Kapitel 21

Das Shelby County Justice Center ist ein modernes, zwölf Stockwerke hohes Gebäude in der Innenstadt. Hier wird nach dem Konzept schnelle Gerechtigkeit vorgegangen. Es gibt Unmengen von Gerichtssälen und Büros für Kanzlisten und Verwaltungspersonal. Das Haus ist zugleich Sitz der Staatsanwaltschaft und des Sheriffs. Es enthält sogar ein Gefängnis.

Das Strafgericht hat zehn Abteilungen, zehn Richter mit verschiedenen Zuständigkeitsbereichen in verschiedenen Gerichtssälen. Auf den mittleren Stockwerken wimmelt es von Anwälten und Polizisten, Angeklagten und deren Angehörigen. Für einen Neuling ist es ein beängstigender Dschungel, aber Deck kennt sich aus. Er hatte schon ein paarmal hier zu tun.

Er deutet auf die Tür von Abteilung Vier und sagt, er wäre in einer Stunde wieder zurück. Ich trete durch die Doppeltür und lasse mich auf einer der hinteren Bänke nieder. Der Fußboden ist mit Teppichboden ausgelegt, die Möblierung ist deprimierend modern. Im vorderen Teil des Saales wimmeln Anwälte wie Ameisen. Rechts befindet sich ein abgegrenzter Bereich, in dem ein Dutzend Häftlinge in orangefarbenen Overalls darauf warten, zum ersten Mal dem Richter vorgeführt zu werden. Eine Anklägerin sucht in einem Stapel Akten nach der für den richtigen Angeklagten.

In der zweiten Reihe von vorn sehe ich Cliff Riker. Neben ihm sitzt sein Anwalt und hantiert mit Papieren. Seine Frau ist nicht im Saal.

Der Richter erscheint, und alle erheben sich. Ein paar Fälle werden abgehandelt, Kautionen bestimmt oder aufgehoben, künftige Verhandlungen angesetzt. Die Anwälte drängen sich um den Richtertisch, dann nicken sie und füstern mit Seinen Ehren.

Cliff s Name wird aufgerufen, und er stolziert selbstbewußt zu einem Podium vor dem Richtertisch. Sein Anwalt hält sich mit den Papieren neben ihm. Die Anklägerin informiert das Gericht, daß die Anklagen gegen Cliff Riker aus Mangel an Beweisen fallengelassen wurden.

«Wo ist das Opfer?«unterbricht der Richter.

«Sie hat es vorgezogen, nicht zu erscheinen«, erwidert die Vertreterin der Anklage.

«Weshalb?«

Weil sie im Rollstuhl sitzt, hätte ich am liebsten geschrien.

Die Anklägerin zuckt die Achseln, als hätte sie keine Ahnung und als wäre ihr das im übrigen völlig gleichgültig. Cliffs Anwalt zuckt ebenfalls die Achseln, als wäre er überrascht, daß die junge Dame nicht hier ist, um ihre Wunden vorzuzeigen.

Die Anklägerin ist eine vielbeschäftigte Person mit Dutzenden von Fällen, die bis Mittag erledigt werden müssen. Sie liefert eine knappe Zusammenfassung der Tatsachen, schildert die Festnahme und fügt hinzu, daß die Tat sich nicht nachweisen lasse, weil das Opfer nicht aussagen will.

«Das ist das zweite Mal«, sagt der Richter und funkelt Cliff an.»Weshalb lassen Sie sich nicht scheiden, bevor Sie Ihre Frau umbringen?«

«Wir bemühen uns, Hilfe zu bekommen, Euer Ehren«, sagt Cliff mit einstudiert kläglicher Stimme.

«Dann sehen Sie zu, daß Sie sie schnell bekommen. Wenn mir noch einmal eine solche Anklage unterkommt, werde ich sie nicht abweisen. Haben Sie mich verstanden?«

«Ja, Sir«, erwidert Cliff, als täte es ihm unendlich leid, soviel Scherereien gemacht zu haben. Die Papiere werden zum Richtertisch hinaufgereicht. Der Richter unterschreibt und schüttelt dabei den Kopf. Klage abgewiesen.

Auch diesmal wurde die Stimme des Opfers nicht gehört. Kelly sitzt zu Hause mit einem gebrochenen Knöchel, aber das ist nicht der Grund für ihr Fernbleiben. Sie versteckt sich, weil sie nicht wieder geschlagen werden will. Ich frage mich, welchen Preis sie für das Fallenlassen der Anklage gezahlt hat.

