Kapitel 53

Das Hinscheiden von Great Benefit mag in Cleveland eine Sensation sein, aber in Memphis nimmt man es kaum zur Kenntnis. Es steht kein Wort darüber in der Mittwochszeitung. Sie enthält einen kurzen Bericht über Cliff Riker. Die Autopsie hat ergeben, daß er an mehreren Schlägen mit einem stumpfen Gegenstand auf den Kopf gestorben ist. Seine Witwe ist verhaftet und wieder freigelassen worden. Seine Familie will Gerechtigkeit. Seine Beisetzung findet morgen in dem kleinen Nest statt, aus dem er und Kelly geflüchtet sind.

Während Deck und ich die Zeitung lesen, trifft ein Fax aus Peter Corsas Kanzlei ein. Es ist die Kopie eines langen Artikels auf der Titelseite einer Zeitung in Cleveland mit den neuesten Entwicklungen im PinnConn-Skandal. Mindestens zwei Geschworenengerichte werden sich mit der Sache befassen. Ganze Wagenladungen von Klagen werden eingereicht gegen diese Firma und ihre Tochtergesellschaften, insbesondere Great Beneft, deren Konkursanmeldung einen eigenen Artikel verdient. Überall werden Anwälte aktiv.

M. Wilfred Keeley wurde gestern nachmittag am KennedyFlughafen festgenommen, als er eine Maschine nach Heathrow besteigen wollte. Seine Frau war bei ihm, und sie behaupteten, sie wollten nur einen kurzen Urlaub machen. Sie waren jedoch nicht imstande, den Namen eines Hotels in Europa anzugeben, in dem sie erwartet würden.

Es sieht so aus, als wären die Firmen in den letzten beiden Monaten restlos ausgeplündert worden. Anfangs wurde das Geld dazu benutzt, Fehlinvestitionen auszugleichen; dann haben sie es einbehalten und in Steueroasen auf der ganzen Welt transferiert. Auf jeden Fall ist es verschwunden.

Der erste Anruf des Tages kommt von Leo Drummond. Er erzählt mir von Great Beneft, als hätte ich keine Ahnung. Wir unterhalten uns kurz, und es ist schwer zu sagen, wer deprimierter ist. Keiner von uns wird für den Krieg bezahlt werden, den wir gerade geführt haben. Seine Auseinandersetzung mit seinem ehemaligen Mandanten über mein Vergleichsangebot erwähnt er nicht; das hat sich jetzt ohnehin von selbst erledigt. Sein ehemaliger Mandant ist nicht in der Verfassung, eine Klage wegen sträflichen Fehlverhaltens einzureichen. Er ist dem Black-Urteil wirkungsvoll entgangen, also kann er nicht behaupten, durch schlechte juristische Arbeit von Drummond geschädigt worden zu sein. Trent & Brent ist noch einmal davongekommen.

Der zweite Anruf kommt von Roger Rice, Miss Birdies neuem Anwalt. Er gratuliert mir zu dem Urteil. Wenn er wüßte! Er sagt, er habe über mich nachgedacht, seit er mein Foto in der Sonntagszeitung gesehen hat. Miss Birdie versucht, ihr Testament abermals zu ändern, und in Florida haben sie genug von ihr. Delbert und Randolph ist es schließlich gelungen, ihre Unterschrift auf einem selbstverfaßten Dokument zu bekommen, mit dem sie dann zu den Anwälten in Atlanta gefahren sind und eine volle Offenlegung des Vermögens ihrer Mutter verlangt haben. Die Anwälte mauerten. Die Brüder haben Atlanta zwei Tage lang belagert. Einer der Anwälte rief Roger Rice an, und die Wahrheit kam ans Licht. Delbert und Randolph fragten diesen Anwalt rundheraus, ob ihre Mutter zwanzig Millionen Dollar besäße. Daraufhin konnte der Anwalt nur lachen, und das brachte die beiden liebenden Söhne auf die Palme. Schließlich kamen sie zu dem Schluß, daß Miss Birdie sie zum besten hielt, und sie kehrten nach Florida zurück.

Spät am Montag abend rief Miss Birdie Roger Rice zu Hause an und teilte ihm mit, daß sie nach Memphis zurückkehren wolle. Sie sagte, sie hätte versucht, mich anzurufen, aber ich schiene sehr beschäftigt zu sein. Mr. Rice erzählte ihr von dem Prozeß und dem Fünfzig-Millionen-Dollar-Urteil, und das schien sie zu freuen.»Wie nett«, sagte sie.»Nicht schlecht für einen Gärtnergehilfen. «Die Tatsache, daß ich jetzt reich bin, schien sie mächtig zu beeindrucken.

