Kapitel 33

Es ist ein zorniger Richter, der sich, von seiner schwarzen Robe umwallt, auf dem Podium niederläßt. Der heutige Tag ist reserviert für kurze, rasch aufeinanderfolgende Argumentationen zu zahllosen Anträgen in Dutzenden von Fällen. Im Gerichtssaal wimmelt es von Anwälten.

Wir kommen zuerst an die Reihe, weil Richter Kipler es hinter sich bringen will. Ich hatte eine Mitteilung eingereicht, daß ich ab dem kommenden Montag sechs Angestellte von Great Benefit in Cleveland vernehmen will. Drummond hat Widerspruch eingelegt und natürlich behauptet, er wäre wegen seines geheiligten Prozeßkalenders unabkömmlich. Aber nicht nur er steht nicht zur Verfügung, auch alle sechs zur Vernehmung vorgesehenen Herren sind anderweitig beschäftigt und haben keine Zeit. Alle sechs!

Kipler veranstaltete eine Telefonkonferenz mit Drummond und mir, die gar nicht angenehm verlief, zumindest nicht für die Verteidigung. Drummond hat tatsächlich Gerichtstermine wahrzunehmen und hat sogar den Terminbescheid zu dem betreffenden Fall rübergefaxt, um es zu beweisen. Was den Richter so aufgebracht hat, war Drummonds Versicherung, daß er es frühestens in zwei Monaten einrichten könnte, drei Tage in Cleveland zu verbringen. Außerdem wären die sechs Angestellten dort oben äußerst vielbeschäftigte Leute, und es könnte Monate dauern, bis sie alle an einem Ort zusammengebracht werden könnten.

Kipler hat diese Anhörung angesetzt, damit er Drummond ganz offiziell in die Mangel nehmen und seine Ausflüchte zu Protokoll nehmen kann. Da ich in den vergangenen vier Tagen täglich mit Kipler telefoniert habe, weiß ich genau, was passieren wird. Es wird sehr unerfreulich werden, und ich werde nicht viel sagen müssen.

«Fürs Protokoll«, fährt Kipler die Protokollantin an, und die Klone auf der anderen Seite des Ganges beugen sich über ihre

Notizblöcke. Vier sind es heute.»Im Fall Nummer 214668, Black gegen Great Benefit, hat der Kläger die Vernehmung des Firmenanwalts sowie fünf weiterer Angestellter der Beklagten beantragt, die am Montag, dem 5. Oktober, in der Zentrale der Gesellschaft in Cleveland stattfinden soll. Der Anwalt der Beklagten hat, was nicht weiter verwunderlich ist, Einspruch erhoben mit der Begründung, daß er unabkömmlich sei. Trifft das soweit zu, Mr. Drummond?«

Drummond erhebt sich langsam.»Ja, Sir. Ich habe dem Gericht bereits die Kopie eines Terminbescheids für eine Verhandlung vor dem Bundesgericht vorgelegt, die am Montag beginnt. Ich leite die Verteidigung in diesem Fall.«

Drummond und Kipler haben bereits mindestens zwei hitzige Diskussionen über dieses Thema geführt, aber es ist wichtig, daß die Sache auch im Protokoll erscheint.

«Und wann wären Sie denn wohl imstande, diese Angelegenheit in Ihrem Terminkalender unterzubringen?«fragt Kipler mit beißendem Sarkasmus. Ich sitze allein an meinem Tisch. Deck ist nicht da. Auf den Bänken hinter mir sitzen mindestens vierzig Anwälte, die alle zusehen, wie der große Leo F. Drummond Prügel bezieht. Sie müssen sich fragen, wer ich bin, dieser unbekannte Anfänger, der so gut ist, daß der Richter sich für ihn ins Zeug legt.

Drummond verlagert sein Gewicht von einem Fuß auf den anderen, dann sagt er:»Also, Euer Ehren, ich bin wirklich ausgebucht. Eventuell…«

«Mir ist, als hätten Sie zwei Monate gesagt. Habe ich das richtig verstanden?«Kipler fragt dies, als hielte er es für unmöglich, daß ein einziger Anwalt dermaßen beschäftigt sein kann.

