelingt es mir, mich zu ducken, nur Millisekunden bevor der Schläger über mich hinwegsaust. Ich kann hören, wie er zischt, ich spüre seine Gewalt. Sein Home-run-Schlag trifft eine unglückliche kleine Holzfigur am Rand der Durchreiche, zertrümmert sie und fegt einen Stapel schmutziges Geschirr herunter. Kelly schreit. Der Schlag sollte meinen Schädel zertrümmern, und als er danebenging, wirbelte sein Körper weiter herum, so daß er mir jetzt den Rücken zudreht. Ich stürze mich wie ein Wahnsinniger auf ihn und werfe ihn über den mit Kleidern und Kleiderbügeln beladenen Stuhl. Kelly schreit abermals, irgendwo hinter mir.»Hol die Waffe!«schreie ich.
Er ist schnell und stark und wieder auf den Beinen, bevor ich mein Gleichgewicht zurückgewonnen habe.»Ich bring dich um!«brüllt er, holt abermals aus und verfehlt mich wieder, als ich mit knapper Not ausweiche. Der zweite Schlag trifft nichts als Luft.»Du Dreckskerl!«faucht er und reißt den Schläger herum.
Eine dritte Chance bekommt er nicht, entscheide ich rasch. Bevor er den Schläger erneut heben kann, hole ich zu einem rechten Haken auf sein Gesicht aus. Er landet auf seinem Kinn und macht ihn gerade lang genug benommen, daß ich ihm einen Tritt zwischen die Beine versetzen kann. Mein Fuß landet zielgenau. Ich höre und spüre, wie seine Hoden aufplatzen, und er stößt einen Schmerzensschrei aus. Er läßt den Schläger sinken, und ich packe ihn und reiße ihn ihm aus der Hand.
Ich schwinge ihn hoch, und er landet direkt oberhalb des linken Ohrs, und bei dem Geräusch wird mir fast schlecht. Knochen knirschen und brechen. Er fällt auf alle viere, sein Kopf hängt eine Sekunde herab, dann dreht er sich um und sieht mich an. Er hebt den Kopf und versucht, aufzustehen. Mein zweiter Schwinger beginnt an der Zimmerdecke, und in ihm steckt alle Kraft, die ich aufbringen kann. Ich lasse den
Schläger voller Haß und Angst niederfahren, und er landet mitten auf seinem Schädel.
Ich will abermals ausholen, aber Kelly ergreift meinen Arm.»Hör auf, Rudy.«
Ich halte inne, sehe erst sie an und dann Cliff. Er liegt flach auf dem Bauch, zitternd und stöhnend. Wir sehen entsetzt zu, wie er still wird. Nur ein gelegentliches Zucken, dann versucht er, etwas zu sagen, aber es kommt nur ein kehliges Röcheln heraus. Er versucht den Kopf zu bewegen, der heftig blutet.
«Ich bringe das Schwein um, Kelly«, sage ich, schwer atmend, immer noch verängstigt, immer noch wütend.
«Nein.«
«Doch. Er hätte uns umgebracht.«
«Gib mir den Schläger.«
«Was?«
«Gib mir den Schläger, dann geh.«
Ich bin verblüfft, wie ruhig sie in diesem Moment ist. Sie weiß genau, was zu tun ist.
«Was…«, versuche ich zu fragen, sehe erst sie und dann ihn
an.
Sie nimmt mir den Schläger aus der Hand.»Ich weiß, wie das läuft. Verschwinde. Versteck dich irgendwo. Du warst heute abend nicht hier. Ich rufe dich später an.«
Ich kann nichts tun als still dastehen und den zuckenden, sterbenden Mann auf dem Boden ansehen.