Jedenfalls wollte Rice mich vorwarnen, daß sie jetzt jeden Tag zurückkehren kann. Ich danke ihm.

Morgan Wilson hat sich eingehend mit der Riker-Akte beschäftigt und neigt dazu, die Anklage fallenzulassen. Aber ihr Boß, Al Vance, hat sich noch nicht entschieden. Ich folge ihr in sein Büro.

Vance wurde schon vor vielen Jahren zum Staatsanwalt gewählt und hat keine Mühe, immer wiedergewählt zu werden. Er ist um die Fünfzig und hat früher ernsthaft eine höhere politische Karriere angestrebt. Doch dazu hat sich nie eine Gelegenheit ergeben, und jetzt hat er sich damit abgefunden, daß er in seinem Amt bleibt. Er verfügt über eine Eigenschaft, die bei Staatsanwälten äußerst selten ist — er verabscheut Kameras.

Er gratuliert mir zu dem Urteil. Ich danke ihm, möchte aber nicht darüber reden, aus Gründen, die ich in diesem Moment lieber für mich behalte. Ich nehme an, daß die Neuigkeiten über Great Benefit in weniger als zwanzig Stunden die Runde machen werden, und die Bewunderung, die man mir jetzt entgegenbringt, wird sich schlagartig verflüchtigen.

«Diese Leute sind Irre«, sagt er und wirft die Akte auf seinen Schreibtisch.»Sie haben mehrfach hier angerufen, allein zweimal heute morgen. Meine Sekretärin hat mit Rikers Vater und einem seiner Brüder gesprochen.«

«Was wollen sie?«frage ich.

«Den Tod Ihrer Mandantin. Vergeßt den Prozeß, schnallt sie einfach auf den elektrischen Stuhl, noch heute. Ist sie aus dem Gefängnis heraus?«

«Ja.«

«Hält sie sich versteckt?«

«Ja.«

«Gut. Sie sind so verdammt blöde, daß sie ihr Leben bedrohen. Sie wissen nicht einmal, daß es gegen das Gesetz ist, so etwas zu tun. Ein ausgesprochen widerliches Volk.«

Wir sind uns alle drei einig, daß die Rikers ziemlich dumm und sehr gefährlich sind.

«Morgan will keine Anklage erheben«, fährt Vance fort. Morgan nickt.

«Es ist sehr einfach, Mr. Vance«, sage ich.»Sie können den Fall vor die Anklagejury bringen, und Sie können Glück haben und eine Anklage erreichen. Aber wenn es zum Prozeß kommt, werden Sie verlieren. Ich werde diesen verdammten Aluminiumschläger vor den Geschworenen schwenken. Ich werde ein Dutzend Experten für Mißhandlung im häuslichen Bereich in den Zeugenstand holen. Ich werde sie zu einem Symbol machen, und Sie und Ihre Leute werden sehr alt aussehen, wenn Sie versuchen, sie zu verurteilen. Kein einziger der zwölf Geschworenen wird für Sie stimmen.«

Ich fahre fort.»Mir ist es gleich, was seine Angehörigen tun. Aber wenn Sie sich von ihnen dazu drängen lassen, Anklage zu erheben, dann wird Ihnen das leid tun. Wenn die Geschworenen sie freisprechen, werden sie Sie sogar noch mehr hassen.«

«Er hat recht, Al«, sagt Morgan.»Es ist ausgeschlossen, daß sie verurteilt wird.«

Al war schon bereit, das Handtuch zu werfen, als er hier hereinkam, aber er wollte es erst von uns beiden hören. Er erklärt sich bereit, alle Anklagen fallenzulassen. Morgan verspricht, mir am späten Vormittag ein entsprechendes Schreiben zu faxen.

Ich danke ihnen und verschwinde. Meine Stimmung schlägt schnell um. Ich bin allein im Fahrstuhl, und ich sehe in dem polierten Messing über den Zahlenknöpfen, daß ich grinse. Alle Anklagen werden fallengelassen! Für immer!

Ich renne praktisch über den Parkplatz zu meinem Wagen.