Cliff gibt seinem Anwalt die Hand und stolziert den Gang entlang, an meiner Bank vorbei und zur Tür hinaus. Er kann tun, was immer er will, und braucht sich nicht vor Strafverfolgung zu fürchten, weil niemand da ist, der ihr helfen könnte.

Es liegt eine frustrierende Logik in dieser Fließbandjustiz. Da drüben sitzen gar nicht so weit entfernt Vergewaltiger, Mörder und Drogendealer in ihren orangefarbenen Overalls und mit Handschellen. Das System läßt kaum genug Zeit, um sich diese Verbrecher vorzunehmen und wenigstens ein gewisses Maß an Gerechtigkeit walten zu lassen. Wie kann man da erwarten, daß sich noch jemand um die Rechte einer einzigen mißhandelten Frau kümmert?

Vorige Woche, während ich noch mitten im Examen steckte, hat Deck ein bißchen herumtelefoniert. Er hat die neue Adresse und die Telefonnummer der Rikers herausgefunden. Sie sind in eine neue Wohnanlage im Südosten von Memphis gezogen. Zwei Zimmer, vierhundert im Monat. Cliff arbeitet bei einer nicht gewerkschaftlich organisierten Spedition ganz in der Nähe von unserem Büro. Deck vermutet, daß er ungefähr sieben Dollar pro Stunde verdient. Sein Rechtsbeistand war irgendein Feld-Wald-und-Wiesen-Anwalt, wie es sie in dieser Stadt zu Abertausenden gibt.

Ich habe Deck die Wahrheit über Kelly erzählt. Er meinte, es wäre wichtig, daß er Bescheid wüßte, denn wenn Cliff mir mit einer Schrotflinte den Kopf wegpusten sollte, dann gäbe es immer noch ihn, Deck, und er würde schon erzählen, wie es dazu gekommen ist.

Und dann hat Deck noch gesagt, ich sollte sie besser vergessen. Sie bringt nichts als Ärger.

Auf meinem Schreibtisch liegt ein Zettel, daß ich mich umgehend bei Bruiser melden soll. Er sitzt allein hinter seinem ausladenden Schreibtisch und spricht in das Telefon auf der rechten Seite. Links von ihm steht ein zweiter Apparat, drei weitere sind über das Büro verteilt. Dazu eins im Wagen und eins in der Aktentasche. Und das, das er mir gegeben hat, damit ich rund um die Uhr erreichbar bin.

Er bedeutet mir, mich zu setzen, verdreht seine rotgeränderten Augen, als hätte er da einen besonders penetranten Schwachkopf an der Strippe, und grunzt irgend etwas Zustimmendes in den Hörer. Die Haie schlafen entweder oder haben sich hinter Felsbrocken versteckt. Der Filter des Aquariums summt und gurgelt.

Deck hat mir zugefüstert, daß die Kanzlei Bruiser zwischen dreihundert- und fünfhunderttausend im Jahr einbringt. Das ist schwer zu glauben, wenn man sich in diesem schäbigen Zimmer umsieht. Vier Anwälte sind ständig für ihn auf Achse, um Verletzungsfälle an Land zu ziehen. (Und jetzt hat er mich noch dazu.) Deck konnte aus dem Stegreif fünf Fälle aufzählen, die Bruiser im letzten Jahr jeweils hundert- bis hundertfünfzigtausend eingebracht haben. Er scheffelt Geld mit Drogensachen und hat sich in der Rauschgiftbranche den Ruf eines Anwalts erworben, auf den man sich verlassen kann. Aber Deck zufolge sahnt Bruiser mit seinen Beteiligungen erst richtig ab. Er ist — niemand weiß, in welchem Ausmaß, und die Bundesbehörden können es ihm offenbar trotz verzweifelter Versuche nicht einmal nachweisen — in das Pornogeschäft in Memphis und Nashville verwickelt. Die Branche operiert vorwiegend mit Bargeld, also weiß niemand, wieviel er einstreicht.

Er ist dreimal geschieden, erzählte Deck, als wir bei Trudy's ein fettiges Sandwich aßen, und er hat drei halbwüchsige Kinder, die, wie nicht anders zu erwarten, bei ihren jeweiligen Müttern leben; er umgibt sich gern mit jungen Bartänzerinnen, trinkt und wettet zuviel und wird nie, einerlei, wieviel Bares er mit seinen dicken Händen zu packen kriegt, genug Geld haben, um zufrieden zu sein.