«Bitte, geh jetzt, Rudy«, sagt sie und schiebt mich sanft zur Tür.»Ich ruf dich später an.«
«Okay, okay. «Ich gehe in die Küche, hebe den heruntergefallenen.38er auf und kehre ins Wohnzimmer zurück. Wir sehen uns gegenseitig an, dann richten wir den Blick auf den Fußboden. Ich gehe hinaus, mache leise die Tür hinter mir zu und halte Ausschau nach neugierigen Nachbarn. Niemand zu sehen. Ich zögere einen Moment und höre nichts aus der Wohnung.
Mir ist schlecht. Ich schleiche davon in die Dunkelheit, plötzlich schweißnaß am ganzen Körper.
Es dauert zehn Minuten, bis der erste Streifenwagen eintrifft. Gleich darauf kommt ein zweiter. Dann eine Ambulanz. Ich sitze auf einem vollbesetzten Parkplatz geduckt in meinem Volvo und beobachte alles. Sanitäter rennen in die Wohnung. Noch ein Streifenwagen. Rotes und blaues Blinklicht erhellt den Abend und zieht eine Menschenmenge an. Minuten vergehen, und keine Spur von Cliff. Ein Sanitäter erscheint in der Haustür und läßt sich Zeit damit, etwas aus der Ambulanz zu holen. Er hat es kein bißchen eilig.
Kelly ist allein da drinnen, verängstigt, und beantwortet hundert Fragen, wie es passiert ist, und ich sitze hier, plötzlich Mr. Feigling, ducke mich hinter mein Lenkrad und hoffe, daß mich niemand sieht. Warum habe ich sie allein gelassen? Sollte ich losgehen und sie retten? In meinem Kopf herrscht Chaos, mein Blick ist verschwommen, und die hektisch blitzenden roten und blauen Lichter blenden mich.
Er kann nicht tot sein. Schwerverletzt, vielleicht. Aber nicht tot.
Ich denke, ich werde wieder zu ihr in die Wohnung gehen.
Der Schock läßt nach, und jetzt überfällt mich die Angst. Ich wünsche mir, daß sie Cliff auf einer Tragbahre herausbringen und mit ihm davonjagen, ihn ins Krankenhaus bringen, ihn wieder zusammenflicken. Plötzlich will ich ihn am Leben sehen. Mit einem lebendigen Cliff, selbst einem irren, kann ich fertig werden. Komm schon, Cliff. Komm schon, Junge. Steh auf und komm da drüben raus.
Ich habe doch keinen Mann umgebracht.
Die Menge wird größer, und ein Polizist winkt die Leute zurück.
Ich verliere alles Gespür für die Zeit. Ein Leichenwagen trifft ein, und das löst in der Menge aufgeregtes Gemurmel aus. Cliff wird nicht in der Ambulanz fahren. Cliff wird ins Leichenschauhaus gebracht.
Ich öffne die Tür und erbreche mich so leise wie möglich gegen den neben meinem stehenden Wagen. Niemand hört mich. Dann wische ich mir den Mund ab und dränge mich in die Menge.»Nun hat er sie schließlich doch umgebracht«, höre ich jemanden sagen. Polizisten eilen in die Wohnung und wieder heraus. Ich bin fünfzehn Meter entfernt, verborgen in einem Meer von Gesichtern. Die Polizei spannt ein gelbes Band um das gesamte Ende des Gebäudes. Für ein paar Sekunden flammt hinter den Fenstern das Blitzlicht einer Kamera auf.
Wir warten. Ich muß sie sehen, aber es gibt nichts, was ich tun könnte. Ein weiteres Gerücht macht die Runde durch die Menge, und diesmal trifft es zu. Er ist tot. Und sie glauben, daß sie ihn umgebracht hat. Ich höre aufmerksam zu, was gesagt wird, denn wenn jemand gesehen hat, wie ein Fremder nicht lange nach dem Gebrüll und Geschrei die Wohnung verlassen hat, dann muß ich es wissen. Ich bewege mich langsam herum und höre genau hin. Ich erfahre nichts. Dann ziehe ich mich für ein paar Sekunden zurück und erbreche mich abermals hinter ein paar Sträuchern.
