Kapitel 45

Einige der Geschworenen lächeln mir zu, als sie nach dem Lunch auf ihre Plätze zurückkehren. Sie dürften sich eigentlich nicht über den Fall unterhalten, bevor er ihnen nicht offiziell zur Beratung übergeben worden ist, aber jedermann weiß, daß sie immer darüber flüstern, sobald sie den Gerichtssaal verlassen haben. Vor ein paar Jahren ist zwischen zwei Geschworenen eine Schlägerei über die Glaubwürdigkeit eines bestimmten Zeugen ausgebrochen. Das Problem bestand darin, daß es der zweite Zeuge in einem auf zwei Wochen angesetzten Prozeß war. Der Richter erklärte das Verfahren für gescheitert, und alles fing wieder von vorne an.

Sie hatten zwei Stunden, um Jackies Aussage schmoren und kochen zu lassen. Jetzt ist für mich die Zeit gekommen, ihnen zu zeigen, wie man einige dieser Missetaten vergelten kann. Es ist an der Zeit, über Geld zu reden.

«Euer Ehren, die Anklage ruft Mr. Wilfred Keeley in den Zeugenstand. «Keeley wird rasch gefunden, und er kommt flotten Schrittes in den Saal, geradezu begierig darauf, auszusagen. Er wirkt kraftvoll und freundlich, ganz im Gegensatz zu Lufkin und ungeachtet der unauslöschlichen Lügen, deren seine Firma bereits überführt worden ist. Ganz offensichtlich will er den Geschworenen klarmachen, daß er das Kommando hat und jemand ist, dem man vertrauen kann.

Ich stelle ein paar allgemeine Fragen, verifiziere die Tatsache, daß er der Generaldirektor ist, die Nummer eins bei Great Benefit. Er gibt es freundlich zu. Dann gebe ich ihm eine Kopie der letzten Bilanz der Gesellschaft. Er tut so, als lese er sie jeden Morgen.

«Nun, Mr. Keeley, können Sie den Geschworenen sagen, wie hoch das Vermögen Ihrer Gesellschaft ist?«

«Was meinen Sie mit Vermögen?«schießt er zurück.

«Ich meine das Nettovermögen.«

«Das ist kein klar definierter Begriff.«

«Doch, das ist es. Werfen Sie einen Blick auf Ihre Bilanz hier, nehmen Sie die Aktiva auf der einen Seite, ziehen Sie die Verbindlichkeiten auf der anderen ab, und sagen Sie den Geschworenen, was übrigbleibt. Das ist das Nettovermögen.«

«So einfach ist das nicht.«

Ich schüttele ungläubig den Kopf.»Würden Sie mir zustimmen, wenn ich sage, daß Ihre Gesellschaft über ein Nettovermögen von schätzungsweise vierhundertfünfzig Millionen Dollar verfügt?«

Abgesehen von den auf der Hand liegenden Vorteilen hat das Ertappen eines Firmenganoven beim Lügen den zusätzlichen Nutzen, daß der nachfolgende Zeuge die Wahrheit sagen muß. Keeley muß erfrischend ehrlich sein, und ich bin sicher, daß Drummond ihm das um die Ohren geschlagen hat. Das war bestimmt nicht einfach.

«Das ist eine faire Schätzung. Ich stimme Ihnen zu.«

«Danke. Nun, über wieviel Bargeld verfügt Ihre Firma?«

Diese Frage hatte er nicht erwartet. Drummond steht auf und erhebt Einspruch. Kipler weist ihn ab.

«Das ist schwer zu sagen«, sagt er und verfällt in die uns bereits bestens bekannte Great-Benefit-Angst.