«Ja, Sir. Zwei Monate.«

«Und das sind alles Verhandlungen?«

«Verhandlungen, Vernehmungen, Anträge, Revisionsverfahren. Ich zeige Ihnen gern meinen Kalender.«

«Im Augenblick kann ich mir nichts Schlimmeres vorstellen, Mr. Drummond«, sagt Kipler.»Also, wir tun folgendes, Mr. Drummond, und bitte hören Sie genau zu, weil ich dies in Form einer Anweisung schriftlich festzulegen gedenke. Ich weise Sie darauf hin, Sir, daß es sich hier um ein beschleunigtes Verfahren handelt, und in meinem Gericht bedeutet das, daß ich keine Verzögerungen zulasse. Die betreffenden sechs Vernehmungen beginnen Montag früh in Cleveland. «Drummond sinkt auf seinen Stuhl und beginnt zu schreiben.»Und wenn Sie das nicht einrichten können, dann tut es mir leid. Aber nach der letzten Zählung verfügen Sie über vier weitere Anwälte, die an diesem Fall mitarbeiten — Morehouse, Plunk, Hill und Grone, die alle, wie ich hinzufügen könnte, über wesentlich mehr Erfahrung verfügen als Mr. Baylor, der, soweit ich weiß, seine Lizenz erst im Sommer bekommen hat. Mir ist natürlich klar, daß Sie nicht einfach einen Anwalt nach Cleveland schicken können, es müssen mindestens zwei sein, aber ich bin sicher, Sie können es so einrichten, daß genügend Anwälte anwesend sein werden, um Ihren Mandanten angemessen zu vertreten.«

Die Worte versengen die Luft. Die Anwälte hinter mir sind unglaublich still und schweigsam. Viele von ihnen, vermute ich, haben seit Jahren auf so etwas gewartet.

«Außerdem werden die sechs angeführten Angestellten am Montagmorgen zur Verfügung stehen, und sie werden verfügbar bleiben, bis Mr. Baylor sie entläßt. Diese Gesellschaft ist berechtigt, in Tennessee tätig zu sein. Sie unterliegt in dieser Angelegenheit also meiner Gerichtsbarkeit, und ich weise diese sechs Personen hiermit an, uneingeschränkt zu kooperieren.«

Drummond und Genossen beugen sich noch tiefer über den Tisch und schreiben schneller.

«Weiterhin hat der Kläger Akten und Dokumente angefordert. «Kipler hält einen Moment inne und schaut drohend hinunter auf den Tisch der Verteidigung.»Hören Sie mir gut zu, Mr. Drummond, ich dulde keine krummen Manöver mit den Dokumenten. Ich bestehe auf vollständiger Beibringung, vollständiger Kooperation. Ich werde am Montag und Dienstag ständig in der Nähe meines Telefons sein, und wenn Mr. Baylor mich anruft und mir sagt, daß er die Dokumente, auf die er Anspruch hat, nicht bekommt, dann werde ich dafür sorgen, daß er sie erhält. Haben Sie mich verstanden?«

«Ja, Sir«, sagt Drummond.

«Können Sie dafür sorgen, daß Ihr Mandant das gleichfalls versteht?«

«Ich denke schon.«

Kipler entspannt sich ein wenig und holt einmal tief Luft. Im Gerichtssaal herrscht immer noch absolute Stille.»Wenn ich es mir recht überlege, Mr. Drummond, möchte ich Ihren Prozeßkalender doch gern sehen.«

Drummond hat ihn vor ein paar Minuten selbst angeboten, also kann er jetzt unmöglich ablehnen. Es ist eine dicke, schwarze, in Leder gebundene Chronik des Lebens und der Verpflichtungen eines überaus beschäftigten Mannes. Er ist außerdem sehr privat, und ich vermute, daß Drummond im Grunde nicht vorgehabt hat, ihn dem Richter zu zeigen.

Er trägt ihn stolz zum Podium, überreicht ihn Seinen Ehren und wartet. Kipler überfliegt rasch die Monate, ohne die Einzelheiten zu lesen. Er sucht nach freien Tagen. Drummond steht in der Mitte des Gerichtssaals, in der Nähe des Podiums.

«Mir fällt auf, daß für die am 8. Februar beginnende Woche nichts eingetragen ist.«

Drummond geht zum Richtertisch und schaut in seinen Prozeßkalender, während Kipler ihn über die Kante vorstreckt. Er nickt zustimmend, ohne etwas zu sagen. Kipler gibt ihm das Buch, und Drummond kehrt zu seinem Stuhl zurück.