An der Haustür bewegt sich etwas. Ein Sanitäter kommt rückwärts heraus und zieht eine Bahre hinter sich her. Der Tote steckt in einem silberfarbenen Plastiksack. Sie rollen ihn den Fußweg entlang zum Leichenwagen, dann bringen sie ihn weg. Minuten später erscheint Kelly, flankiert von zwei Polizisten. Sie sieht winzig und verängstigt aus. Aber wenigstens trägt sie keine Handschellen. Sie hatte Gelegenheit, sich umzuziehen und trägt jetzt Jeans und einen Parka.
Sie verfrachten sie auf den Rücksitz eines Streifenwagens und fahren davon. Ich gehe rasch zu meinem Wagen und mache mich auf den Weg zum Polizeirevier.
Ich informiere den diensthabenden Sergeant, daß ich Anwalt bin, daß meine Mandantin soeben festgenommen wurde und daß ich darauf bestehe, bei ihrem Verhör zugegen zu sein. Ich sage dies mit hinreichendem Nachdruck, und er ruft irgend jemanden an. Ein weiterer Sergeant kommt mich holen, und ich werde in den zweiten Stock gebracht, wo Kelly allein in einem Verhörzimmer sitzt. Ein Detektiv namens Smotherton mustert sie durch ein einseitiges Fenster. Ich gebe ihm eine meiner Karten. Er weigert sich, mir die Hand zu reichen.
«Ihr Burschen seid immer schnell zur Stelle, nicht wahr?«sagt er verächtlich.
«Sie hat mich angerufen, gleich nachdem sie 911 gewählt hatte. Was haben Sie festgestellt?«
Wir betrachten sie beide. Sie sitzt am Ende eines langen Tisches und wischt sich die Augen mit einem Papiertaschentuch.
Smotherton grunzt, während er überlegt, was er mir sagen soll.»Fanden ihren Mann tot auf dem Fußboden, Schädelbruch, sieht aus wie von einem Baseballschläger. Sie hat nicht viel gesagt, nur daß sie sich scheiden lassen will, sich in die Wohnung geschlichen hat, um ihre Sachen zu holen, er fand sie, sie kämpften. Er war ziemlich betrunken. Irgendwie bekam sie den Schläger in die Hand, und jetzt ist er im Leichenschauhaus. Sie betreiben ihre Scheidung?«
«Ja. Ich kann Ihnen eine Kopie zugehen lassen. Vorige Woche hat der Richter angeordnet, daß er sich von ihr fernzuhalten hat. Er hat sie seit Jahren immer wieder geschlagen.«
«Wir haben die Verletzungen gesehen. Ich möchte ihr nur ein paar Fragen stellen, okay?«
«Klar. «Wir betreten gemeinsam das Zimmer. Kelly ist überrascht, mich zu sehen, schafft es aber, cool zu bleiben. Wir umarmen uns auf höfliche Anwalt-Mandanten-Manier. Ein weiterer Detektiv in Zivil erscheint, Officer Hamlet, der ein Aufnahmegerät mitbringt. Ich habe keine Einwände. Nachdem er es eingeschaltet hat, ergreife ich die Initiative.»Fürs Protokoll. Ich bin Rudy Baylor, Anwalt von Kelly Riker. Heute ist Montag, der 15. Februar 1993. Wir befinden uns im Polizeipräsidium von Memphis. Ich bin anwesend, weil meine Mandantin mich um ungefähr neunzehn Uhr fünfundvierzig heute abend angerufen hat. Sie hatte gerade 911 gewählt und sagte, sie glaubte, ihr Mann wäre tot.«
Ich nicke Smotherton zu, als wäre er jetzt an der Reihe, und er sieht mich an, als würde er mich am liebsten erwürgen. Polizisten hassen Verteidiger, aber im Augenblick ist mir das völlig egal.