«Mr. Keeley, Sie sind der Generaldirektor. Sie arbeiten seit achtzehn Jahren für die Gesellschaft. Sie kommen aus der Finanzabteilung. Wieviel Bargeld haben Sie da oben herumliegen?«

Er blättert hektisch in seinen Papieren, und ich warte geduldig. Endlich nennt er mir eine Zahl, und an diesem Punkt danke ich Max Leuberg. Ich nehme mein Exemplar und fordere ihn auf, mir eine spezielle Rücklage zu erklären. Als ich sie auf zehn Millionen Dollar verklagte, haben sie dieses Geld als Reserve zur Bezahlung des Anspruchs beiseite gelegt. Dasselbe haben sie bei jedem anderen Prozeß getan. Es ist immer noch ihr Geld, immer noch angelegt und Zinsen einbringend, aber jetzt ist es als Verbindlichkeit verbucht. Versicherungsgesellschaften lieben es, wenn man sie auf — zig Millionen Dollar verklagt, weil sie das Geld als Rücklage verbuchen und behaupten können, daß sie praktisch zahlungsunfähig sind.

Und das alles ist völlig legal. Es ist eine Branche ohne feste Richtlinien mit eigenen, undurchsichtigen Bilanzpraktiken.

Keeley fängt an, komplizierte Begriffe aus dem Finanzwesen zu verwenden, die ich nicht verstehe. Er verwirrt lieber die Geschworenen, als die Wahrheit einzugestehen.

Ich befrage ihn über eine andere Rücklage, dann kommen wir zu den Gewinnkonten. Eingeschränkte Gewinne. Uneingeschränkte Gewinne. Ich knöpfe ihn mir gründlich vor, und es hört sich ziemlich intelligent an. Mit Hilfe von Leubergs Notizen rechne ich die Zahlen zusammen und frage Keeley, ob die Gesellschaft über rund vierhundertachtundfünfzig Millionen Bargeld verfügt.

«Schön war's«, sagt er mit einem Lachen. Niemand sonst verzieht eine Miene.

«Wieviel Bargeld haben Sie dann, Mr. Keeley?«

«Oh, das weiß ich nicht. Ich würde sagen, vermutlich so um die hundert Millionen.«

Das reicht fürs erste. Bei meinem Schlußplädoyer kann ich meine Zahlen auf eine Tafel schreiben und erklären, wo das Geld steckt.

Ich gebe ihm eine Kopie des Computerausdrucks mit den Daten der Schadensabteilung, und er wirkt überrascht. Ich habe während der Lunchpause beschlossen, ihn damit zu konfrontieren, solange ich ihn im Zeugenstand habe, anstatt mir Lufkin noch einmal vorzunehmen. Er wirft einen hilfesuchenden Blick zu Drummond, aber der kann nichts tun. Mr. Keeley ist schließlich der Generaldirektor und sollte imstande sein, uns bei unserer Suche nach der Wahrheit zu helfen. Vermutlich haben sie gedacht, ich würde Lufkin zurückholen, damit er uns die Daten erklärt. Aber sosehr ich Lufkin liebe, ich bin fertig mit ihm. Ich werde ihm nicht die Chance bieten, die Aussage von Jackie Lemancyzk zu widerlegen.

«Kennen Sie diesen Ausdruck, Mr. Keeley? Es ist der, den ich heute morgen von Ihrer Firma bekommen habe.«

«Natürlich.«

«Gut. Können Sie den Geschworenen sagen, wie viele Krankenversicherungspolicen im Jahr 1991 bei Ihrer Gesellschaft bestanden?«

«Also, das weiß ich nicht. Lassen Sie mich nachsehen. «Er blättert Seiten um, nimmt eine in die Hand, legt sie wieder hin, nimmt eine weitere und dann noch eine.

«Erscheint Ihnen die Zahl von plus/minus achtundneun-zigtausend korrekt?«

«Vielleicht. Doch, ja, ich glaube, das stimmt.«

«Und wie viele Ansprüche wurden 1991 aufgrund dieser Policen geltend gemacht?«

Dasselbe Spiel. Keeley quält sich durch den Ausdruck, murmelt Zahlen vor sich hin. Es ist fast peinlich. Minuten vergehen, und schließlich sage ich:»Erscheint Ihnen die Zahl von plus/minus elftausendvierhundert korrekt?«

«Dürfte hinkommen, nehme ich an, aber ich müßte das erst verifizieren.«

«Wie würden Sie es verifizieren?«

«Nun, ich müßte mich eingehender mit diesem Ausdruck hier beschäftigen.«

«Die Information ist also darin enthalten?«

«Ich denke schon.«

«Können Sie den Geschworenen sagen, wie viele dieser Ansprüche von Ihrer Firma abgewiesen wurden?«

«Also, auch dafür müßte ich dies hier eingehender studieren«, sagt er und hebt den Ausdruck mit beiden Händen in die Höhe.