«Der Beginn des Prozesses in diesem Fall wird hiermit auf Montag, den 8. Februar, festgesetzt«, erklärt Seine Ehren. Ich schlucke schwer, hole tief Luft und versuche, selbstsicher auszusehen. Vier Monate, das hört sich an wie eine sehr lange Zeit und hübsch weit weg, aber für jemanden, der noch nicht einmal einen simplen Blechschaden vor Gericht vertreten hat, ist es beängstigend. Ich habe die Akte ein dutzendmal gelesen. Ich habe die Verfahrensregeln auswendig gelernt und die Vorschriften der Beweisaufnahme. Ich habe zahllose Bücher darüber gelesen, wie man an alle erforderlichen Unterlagen herankommt, wie man Geschworene auswählt, wie man Zeugen ins Kreuzverhör nimmt und wie man Prozesse gewinnt, aber ich habe nicht die geringste Ahnung, wie sich die Dinge am 8. Februar in diesem Gerichtssaal abspielen werden.

Kipler entläßt uns, und ich raffe schnell meine Papiere zusammen und verschwinde. Beim Verlassen des Raums registriere ich ein paar neugierige Blicke von der Galerie der Anwälte, die darauf warten, daß sie an die Reihe kommen.

Wer ist dieser Bursche?

Obwohl er es nie direkt zugegeben hat, weiß ich jetzt, daß Decks beste Bekannte zwei billige Privatdetektive sind, die er bei seiner Arbeit für Bruiser kennengelernt hat. Der eine, Butch, ist ein ehemaliger Polizist, der Decks Vorliebe für Kasinos teilt. Sie fahren ein- oder zweimal pro Woche nach Tunica, um dort Poker und Blackjack zu spielen.

Butch hat irgendwie Bobby Ott ausfindig gemacht, den Agenten und Kassierer, der den Blacks die Police verkauft hat. Er hat ihn im Gefängnis von Shelby County gefunden, wo er zehn Monate wegen ungedeckter Schecks absitzen muß. Weitere Ermittlungen haben ergeben, daß Ott frisch geschieden und bankrott ist.

Deck äußert Enttäuschung, daß ihm dieser Fisch entgangen ist. Ott hat erstklassige juristische Probleme. Damit wäre eine Menge Geld zu verdienen gewesen.

Ein jüngerer Verwaltungsangestellter im Gefängnis holt mich ab, nachdem ein massiger Wärter mit dicken Händen meinen Aktenkoffer und meinen Körper gründlich gefilzt hat. Ich werde zu einem Raum im vorderen Trakt des Hauptgebäudes gebracht. Er ist quadratisch, und hoch oben in allen vier Ecken sind Kameras montiert. Eine Wand in der Mitte trennt die Sträflinge von ihren Besuchern. Wir müssen uns durch ein Gitter hindurch unterhalten, was mir nur recht ist. Ich hoffe, daß dies ein ganz kurzer Besuch werden wird. Nach fünf Minuten wird Ott von der anderen Seite her hereingeführt. Er ist an die Vierzig, Stahlbrille, ganz kurz geschnittenes Haar, ziemlich schmächtig, und trägt einen dunkelblauen Gefängnisoverall. Er läßt sich auf der anderen Seite der Trennwand nieder und mustert mich eingehend. Der Wärter zieht sich zurück, und wir sind allein. Ich schiebe eine Visitenkarte durch eine Öffnung am unteren Ende des Gitters.»Mein Name ist Rudy Baylor. Ich bin Anwalt. «Weshalb hört sich das so bedrohlich an?

Er trägt es mit Fassung, versucht zu lächeln. Dieser Kerl hat sich früher seinen Lebensunterhalt damit verdient, daß er von Tür zu Tür gegangen ist und versucht hat, armen Leuten billige Versicherungen zu verkaufen. Also ist er, trotz seines offensichtlichen Pechs, im Grunde seines Herzens ein freundlicher Mann, der Typ, der Leute beschwatzen kann, damit sie ihn in ihre Häuser lassen.

«Nett, Sie kennenzulernen«, sagt er aus Gewohnheit.»Was führt Sie hierher?«

«Das hier«, sage ich und hole eine Kopie der Klage aus meinem Aktenkoffer. Ich schiebe sie durch die Öffnung.»Das ist eine Klage, die ich im Namen ehemaliger Kunden von Ihnen eingereicht habe.«

«Welchen?«fragt er, nimmt die Klage und betrachtet sie.