Vor sieben Jahren wurde er unlauterer Machenschaften bezichtigt und verhaftet, aber die Regierung hatte keine Chance. Nach einem Jahr wurde die Anklage fallengelassen. Deck hat mir anvertraut, daß er sich Sorgen macht wegen der gegenwärtigen Ermittlungen des FBI in der Unterwelt von Memphis, bei denen wiederholt die Namen von Bruiser Stone und seinem besten Freund, Prince Thomas, aufgetaucht sind. Deck meinte, Bruiser verhalte sich ein bißchen anders als sonst — er trinkt zuviel, verliert schneller die Geduld und poltert und schimpft mehr als üblich in der Kanzlei herum.

Da wir gerade bei Telefonen waren — Deck ist überzeugt, daß das FBI sämtliche Telefone im Büro angezapft hat, meines eingeschlossen. Und er glaubt auch, daß die Wände verwanzt sind. Das haben sie schon mal gemacht, sagte er mit bedeutungsvoller Miene. Und bei Yogi's wäre ich an Ihrer Stelle auch vorsichtig.

Mit diesem tröstlichen Gedanken hat er mich gestern nachmittag zurückgelassen. Wenn ich das Anwaltsexamen bestehe und nur ein bißchen Geld in die Hand bekomme, bin ich von hier verschwunden.

Bruiser legt endlich auf und reibt sich die müden Augen.»Sehen Sie sich das an«, sagt er und schiebt mir einen dicken Stapel Papier zu.

«Was ist das?«

«Die Reaktion von Great Benefit. Rudy, Sie sind im Begriff zu lernen, weshalb es weh tut, wenn man große Gesellschaften verklagt. Die haben Unmengen von Geld, mit dem sie einen ganzen Schwanz von Anwälten engagieren können, die ihrerseits Unmengen von Papier produzieren. Leo F. Drummond zockt bei Great Benefit vermutlich zweihundertfünfzig pro Stunde ab.«

Es ist ein Antrag, die Klage der Blacks abzuweisen. Der dazugehörige Schriftsatz ist dreiundsechzig Seiten lang. Außerdem bin ich zu einer Anhörung zu besagtem Antrag vor dem Ehrenwerten Harvey Hale geladen.

Bruiser beobachtet mich ungerührt.»Willkommen auf dem Schlachtfeld.«

Ich habe einen hübschen Kloß im Hals. Es wird mich Tage kosten, bis ich auch so reagieren kann.»Beeindruckend«, sage ich mit trockener Kehle. Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll.

«Lesen Sie sich die Verfahrensvorschriften genau durch. Erwidern Sie den Antrag. Schreiben Sie Ihren Schriftsatz. Tun Sie es schnell. Es ist gar nicht so schlimm, wie es aussieht.«

«Wirklich nicht?«

«Nein, Rudy. Es ist nur Papierkram. Das werden Sie schon noch lernen. Diese Mistkerle werden jeden bekannten Antrag stellen und viele, die sie erst erfinden müssen, alle mit dicken Schriftsätzen untermauert. Und sie werden jedesmal vor Gericht rennen wollen, um eine Anhörung über einen ihrer reizenden kleinen Anträge zu erreichen. Denen ist es völlig egal, ob sie dabei gewinnen oder verlieren, ihr Geld bekommen sie auf jeden Fall. Und es verzögert den Prozeß. Es ist eine wahre Kunst, wie sie das immer machen, und die Mandanten bezahlen die Rechnung. Das Problem ist nur, daß sie Sie dabei durch die Mangel drehen.«

«Ich bin jetzt schon erschöpft.«

«Es ist ein hartes Brot. Drummond schnippt mit den Fingern, sagt >Ich will einen Antrag auf Klageabweisung<, und schon vergraben sich drei angestellte Anwälte in der Bibliothek und zwei Anwaltsgehilfen fördern an ihren Computern alte Schriftsätze zutage. Presto! In Null Komma nichts liegt ein dicker Schriftsatz vor, gründlich recherchiert. Dann muß Drummond ihn ein paarmal lesen, sich für zweihundertfünfzig die Stunde hindurchwühlen, vielleicht einen seiner Partner bitten, ihn gleichfalls durchzulesen. Dann muß er ihn redigieren und kürzen und abändern, also kehren die Anwälte in die Bibliothek zurück, und die Anwaltsgehilfen setzen sich wieder vor ihre Computer. Es ist Beutelschneiderei, aber Great Benefit hat massenhaft Geld und nichts dagegen, es an Leute wie Tinley Britt zu zahlen.«

Ich habe das Gefühl, als hätte ich eine Armee herausgefordert. Zwei Telefone läuten gleichzeitig, und Bruiser greift nach dem nächsten.»An die Arbeit«, sagt er zu mir, dann sagt er» Ja?«in den Hörer.