«Diese Information steckt also auch in den Papieren, die Sie jetzt hochhalten?«

«Vielleicht. Ja, ich denke schon.«

«Gut. Sehen Sie sich die Seiten elf, achtzehn, dreiunddreißig und einundvierzig an. «Er kommt meiner Aufforderung rasch nach, tut alles, um nicht aussagen zu müssen. Seiten werden umgeblättert und rascheln.

«Erscheint Ihnen die Zahl von neuntausendeinhundert plus oder minus ein paar korrekt?«

Er ist regelrecht schockiert von dieser unerhörten Vermutung.»Natürlich nicht. Das ist absurd.«

«Aber Sie wissen es nicht?«

«Ich weiß, daß sie nicht so hoch ist.«

«Danke. «Ich trete vor den Zeugen, nehme den Ausdruck wieder an mich und gebe ihm statt dessen die Great-Benefit-Police, die ich von Max Leuberg bekommen habe.

«Erkennen Sie dies?«

«Natürlich«, sagt er glücklich; endlich etwas, das von dem verdammten Ausdruck wegführt.

«Was ist es?«

«Eine von meiner Gesellschaft ausgestellte Krankenversicherungspolice.«

«Wann ausgestellt?«

Er wirft einen Blick darauf.»Im September 1992. Vor fünf Monaten.«

«Bitte sehen Sie sich Seite elf, Abschnitt F, Paragraph vier, Unterparagraph C, Klausel Nummer dreizehn an. Sehen Sie das?«

Der Druck ist so klein, daß er die Police fast an die Nase halten muß. Ich kichere leise und werfe einen Blick auf die Geschworenen. Die Komik entgeht ihnen nicht.

«Ich habe sie«, sagt er schließlich.

«Gut. Lesen Sie sie bitte vor.«

Er liest, kneift die Augen zusammen und runzelt die Stirn, als wäre das ausgesprochen langweilig. Als er fertig ist, bringt er ein Lächeln zustande.»Okay.«

«Was ist der Sinn dieser Klausel?«

«Sie schließt gewisse operative Eingriffe von der Deckung aus.«

«Speziell?«

«Speziell sämtliche Transplantationen.«

«Ist Knochenmark als Ausschluß aufgeführt?«

«Ja. Knochenmark ist aufgeführt.«

Ich trete vor den Zeugen, gebe ihm eine Kopie der Black-Police und fordere ihn auf, einen bestimmten Abschnitt vorzulesen. Wieder ist der winzige Druck eine Strapaze für seine Augen, aber er kämpft sich tapfer hindurch.

«Welche Transplantationen schließt diese Police aus?«

«Alle wichtigen Organe, Nieren, Leber, Herz, Lungen, Augen, sie sind alle hier aufgeführt.«

«Was ist mit Knochenmark?«

«Das ist nicht aufgeführt.«

«Also ist es nicht ausdrücklich ausgeschlossen?«

«Das stimmt.«

«Wann wurde diese Klage eingereicht? Erinnern Sie sich?«

Er schaut zu Drummond, der ihm in diesem Moment natürlich nicht helfen kann.»Mitte vorigen Jahres, soweit ich mich erinnere. Kann es im Juni gewesen sein?«

«Ja, Sir«, sage ich.»Es war im Juni. Wissen Sie, wann die Police dahingehend geändert wurde, daß sie jetzt auch Knochenmarkstransplantationen ausschließt?«

«Nein, das weiß ich nicht. Mit dem Verfassen der Policen habe ich nichts zu tun.«