«Dot und Buddy Black und ihr Sohn Donny Ray.«

«Great Benefit, wie?«sagt er. Deck hat mir erklärt, daß viele dieser Straßenagenten für mehr als nur eine Gesellschaft arbeiten.»Haben Sie etwas dagegen, wenn ich das lese?«

«Natürlich nicht. Sie sind als Beklagter genannt. Lesen Sie nur.«

Seine Stimme und seine Bewegungen sind sehr bedächtig. Nur keine Energie verschwenden. Er liest sehr langsam, blättert die Seiten sehr zögerlich um. Armer Kerl. Er hat eine Scheidung hinter sich, hat alles andere in einem Konkursverfahren verloren, sitzt wegen Betrugs im Gefängnis, und jetzt erscheine auch noch ich auf der Bildfläche und verklage ihn noch mal auf zehn Millionen.

Aber er wirkt nicht weiter betroffen. Er beendet die Lektüre und legt die Klage auf den Tresen vor sich.»Sie wissen, daß ich durch das Konkursgericht geschützt bin«, sagt er.

«Ja, das weiß ich. «Nicht wirklich. Den Gerichtsunterlagen zufolge hat er im März Konkurs angemeldet, ziemlich genau zwei Monate, bevor ich es getan habe, und ist jetzt entlastet. Ein altes Konkursverfahren verhindert nicht immer künftige Forderungen; aber dieser Punkt ist müßig. Dieser Mann ist so pleite wie ein Flüchtling. Er ist immun.»Wir waren gezwungen, die Klage auf Sie auszudehnen, weil Sie die Police verkauft haben.«

«Oh, ich weiß. Sie tun nur Ihren Job.«

«So ist es. Wann kommen Sie hier raus?«

«In achtzehn Tagen. Warum?«

«Es könnte sein, daß wir Sie vernehmen möchten.«

«Hier drinnen?«

«Vielleicht.«

«Weshalb die Eile? Lassen Sie mich erst einmal draußen sein, dann bekommen Sie Ihre Vernehmung.«

«Ich werde darüber nachdenken.«

Dieser flüchtige Besuch ist für ihn ein kurzer Urlaub, und er hat es nicht eilig, mich gehen zu sehen. Wir unterhalten uns ein paar Minuten über das Leben im Gefängnis, dann fange ich an, Ausschau nach der Tür zu halten.

Ich bin noch nie im oberen Stockwerk von Miss Birdies Haus gewesen, und es ist genauso verstaubt und muffig wie das Erdgeschoß. Ich öffne eine Zimmertür nach der anderen, schalte das Licht ein, sehe mich schnell um, dann mache ich das Licht wieder aus und schließe die Tür. Der Fußboden auf dem Flur knarrt unter meinen Füßen. Da ist eine schmale Treppe zum zweiten Stock, aber es widerstrebt mir, dort hinaufzugehen.

Das Haus ist viel größer, als ich geglaubt hatte. Und viel einsamer. Man kann sich schwer vorstellen, daß sie hier ganz allein gelebt hat. Ich verspüre ein heftiges Schuldgefühl, daß ich nicht mehr Zeit mit ihr verbracht, nicht öfter mit ihr zusammen ihre Comedy-Serien und Fernsehgottesdienste angesehen, nicht mehr von ihren Truthahnsandwiches gegessen und nicht mehr von ihrem Instantkaffee getrunken habe.

Das Erdgeschoß scheint ebenso frei von Einbrechern zu sein wie das Obergeschoß, und ich schließe die Terrassentür hinter mir ab. Es ist ein seltsames Gefühl, jetzt, da sie nicht mehr da ist. Ich erinnere mich nicht, daß mir ihre Gegenwart irgendwelchen Trost bedeutet hätte, aber es war immer hübsch zu wissen, daß sie da war, in diesem großen Haus, nur für den Fall, daß ich etwas brauchte. Jetzt fühle ich mich einsam.

In der Küche betrachte ich das Telefon. Es ist ein altes Modell mit Wählscheibe, und ich bin nahe daran, Kellys Nummer zu wählen. Wenn sie sich meldet, werde ich mir etwas einfallen lassen. Wenn er sich meldet, lege ich auf. Der Anruf kann zu diesem Haus hier zurückverfolgt werden, aber ich wohne nicht hier.

Ich habe heute mehr an sie gedacht als gestern. Diese Woche mehr als in der vorigen.

Ich muß sie sehen.

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