Die Kugel wurde von der Straße her abgeschossen, durchschlug das Fenster im vorderen Büro, hinterließ ein säuberliches Loch von nicht mehr als anderthalb Zentimeter Durchmesser in der Scheibe und beendete ihre Reise tief in der Wand. Deck war zufällig im vorderen Büro, als er den Schuß hörte. Die Kugel verfehlte ihn um ungefähr drei Meter, aber das war nahe genug. Er rannte nicht sofort zum Fenster, sondern verkroch sich unter dem Tisch und wartete ein paar Minuten.

Dann verschloß er die Tür und wartete darauf, daß jemand kommen und nach ihm suchen würde. Es kam niemand. Das passierte gegen halb elf, während ich bei Al Vance war. Offenbar hat niemand den Schützen gesehen. Wenn jemand den Schuß gehört hat, werden wir es nie erfahren. In diesem Teil der Stadt hört man des öfteren Schüsse.

Decks erster Anruf galt Butch, der noch schlief. Zwanzig Minuten später war er im Büro, schwer bewaffnet, und bemühte sich, Deck zu beruhigen.

Als ich eintreffe, untersuchen sie gerade das Loch in der Scheibe, und Deck berichtet mir, was passiert ist. Ich bin sicher, daß Deck sogar herumzappelt, wenn er tief schläft, aber jetzt zittert er heftig am ganzen Leibe. Er sagt uns, er wäre in Ordnung, aber seine Stimme klingt schrill. Butch sagt, er wird unten direkt unter dem Fenster warten und sie schnappen, wenn sie zurückkommen. Er hat zwei Schrotflinten in seinem Wagen und ein AK-47-Sturmgewehr. Gott helfe den Rikers, falls sie noch einmal versuchen sollten, im Vorbeifahren zu schießen.

Ich kann Booker nicht telefonisch erreichen. Er ist nicht in der Stadt und führt zusammen mit Marvin Shankle Vernehmungen durch, also schreibe ich ihm einen kurzen Brief, in dem ich verspreche, mich später zu melden.

Deck und ich entscheiden uns für einen privaten Lunch, weit weg von den bewundernden Massen, außer Reichweite von herumfiegenden Kugeln. Wir kaufen uns Sandwiches und essen in Miss Birdies Küche. Butch sitzt in seinem Wagen, der auf der Einfahrt hinter meinem Volvo steht. Er wird ziemlich enttäuscht sein, wenn er keine Gelegenheit findet, seine AK-47 abzufeuern.

Der wöchentliche Reinigungsdienst war gestern hier, das Haus ist also sauber, und der schimmlige Geruch ist vorübergehend verschwunden. Es steht bereit für Miss Birdie.

Der Handel, den wir abschließen, ist schmerzlos und simpel. Deck bekommt die Akten, die er haben will, und ich bekomme zweitausend Dollar, zahlbar innerhalb von neunzig Tagen. Wenn es sein muß, wird er sich mit anderen Anwälten zusammentun. Außerdem kann er diejenigen meiner Fälle verhökern, die er nicht haben will. Die Inkassoakten von Ruffin's gehen an Booker zurück. Das wird ihm nicht gefallen, aber er wird darüber hinwegkommen.

Das Durchsehen der Akten ist einfach. Es ist ein Jammer, wie wenige Fälle und Mandanten wir in den letzten sechs Monaten aufgetan haben.

Die Kanzlei hat dreitausendvierhundert Dollar auf der Bank und ein paar offene Rechnungen.

Wir einigen uns über die Details, während wir essen, und der geschäftliche Aspekt der Trennung ist leicht. Nicht dagegen das persönliche Auseinandergehen. Deck hat keine Zukunft. Er kann das Anwaltsexamen nicht bestehen, und er kann nirgendwo hingehen. Er wird ein paar Wochen damit verbringen, meine Fälle abzuwickeln, aber ohne einen Bruiser oder einen Rudy, die ihm eine Fassade liefern, kann er nichts unternehmen. Das wissen wir beide, aber es bleibt unausgesprochen.

Er gesteht mir, daß er pleite ist.»Glücksspiel?«frage ich.

«Ja. Es sind die Casinos. Kann mich einfach nicht von ihnen fernhalten. «Er ist jetzt entspannt, scheinbar die Ruhe selbst. Er beißt ein großes Stück von einer Gewürzgurke ab und zermalmt es laut.

Als wir im letzten Sommer unsere Kanzlei eröffneten, hatten wir gerade jeweils einen gleich hohen Anteil aus dem Van-Lan-del-Vergleich erhalten. Jeder hatte fünftausendfünfhundert Dollar, und jeder hat zweitausend eingebracht. Ich war ein paarmal gezwungen, meine Ersparnisse anzugreifen, aber ich habe immer noch zweitausendachthundert auf der Bank. Ich habe Geld gespart, indem ich sehr bescheiden lebte und soviel wie möglich auf die hohe Kante legte. Auch Deck gibt sein Geld nicht aus. Er verschleudert es an den Black-Jack-Tischen.