«Wer verfaßt Ihre Policen? Wer ist für all dieses Kleingedruckte verantwortlich?«

«Das geschieht in unserer Rechtsabteilung.«

«Ich verstehe. Könnte man mit Gewißheit sagen, daß die Police irgendwann nach Einreichung dieser Klage geändert wurde?«

Er mustert mich einen Moment eingehend, dann sagt er:»Nein. Es ist durchaus möglich, daß sie bereits vor Einreichung der Klage geändert wurde.«

«Wurde Sie geändert, nachdem der Anspruch im August 1991 geltend gemacht worden war?«

«Ich weiß es nicht.«

Seine Antwort hört sich verdächtig an. Entweder kümmert er sich nicht darum, was in seiner Firma vorgeht, oder er lügt. Für mich macht das im Grunde keinen Unterschied. Ich habe, was ich wollte. Ich kann den Geschworenen gegenüber argumentieren, daß dieser neue Wortlaut ein eindeutiger Beweis dafür ist, daß bei der Black-Police der Ausschluß von Knochenmarkstransplantationen nicht vorgesehen war. Sie hatten alles andere ausgeschlossen, und jetzt schließen sie schlechthin alles aus, also haben sie sich mit ihren eigenen Formulierungen überführt.

Ich habe nur noch eine schnelle Angelegenheit mit Keeley zu erledigen.»Haben Sie eine Kopie der Abmachung, die Jak-kie Lemancyzk am Tage ihrer Entlassung unterschrieben hat?«

«Nein.«»Haben Sie diese Abmachung jemals gesehen?«

«Nein.«

«Haben Sie die Zahlung von zehntausend Dollar in bar an Jackie Lemancyzk genehmigt?«

«Nein. In dieser Beziehung hat sie gelogen.«

«Gelogen?«

«Das sagte ich.«

«Was ist mit Everett Lufkin? Hat er die Geschworenen in Beziehung auf das Schadenshandbuch angelogen?«

Keeley will etwas sagen, dann bremst er sich. An diesem Punkt kann ihm keine Antwort etwas nützen. Die Geschworenen wissen recht gut, daß Lufkin sie angelogen hat, also kann er den Geschworenen jetzt nicht weismachen, sie hätten nicht gehört, was sie tatsächlich gehört haben. Und er kann auch nicht zugeben, daß einer seiner Vizepräsidenten die Geschworenen angelogen hat.

Ich hatte diese Frage nicht geplant, sie ist mir einfach so herausgerutscht.»Ich habe Sie etwas gefragt, Mr. Keeley. Hat Mr. Lufkin die Geschworenen in Beziehung auf das Schadenshandbuch angelogen?«

«Ich glaube, diese Frage muß ich nicht beantworten.«

«Beantworten Sie die Frage«, sagt Kipler streng.

Es tritt eine qualvolle Pause ein, während der Keeley mich anstarrt. Im Saal herrscht Stille. Jeder einzelne Geschworene beobachtet ihn und wartet. Die Antwort liegt auf der Hand, und so beschließe ich, den netten Jungen zu spielen.

«Sie können sie nicht beantworten, nicht wahr, weil Sie nicht zugeben können, daß ein Vizepräsident Ihrer Gesellschaft diese Jury angelogen hat?«

«Einspruch.«

«Stattgegeben.«

«Keine weiteren Fragen.«

«Keine Vernehmung zu diesem Zeitpunkt, Euer Ehren«, sagt Drummond. Offensichtlich will er, daß sich der Staub legt, bevor er diese Leute für die Verteidigung in den Zeugenstand holt. Im Augenblick will Drummond Zeit und Abstand zwischen Jackie Lemancyzk und unserer Jury.

Kermit Aldy, der für die Haftungsabteilung zuständige Vizepräsident, ist mein vorletzter Zeuge. Zu diesem Zeitpunkt brauche ich seine Aussage im Grunde nicht, aber ich muß ein bißchen Zeit hinbrmgen. Es ist halb drei am zweiten Verhandlungstag, und ich werde heute nachmittag bequem fertig. Ich will, daß die Geschworenen, wenn sie nach Hause gehen, an zwei Leute denken, Jackie Lemancyzk und Donny Ray Black.