Mit beiden Händen trage ich den Packen Papier in mein Büro und mache die Tür zu. Ich lese den Antrag auf Abweisung mit seiner hübsch dargelegten und fehlerfrei getippten Begründung, einen Schriftsatz, der, wie ich rasch feststelle, angefüllt ist mit überzeugenden Argumenten gegen fast alles, was ich in meiner Klage vorgebracht habe. Die Sprache ist vollmundig und klar, so frei von Juristenjargon, wie ein Schriftsatz überhaupt nur sein kann, und bemerkenswert flüssig geschrieben. Die vorgetragenen Ansichten sind untermauert mit einer Vielzahl von Präzedenzentscheidungen, die alle exakt zur Sache zu gehören scheinen. Auf fast jeder Seite stehen ausführliche Fußnoten. Es gibt sogar ein Inhaltsverzeichnis, ein Register und eine Bibliographie.

Fehlt nur noch eine unterschriftsreife Verfügung, in der der Richter dem Antrag von Great Benefit in allen Punkten entspricht.

Nach dem dritten Durchlesen reiße ich mich zusammen und fange an, mir Notizen zu machen. Vielleicht gibt es ja doch ein oder zwei Löcher, in die man hineinstochern könnte. Der Schock und die Angst lassen langsam nach. Ich rufe mir meinen immensen Abscheu gegen Great Benefit und das, was sie meinen Mandanten angetan haben, ins Gedächtnis und kremple die Ärmel auf.

Mr. Leo F. Drummond mag ein Hexenmeister im Gerichtssaal sein und zahllose Speichellecker unter sich haben, die die Arbeit für ihn machen, aber ich, Rudy Baylor, habe sonst nichts zu tun. Ich bin intelligent, und ich kann arbeiten. Er will einen Papierkrieg mit mir anfangen, na schön. Ich werde ihn in Papier ersticken.

Deck hat das Anwaltsexamen sechsmal mitgemacht. Beim dritten Versuch, in Kalifornien, hätte er es beinahe geschafft, fiel aber doch noch durch, weil seine Gesamtnote zwei Punkte zu niedrig lag. Dann hat er es dreimal in Tennessee versucht, wo es keinmal auch nur annähernd gereicht hat, wie er mir mit bemerkenswerter Offenheit erzählte. Ich bin nicht sicher, ob Deck das Examen überhaupt noch ablegen möchte. Er verdient vierzigtausend im Jahr, indem er Fälle für Bruiser an Land zieht, und er leidet nicht unter irgendwelchen ethischen Bedenken. (Nicht, daß Bruiser das kümmern würde.) Deck braucht keine Anwaltsgebühren zu zahlen, sich keine Gedanken über juristische Weiterbildung zu machen, keine Seminare zu besuchen, nicht vor Richtern zu erscheinen, sich keine Sorgen wegen Pro-bono-Arbeit zu machen, und laufende Unkosten hat er auch nicht.

Deck ist ein Blutegel. Solange er einen Anwalt hat mit einem Namen, den er benutzen, und ein Büro, in dem er arbeiten kann, ist Deck im Geschäft.

Er weiß, daß ich kaum etwas zu tun habe, deshalb hat er es sich angewöhnt, gegen elf in meinem Büro aufzukreuzen. Wir unterhalten uns eine halbe Stunde, dann gehen wir auf einen billigen Lunch zu Trudy's. Ich habe mich inzwischen an ihn gewöhnt. Er ist einfach Deck, ein bescheidener kleiner Kerl, der mein Freund sein möchte.

Wir sitzen in einer Ecke bei Trudy's zwischen den Transportarbeitern, und Deck redet so leise, daß ich ihn kaum verstehen kann. Gelegentlich, zumal in einem Krankenhauswartezimmer, kann er so aufdringlich sein, daß es geradezu peinlich ist, zu anderen Zeiten dagegen ist er schüchtern wie eine Maus. Er murmelt etwas, das er mir umbedingt mitteilen will, und schaut dabei ständig über die Schulter, als rechnete er jeden Augenblick mit einem Angriff.