«Ich habe gestern abend mit Bruiser gesprochen«, sagt er, und ich bin nicht überrascht.

«Wo ist er?«

«Auf den Bahamas.«

«Ist Prince bei ihm?«

«Ja.«

Das ist eine gute Nachricht, und es freut mich, das zu hören. Ich bin sicher, Deck weiß es bereits seit geraumer Zeit.

«Sie haben es also geschafft«, sage ich, schaue zum Fenster hinaus und versuche, mir die beiden mit Strohhüten und Son-nenbrillen vorzustellen. Schließlich haben sie hier praktisch im Dunkeln gelebt.

«Ja. Ich weiß nicht, wie. Nach manchen Dingen fragt man nicht. «Decks Gesicht macht einen leeren Eindruck. Er ist tief in Gedanken versunken.»Das Geld ist immer noch hier.«

«Wieviel?«

«Vier Millionen in bar. Das ist das, was sie von den Clubs abgesahnt haben.«

«Vier Millionen?«

«Ja. Im Keller eines Lagerhauses versteckt. Hier in Memphis.«

«Und wieviel haben sie Ihnen angeboten?«

«Zehn Prozent. Wenn es mir gelingt, es nach Miami zu bringen. Bruiser sagt, das Weitere könnte er selber bewerkstelligen.«

«Tun Sie es nicht, Deck.«

«Es ist ungefährlich.«

«Sie werden erwischt werden und ins Gefängnis kommen.«

«Glaube ich nicht. Die Feds haben die Sache abgehakt. Von dem Geld haben sie keine Ahnung. Alle nehmen an, daß Bruiser genug mitgenommen hat und nicht noch mehr braucht.«

«Braucht er denn noch mehr?«

«Das weiß ich nicht. Aber er will es unbedingt haben.«

«Tun Sie es nicht, Deck.«

«Es ist ein Kinderspiel. Das Geld paßt in einen kleinen U-Haul-Laster. Bruiser sagt, das Einladen dauert höchstens zwei Stunden. Dann mit dem U-Haul nach Miami und dort auf weitere Anweisungen warten. Dazu brauche ich zwei Tage, und dann bin ich aus allem raus.«

Seine Stimme klingt, als wäre er weit fort. Ich bezweifle nicht im geringsten, daß Deck es versuchen wird. Er und Bruiser haben das geplant. Aber ich habe genug gesagt. Er hört ohnehin nicht auf mich.

Wir verlassen Miss Birdies Haus und gehen in meine Wohnung. Deck hilft mir, ein paar Kleidungsstücke zu meinem Wagen zu tragen. Wir packen den Kofferraum voll und die Hälfte des Rücksitzes. Ich kehre nicht in die Kanzlei zurück, also verabschieden wir uns vor der Garage.

«Ich nehme es Ihnen nicht übel, daß Sie abreisen«, sagt er.

«Seien sie vorsichtig, Deck.«

Wir umarmen uns verlegen ein oder zwei Sekunden lang, und ich habe fast einen Kloß in der Kehle.

«Sie haben Geschichte gemacht, Rudy, wissen Sie das?«

«Wir haben es zusammen getan.«

«Ja, und was hat es uns eingebracht?«

«Wir können immer noch damit angeben.«

Wir geben uns die Hand, und Decks Augen sind feucht. Ich sehe ihm nach, wie er davonschlurft und zu Butch ins Auto steigt. Sie fahren davon.

Ich schreibe einen langen Brief an Miss Birdie und verspreche ihr, später anzurufen. Ich legen ihn auf den Küchentisch, weil ich sicher bin, daß sie bald heimkommen wird. Ich mache noch einmal eine Runde durchs Haus und verabschiede mich von meiner Wohnung.

Ich fahre zu einer Bankfiliale und löse mein Sparkonto auf. Ein Packen von achtundzwanzig Hundert-Dollar-Scheinen fühlt sich gut an. Ich verstecke ihn unter der Fußmatte.

Als ich an die Tür der Blacks klopfe, ist es schon fast dunkel. Dot macht auf und lächelt beinahe, als sie sieht, daß ich es bin.