Aldy ist nervös und wortkarg, er hat Angst, mehr zu sagen, als unbedingt nötig ist. Ich weiß nicht, ob er mit Jackie geschlafen hat, aber im Augenblick ist jeder Mann von Great Benefit verdächtig. Ich spüre, daß auch die Geschworenen dieses Gefühl haben.

Wir arbeiten uns durch soviel Hintergrund wie unbedingt erforderlich. Haftung ist eine dermaßen langweilige Materie, daß ich entschlossen bin, den Geschworenen nur die allerknappsten Details zu liefern. Aldy ist gleichfalls langweilig und deshalb seinem Job gewachsen. Ich will das Interesse der Jury nicht verlieren, also mache ich schnell.

Dann ist es Zeit für den amüsanten Teil. Ich gebe ihm die Kopie des Haftungshandbuches, das mir während der Beweisaufnahme ausgehändigt wurde. Es steckt in einem grünen Hefter und sieht dem Schadenshandbuch sehr ähnlich. Weder Aldy noch Drummond noch sonst jemand weiß, ob ich noch ein weiteres Exemplar des Haftungshandbuches besitze, und zwar eines mit dem Abschnitt U.

Er betrachtet es, als hätte er es noch nie zuvor gesehen, identifiziert es aber, als ich ihn danach frage. Alle wissen, wie die nächste Frage lauten wird.

«Ist dies ein vollständiges Handbuch?«

Er blättert es langsam durch, läßt sich Zeit. Offensichtlich weiß er, wie es Lufkin gestern ergangen ist. Wenn er sagt, es wäre vollständig, und ich präsentiere ihm dann das Exemplar, das ich mir von Cooper Jackson ausgeliehen habe, dann ist er tot. Wenn er zugibt, daß etwas fehlt, dann muß er einen hohen Preis zahlen. Ich wette, Drummond hat sich für letzteres entschieden.

«Also, lassen Sie mich nachsehen. Es sieht vollständig aus, aber — nein, Moment mal. Hinten fehlt ein Abschnitt.«

«Könnte das Abschnitt U sein?«frage ich ungläubig.

«Ich glaube, ja.«

Ich tue so, als wäre ich verwundert.»Welchen Grund sollte jemand haben, Abschnitt U aus diesem Handbuch zu entfernen?«

«Ich weiß es nicht.«

«Wissen Sie, wer ihn entfernt hat?«

«Nein.«

«Natürlich nicht. Wer hat dieses spezielle Exemplar zur Aushändigung an mich ausgewählt?«

«Daran kann ich mich wirklich nicht erinnern.«

«Aber es ist offensichtlich, daß Abschnitt U entfernt wurde, bevor es mir übergeben wurde?«

«Er ist nicht vorhanden, wenn Sie darauf aus sind.«

«Ich bin auf die Wahrheit aus, Mr. Aldy. Bitte helfen Sie mir. Wurde Abschnitt U entfernt, bevor mir das Handbuch übergeben wurde?«

«Es sieht so aus.«

«Heißt das ja?«

«Ja. Der Abschnitt wurde entfernt.«

«Stimmen Sie mir zu, daß das Haftungshandbuch für die Arbeit in Ihrer Abteilung sehr wichtig ist?«

«Natürlich.«

«Also kennen Sie es sehr gut?«

«Ja.«

«Also würde es Ihnen ein Leichtes sein, für die Geschworenen den Inhalt von Abschnitt U zusammenzufassen, nicht wahr?«

«Oh, das weiß ich nicht. Es ist eine Weile her, seit ich das letzte Mal hineingeschaut habe.«

Er weiß immer noch nicht, ob ich eine Kopie des Abschnitts U aus dem Haftungshandbuch habe.»Weshalb versuchen Sie es nicht einfach? Skizzieren Sie für die Geschworenen kurz, was in Abschnitt U steht.«

Er denkt einen Moment nach, dann erklärt er, daß es in dem Abschnitt um ein System zu Kontrolle und Ausgleich zwischen Schadens- und Haftungsabteilung geht. Bestimmte Ansprüche müssen von beiden Abteilungen bearbeitet werden.