Smotherton beginnt mit einer Reihe von Fragen über Kelly und Cliff — grundlegende Informationen wie Geburtsdaten, Eheschließung, Beschäftigung, Kinder und so weiter. Sie beantwortet sie geduldig, mit einem abwesenden Ausdruck in
den Augen. Die Schwellung ist aus ihrem Gesicht verschwunden, aber ihr linkes Auge ist immer noch schwarz und blau, und die Braue ist noch immer verpflastert. Sie ist völlig verängstigt.
Sie beschreibt die Mißhandlungen so detailliert, daß wir alle drei entsetzt sind. Smotherton schickt Hamlet los, die Unterlagen über Cliff's drei Festnahmen wegen der Mißhandlungen zu holen. Sie redet über Vorfälle, über die es keine Unterlagen gibt, weil sie nie schriftlich festgehalten wurden. Sie erzählt von dem Softballschläger und wie er damit ihren Knöchel gebrochen hat. Er hat sie auch ein paarmal so geschlagen, wenn er ihr gerade nicht die Knochen brechen wollte.
Sie redet über die letzte Attacke, dann über den Entschluß, ihn zu verlassen und sich zu verstecken und die Scheidung einzureichen. Sie ist durch und durch glaubwürdig, weil alles wahr ist. Es sind die kommenden Lügen, die mir Sorgen machen.
«Weshalb sind Sie heute abend in die Wohnung gegangen?«fragt Smotherton.
«Um meine Sachen zu holen. Ich war sicher, daß er nicht dasein würde.«
«Wo haben Sie die letzten Tage verbracht?«
«In einem Haus für mißhandelte Frauen.«
«Wo ist das?«
«Das möchte ich nicht sagen.«
«Hier in Memphis?«
«Ja.«
«Wie sind Sie heute abend zu Ihrer Wohnung gekommen?«
Bei dieser Frage setzt mein Herz einen Schlag aus, aber sie hat bereits darüber nachgedacht.»Mit meinem Wagen«, sagt sie.
«Was für ein Wagen ist das?«
«Ein Volkswagen-Käfer.«
«Wo ist er jetzt?«
«Auf dem Parkplatz vor meiner Wohnung.«
«Können wir ihn uns ansehen?«
«Nicht, bevor ich es getan habe«, sage ich, mich plötzlich erinnernd, daß ich hier der Anwalt bin und nicht etwa ein Mitverschwörer.
Smotherton schüttelt den Kopf. Wenn Blicke töten könnten.
«Wie sind Sie in die Wohnung gekommen?«
«Mit meinem Schlüssel.«
«Was haben Sie getan, als Sie drinnen waren?«
«Ich bin ins Schlafzimmer gegangen und habe angefangen, meine Sachen zusammenzupacken. Ich habe zwei oder drei Kopfkissenbezüge vollgestopft und einen Haufen Zeug ins Wohnzimmer getragen.«
«Wie lange waren Sie dort, bevor Mr. Riker nach Hause kam?«
«Vielleicht zehn Minuten.«
«Was ist dann passiert?«
An dieser Stelle unterbreche ich.»Diese Frage wird sie nicht beantworten, bevor ich Gelegenheit gehabt habe, mit ihr zu sprechen und diesen Punkt zu klären. Das Verhör ist jetzt beendet. «Ich strecke die Hand aus und drücke auf den roten Stoppknopf des Recorders. Smotherton beschäftigt sich eine Minute damit, seine Notizen durchzulesen. Hamlet kommt mit dem Computerausdruck zurück, und sie studieren ihn gemeinsam. Kelly und ich ignorieren uns gegenseitig, aber unter dem Tisch berühren sich unsere Füße.