«Es gab da mal einen Typ, der hier in der Kanzlei gearbeitet hat, ein gewisser David Roy, der war ziemlich dicke mit Bruiser. Die waren so richtig ein Herz und eine Seele, haben ihr Geld zusammen gezählt, na, Sie wissen schon. Roy wurde aus der Anwaltskammer ausgeschlossen, weil er Gelder veruntreut hatte, er kann also nicht mehr als Anwalt arbeiten. «Deck wischt sich mit den Fingern Thunfischsalat von den Lippen.»Kein Problem für ihn. Roy haut hier ab, geht auf die andere Straßenseite und macht einen Pornoclub auf. Der Club brennt ab. Er macht einen anderen auf, der brennt wieder ab. Und dann noch einer. Danach bricht Krieg aus in der Tittenbranche. Bruiser ist zu schlau, um mittendrin mitzumischen, aber er hält sich ständig am Rande. Ihr Kumpel Prince Thomas macht es genauso. Der Krieg dauert ein paar Jahre. Ab und zu taucht mal eine Leiche auf. Es gibt noch mehr Brände. Roy und Bruiser geraten sich über irgend etwas ernsthaft in die Haare. Voriges Jahr hat das FBI Roy festgenagelt, und jetzt heißt es, daß er singen wird. Sie wissen, was das bedeutet?«

Ich nicke und beuge mich jetzt genauso tief über den Tisch wie Deck. Es kann uns niemand hören, aber ein paar Leute starren zu uns herüber, weil wir so konspirativ die Köpfe über unserem Essen zusammenstecken.

«Also, gestern hat David Roy vor dem großen Geschworenengericht ausgesagt. Sieht so aus, als hätte er einen Handel abgeschlossen.«

Damit hat Deck seine Pointe abgeliefert. Er richtet sich steif

auf und verdreht die Augen, als müßte ich mir jetzt alles weitere selber zusammenreimen können.

«Und?«frage ich, immer noch füsternd.

Er runzelt die Stirn und sieht sich mißtrauisch um, dann senkt er wieder den Kopf.»Es ist damit zu rechnen, daß er über Bruiser auspackt. Vielleicht auch über Prince Thomas. Ich habe sogar Gerüchte gehört, daß ein Preis auf seinen Kopf ausgesetzt ist.«

«Ein Mord auf Bestellung?«

«Ja. Leise!«

«Von wem?«Doch bestimmt nicht von meinem Arbeitgeber.

«Raten Sie mal.«

«Doch nicht Bruiser.«

Er zeigt mir ein schmallippiges, zahnloses, schüchternes kleines Lächeln, dann sagt er:»Wäre nicht das erste Mal. «Er beißt ein gewaltiges Stück von seinem Sandwich ab und kaut gemächlich, während er mir zunickt. Ich warte, bis er geschluckt hat.

«Also, was versuchen Sie mir hier beizubringen?«

«Halten Sie sich Ihre Optionen offen.«

«Ich habe keine Optionen.«

«Es könnte sein, daß Sie von hier verschwinden müssen.«

«Ich habe doch gerade erst angefangen.«

«Es könnte brenzlig werden.«

«Was ist mit Ihnen?«

«Kann schon sein, daß ich auch von hier verschwinde.«

«Was ist mit den anderen?«

«Kümmern Sie sich nicht um die, die kümmern sich auch nicht um Sie. Ich bin Ihr einziger Freund hier.«

Diese Worte gehen mir stundenlang nicht aus dem Kopf. Deck weiß mehr, als er zugibt, aber wenn wir noch ein paarmal zusammen essen, werde ich schon alles aus ihm rausholen. Ich habe den starken Verdacht, daß er nach einem warmen Plätzchen sucht, wo er hinkann, wenn die Katastrophe hereinbricht. Die anderen Anwälte in der Kanzlei habe ich zwar kennengelernt — Nicklass, Toxer und Ridge —, aber die halten auf Abstand und legen keinen Wert auf Gespräche. Ihre Türen sind immer geschlossen. Deck mag sie nicht, und über ihre

Gefühle ihm gegenüber kann ich nur Vermutungen anstellen. Deck zufolge sind Toxer und Ridge Freunde und haben vermutlich vor, bald ihre eigene kleine Kanzlei aufzumachen. Nicklass ist Alkoholiker und ziemlich erledigt.