Um zu gewährleisten, daß ein Anspruch ordnungsgemäß abgewickelt wird, ist eine Menge Papierkram erforderlich. Er redet drauflos, jetzt mit etwas mehr Zuversicht, und da ich bisher noch keine Kopie des Abschnitts U hervorgeholt habe, fängt er an zu glauben, ich hätte sie nicht.

«Also besteht der Zweck des Abschnitts U darin, zu gewährleisten, daß jeder Anspruch ordnungsgemäß abgewik-kelt wird?«

«Ja.«

Ich greife unter den Tisch, hole das Handbuch hervor und begebe mich zum Zeugenstand.»Dann lassen Sie uns dies hier den Geschworenen erklären«, sage ich und gebe ihm das vollständige Handbuch. Er sackt ein bißchen zusammen. Drummond versucht, eine zuversichtliche Haltung zu bewahren, aber er schafft es nicht.

Der Abschnitt U des Haftungshandbuches ist genauso schmutzig wie der Abschnitt U des Schadenshandbuches, und nachdem ich Aldy eine Stunde lang zugesetzt habe, ist es Zeit, Schluß zu machen. Das System ist bloßgestellt, die Geschworenen kochen vor Wut.

Drummond hat keine Fragen. Kipler unterbricht für eine Viertelstunde, damit Deck und ich die Monitore aufstellen können.

Unser letzter Zeuge ist Donny Ray Black. Der Gerichtsdiener dämpft die Beleuchtung im Gerichtssaal, und die Geschworenen lehnen sich vor, begierig, sein Gesicht auf dem Fünfzig-Zentimeter-Bildschirm vor sich zu sehen. Wir haben seine Aussage auf einunddreißig Minuten gekürzt, und die Geschworenen lassen sich keines seiner gequälten und schwachen Worte entgehen.

Anstatt mir das zum hundertsten Male anzusehen, sitze ich dicht neben Dot und beobachte die Gesichter auf den Geschworenenbänken. Ich sehe sehr viel Mitgefühl. Dot wischt sich mit dem Handrücken die Wangen ab. Gegen Ende habe ich einen Kloß in der Kehle.

Als die Bildschirme leer sind und der Gerichtsdiener sich aufmacht, um das Licht wieder einzuschalten, ist es eine volle Minute lang sehr still im Saal. Im Halbdunkel ist das leise, aber unmißverständliche Geräusch des Weinens einer Mutter an unserem Tisch zu hören.

Wir haben all den Schaden angerichtet, den ich mir vorstellen konnte. Wir haben den Fall gewonnen. Jetzt besteht die Herausforderung darin, ihn nicht wieder zu verlieren.

Die Lichter gehen an, und ich verkünde feierlich:»Euer Ehren, die Anklage hat ihre Zeugenvernehmung abgeschlossen.«

Nachdem die Geschworenen längst gegangen sind, sitzen Dot und ich in einem leeren Gerichtssaal und unterhalten uns über die bemerkenswerten Aussagen, die wir im Verlauf der letzten beiden Tage gehört haben. Es wurde eindeutig bewiesen, daß sie im Recht ist und die anderen im Unrecht sind, aber das ist für sie nur ein geringer Trost. Sie wird gepeinigt ins Grab gehen, weil sie nicht härter gekämpft hat, als es noch zählte.

Sie sagt mir, ihr wäre es gleich, was als nächstes passiert. Sie hat ihren Tag vor Gericht gehabt. Sie würde am liebsten gleich verschwinden und nie wieder zurückkehren. Ich erkläre ihr, daß das unmöglich ist. Wir haben erst die Hälfte hinter uns. Nur noch ein paar T age.

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