Smotherton schreibt etwas auf ein Blatt Papier und gibt es mir.»Dies wird als Tötungsdelikt behandelt, aber es geht an die Abteilung Mißhandlungen im häuslichen Bereich bei der Staatsanwaltschaft. Die zuständige Dame heißt Morgan Wilson. Von jetzt an ist es ihr Fall.«
«Aber Sie behalten sie hier?«
«Mir bleibt nichts anderes übrig. Ich kann sie nicht einfach laufenlassen.«
«Wie lautet die Anklage?«
«Totschlag.«
«Sie können sie in meinen Gewahrsam entlassen.«
«Nein, das kann ich nicht«, erwidert er wütend.»Was für eine Art von Anwalt sind Sie?«
«Dann entlassen Sie sie gegen Kautionszusage.«
«Funktioniert nicht«, sagt er mit einem frustrierten Lächeln zu Hamlet.»Wir haben einen Toten. Die Kaution muß von einem Richter festgesetzt werden. Bringen Sie ihn dazu, daß er das tut, dann kann sie gehen. Ich bin nur ein bescheidener Detective.«
«Ich muß ins Gefängnis?«fragt Kelly.
«Wir haben keine andere Wahl, Madam«, sagt Smotherton, plötzlich viel netter.»Wenn Ihr Anwalt hier sein Geld wert ist, holt er Sie irgendwann morgen wieder raus. Das heißt, wenn Sie Kaution stellen können. Aber ich kann Sie nicht einfach gehen lassen, nur weil ich es möchte.«
Ich lange über den Tisch und ergreife ihre Hand.»Das ist richtig, Kelly. Ich hole dich morgen heraus, so früh wie möglich. «Sie nickt rasch und beißt die Zähne zusammen, versucht, stark zu sein.
«Können Sie sie in eine Einzelzelle bringen?«frage ich Smotherton.
«Für das Gefängnis bin ich nicht zuständig, Sie Klugscheißer. Wenn Sie so ein toller Hecht sind, dann reden Sie mit den Wärtern. Die freuen sich immer, wenn sie es mit einem Anwalt zu tun haben.«
Provozier mich nicht, Freundchen. Einen Schädel habe ich heute abend bereits eingeschlagen. Wir starren uns voller Haß an.»Danke«, sage ich.
«Nichts zu danken. «Er und Hamlet schieben ihre Stühle zurück und stapfen auf die Tür zu.»Sie haben fünf Minuten«, sagt er über die Schulter hinweg. Sie knallen die Tür ins Schloß.
«Rühr dich nicht von der Stelle«, sage ich fast lautlos.»Sie beobachten uns durch dieses Fenster dort. Und das Zimmer ist vermutlich verwanzt, also sei vorsichtig mit dem, was du sagst.«
Sie sagt gar nichts.
Ich spiele meine Anwaltsrolle weiter.»Tut mir sehr leid, daß das passiert ist«, sage ich steif.
«Was bedeutet Totschlag?«
«Das kann eine Menge bedeuten, aber im Grunde ist es Mord ohne Tötungsabsicht.«
«Wie viele Jahre könnte ich bekommen?«
«Zuerst einmal müßtest du verurteilt werden, und dazu kommt es nicht.«»Versprichst du mir das?«
«Ich verspreche es. Hast du Angst?«
Sie wischt sich sorgfältig die Augen ab und denkt lange nach.»Er hat eine große Familie, und sie sind alle genau wie er. Lauter gewalttätige Saufbolde. Ich habe fürchterliche Angst vor ihnen.«
Darauf fällt mir keine Erwiderung ein. Ich habe auch Angst vor ihnen.
«Sie können mich nicht zwingen, zu seiner Beerdigung zu gehen, oder?«
«Nein.«
«Gut.«
Ein paar Minuten später kommen sie, um sie abzuholen, und diesmal legen sie ihr Handschellen an. Ich sehe zu, wie sie sie den Korridor entlangführen. Sie bleiben vor einem Fahrstuhl stehen, und Kelly reckt den Kopf an einem der Polizisten vorbei, um mich zu sehen. Ich winke langsam, dann ist sie verschwunden.