Schlimmstenfalls würde Bruiser angeklagt, verhaftet und vor Gericht gestellt. Bis zum Prozeß würde noch mindestens ein Jahr vergehen. Vermutlich würde er nach wie vor arbeiten und seine Kanzlei leiten können. Sie können ihn erst aus der Anwaltskammer ausschließen, wenn er verurteilt worden ist.

Reg dich nicht auf, sage ich mir immer wieder.

Und wenn ich auf der Straße lande, dann wäre es schließlich nicht das erste Mal. Bisher bin ich noch immer auf die Füße gefallen.

Ich fahre in die ungefähre Richtung von Miss Birdies Haus und komme an einem städtischen Park vorbei. Im Flutlicht sind mindestens drei Softballspiele im Gange.

Ich halte an einer Telefonzelle neben einer Autowaschanlage an und wähle die Nummer. Nach dem dritten Läuten meldet sie sich.»Hallo?«Ihre Stimme geht mir durch und durch.

«Ist Cliff zu Hause?«frage ich, eine Oktave tiefer. Wenn sie ja sagt, hänge ich einfach auf.

«Nein. Wer ist am Apparat?«

«Rudy«, sage ich mit normaler Stimme. Ich halte den Atem an und mache mich darauf gefaßt, daß jetzt ein Klicken und dann das Freizeichen folgt, gleichzeitig rechne ich aber auch damit, daß sie etwas Sanftes, Sehnsüchtiges zu mir sagt.

Sie schweigt einen Moment, legt aber nicht auf.»Ich hatte Sie gebeten, mich nicht anzurufen«, sagt sie ohne eine Spur von Verärgerung oder Ungeduld im Ton.

«Tut mir leid. Ich konnte nicht anders. Ich mache mir Sorgen um Sie.«

«Wir dürfen das nicht tun.«

«Was dürfen wir nicht?«

«Leben Sie wohl. «Jetzt höre ich das Klicken und das Freizeichen danach.

Ich habe meinen ganzen Mut zusammennehmen müssen, um sie anzurufen, und jetzt wünschte ich, ich hätte es nicht

getan. Manche Leute haben mehr Mut als Verstand. Ich weiß, daß ihr Mann ein hitzköpfger Irrer ist, aber ich weiß nicht, wie weit er gehen würde. Wenn er eifersüchtig veranlagt ist — und da mache ich mir keine Illusionen, denn schließlich ist er ein Prolet, neunzehn und jetzt schon kaputt und noch dazu mit einem schönen Mädchen verheiratet —, dann wacht er vermutlich argwöhnisch über jeden Schritt, den sie tut. Aber würde er so weit gehen, ihr Telefon anzuzapfen?

Der Gedanke ist ziemlich weit hergeholt, aber er hält mich wach.

Ich habe weniger als eine Stunde geschlafen, als mein Telefon klingelt. Nach der Digitaluhr auf meinem Nachttisch ist es kurz vor vier Uhr morgens. Ich taste im Dunkeln nach dem Telefon.

Es ist Deck, der mächtig aufgeregt und in rasendem Tempo in sein Autotelefon spricht. Er ist zu mir unterwegs, keine drei Blocks entfernt. Es ist etwas Großes, Dringendes, irgendeine wundervolle Katastrophe. Beeilen Sie sich! Ziehen Sie sich an! Ich soll in weniger als einer Minute an der Straße sein.

Er wartet in seinem ramponierten Kombi auf mich. Ich springe hinein, und er gibt Gas und jagt los. Ich hatte nicht einmal Zeit, mir die Zähne zu putzen.»Wo zum Teufel wollen wir hin?«

«Schwerer Unfall auf dem Fluß«, verkündet er ernst, als wäre er tief betrübt. Arbeitsalltag.»Kurz nach elf gestern abend hat sich eine Ölschute von ihrem Schlepper losgerissen und ist flußabwärts getrieben, bis sie einen Raddampfer rammte, der für einen High-School-Abschlußball gechartert worden war. Vielleicht so dreihundert Kids an Bord. Der Dampfer ist bei Mud Island gesunken, ganz in der Nähe des Ufers.«