Das Haus ist still und dunkel, immer noch sehr in Trauer. Ich glaube nicht, daß es jemals anders werden wird. Buddy liegt mit einer Grippe im Bett.

Bei einer Tasse Instantkaffee bringe ich ihr schonend die Neuigkeit bei, daß Great Benefit mit dem Bauch nach oben schwimmt und daß sie abermals in die Röhre guckt. Wenn nicht irgendwann in ferne Zukunft ein Wunder geschieht, sehen wir keinen roten Heller. Ihre Reaktion überrascht mich nicht.

Offenbar gibt es mehrere unklare Gründe für den Untergang von Great Benefit, aber im Augenblick ist es Dot sehr wichtig, zu glauben, daß sie das Geschehene ausgelöst hat. Ihre Augen funkeln, und auf ihrem Gesicht liegt ein glücklicher Ausdruck, während sie es verdaut. Sie hat sie aus dem Geschäft befördert. Eine kleine, entschlossene Frau in Memphis, Tennessee, hat diese Schweine in den Konkurs getrieben.

Morgen wird sie zu Donny Rays Grab gehen und es ihm erzählen.

Kelly wartet nervös in Betty Norvelles Zimmer. Sie umklammert eine kleine lederne Reisetasche, die ich ihr mitgebracht habe. Sie enthält Toilettenartikel und ein paar vom Frauenhaus gespendete Kleidungsstücke. Das ist alles, was sie besitzt.

Wir unterschreiben die erforderlichen Papiere und danken Betty. Während wir rasch auf den Wagen zugehen, halten wir uns bei den Händen. Sobald wir drinnen sitzen holen wir tief Luft, dann fahren wir davon.

Die Waffe liegt unter dem Sitz, aber jetzt mache ich mir keine Sorgen mehr.

«Welche Richtung?«frage ich, als wir die Kreuzung der Interstate erreicht haben, die um die Stadt herumführt. Wir lachen darüber, weil es einfach wunderbar ist. Es spielt keine Rolle, wohin wir fahren.

«Ich möchte die Berge sehen«, sagt sie.

«Ich auch. Osten oder Westen? «

«Hohe Berge.«

«Also dann nach Westen.«

«Ich möchte den Schnee sehen.«

«Ich nehme an, wir werden welchen finden. «

Sie kuschelt sich an mich und legt den Kopf an meine Schulter. Ich streichle ihre Beine.

Wir überqueren den Föuß und sind in Arkansas. Hinter uns verschwindet die Skyline von Memphis. Es ist erstaunlich, wie wenig von alledem wir vorausgeplant haben. Bis heute morgen wußten wir nicht ob sie die Stadt überhaupt verlassen durfte. Aber die Anklage wurde fallengelassen, ich habe ein Schreiben vom Staatsanwalt höchstpersönlich. Ihre Kaution wurde heute nachmittag aufgehoben.

Wir werden uns an einem Ort niederlassen, an dem uns niemand finden kann. Ich habe keine Angst, verfolgt zu werden, ich möchte nur, daß man mich in Ruhe läßt. Ich will nichts von Deck und Bruiser hören. Ich will nichts über die Folgen des Konkurses von Great Benefit hören. Ich will nicht das Miss

Birdie anruft und juristischen Rat will. Ich will mir keine Sorgen machen müssen wegen Cliffs Tod und allem, was damit zusammenhängt. Irgendwann einmal werden Kelly und ich darüber sprechen, aber nicht so bald.

Wir werden uns für eine kleine Stadt mit einem College entscheiden, weil sie ihren Schulabschluß nachholen möchte. Sie ist erst zwanzig. Und auch ich bin noch ein halbes Kind. Wir haben eine Menge schweres Gepäck abgeworfen, und jetzt ist es an der Zeit, ein bißchen Spaß zu haben. Ich würde gern an einer High-School Geschichte unterrichten. Das sollte nicht sonderlich schwierig sein. Schließlich bin ich selbst sieben Jahre aufs College gegangen.

Unter gar keinen Umständen will ich noch einmal irgend etwas mit der Juristerei zu tun haben. Ich werde meine Lizenz verfallen lassen. Ich werde mich nicht in die Wählerliste eintragen lassen, also können sie mich nicht auffordern, als Geschworener zu fungieren. Ich werde nie wieder freiwillig den Fuß in einen Gerichtssaal setzen.

Wir lächeln und kichern, während das Land flacher und der Verkehr dünner wird. Memphis liegt zwanzig Meilen hinter uns. Ich gelobe mir, nie dorthin zurückzukehren.

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