«Das ist entsetzlich, Deck, aber was zum Teufel sollen wir dabei tun?«

«Ganz einfach. Bruiser bekommt einen Anruf. Bruiser ruft mich an. Und jetzt sind wir hier. Es ist eine riesige Katastrophe, vermutlich die größte, die sich je in Memphis zugetragen hat.«

«Und sollen wir darauf jetzt stolz sein?«

«Sie verstehen nicht. Bruiser läßt sich das doch nicht entgehen.«

«Na schön. Soll er seinen dicken Hintern in einen Taucheranzug stecken und nach den Toten suchen.«

«Könnte eine Goldmine sein. «Deck rast quer durch die Stadt. Wir reden nicht mehr miteinander. Als wir uns der Innenstadt nähern, überholt uns ein Krankenwagen, und mein Puls beschleunigt sich. Eine weitere Ambulanz schießt aus einer Nebenstraße vor uns vorbei.

Der Riverside Drive ist mit Dutzenden von Polizeifahrzeugen blockiert, deren Lichter durch das Dunkel flackern und zucken. Feuerwehrwagen und Ambulanzen stehen Stoßstange an Stoßstange. Ein Stück flußabwärts verhält ein Hubschrauber in der Luft. Hier und da stehen Leute reglos in Gruppen zusammen, andere eilen herum, rufen und zeigen auf etwas. In Ufernähe ist der Ausleger eines Krans zu sehen.

Wir eilen um das gelbe Absperrband herum und gesellen uns zu einer Gruppe von Zuschauern in der Nähe des Ufers. Hier sieht es jetzt schon seit mehreren Stunden immer gleich aus, und die Hektik hat sich weitgehend gelegt. Jetzt warten sie. Viele der Leute drängen sich in verängstigten, auf dem Kopfsteinpflaster sitzenden Grüppchen aneinander und schauen weinend zu, wie Taucher und Sanitäter nach Toten suchen. Geistliche beten kniend mit den Familien. Dutzende von benommenen Kids in nassen Smokings und zerrissenen Ballkleidern sitzen beieinander, halten sich bei den Händen und starren auf den Fluß hinaus. Eine Seite des Raddampfers ragt drei Meter aus dem Wasser, und die Retter, viele von ihnen in schwarzblauen Taucheranzügen und mit Sauerstoffflaschen, klammern sich daran. Andere arbeiten von drei miteinander vertäuten Pontons aus.

Hier spielt sich ein Ritual ab, aber es dauert eine Weile, bis man das begriffen hat. Ein Polizeilieutenant überquert langsam eine von einer schwimmenden Pier an Land führende Laufplanke und tritt auf das Kopfsteinpflaster. Die Menge, die ohnehin schon kaum einen Laut von sich gegeben hat, verstummt jetzt völlig. Er geht zu einem Streifenwagen, und sofort scharen sich mehrere Reporter um ihn. Der größte Teil der

Leute bleibt sitzen, umklammert seine Decken, senkt die Köpfe zu inbrünstigem Gebet. Es sind die Eltern, Verwandten und Freunde. Der Lieutenant sagt:»Es tut mir leid, aber wir haben gerade die Leiche von Melanie Dobbins identifiziert.«

Seine Worte tragen durch die Stille, die fast sofort vom Aufschluchzen der Angehörigen des Mädchens durchbrochen wird. Sie fallen sich in die Arme und geben sich gemeinsam ihrem Leid hin. Freunde knien nieder und umarmen sie, dann schreit eine Frau auf.

Die anderen drehen sich um und schauen hin, stoßen aber gleichzeitig einen Seufzer der Erleichterung aus. Auch sie sind auf eine schlimme Nachricht gefaßt, aber zumindest ist sie aufgeschoben. Es besteht noch Hoffnung. Später habe ich erfahren, daß einundzwanzig Kids überlebt haben, weil sie in eine Luftblase gesaugt worden waren.

Der Polizeilieutenant entfernt sich und kehrt zu der Pier zurück, wo eine weitere Leiche aus dem Wasser gezogen wird.

Dann beginnt sich ein zweites Ritual zu entfalten, das weniger tragisch, aber weitaus verabscheuenswürdiger ist. Männer mit ernsten Gesichtern schieben oder schleichen sich an die trauernden Familien heran. Sie haben kleine weiße Geschäftskarten dabei, die sie den Angehörigen oder Freunden der Toten in die Hand zu drücken versuchen. In der Dunkelheit drängen sie sich immer näher heran und behalten sich dabei gegenseitig argwöhnisch im Auge. Sie würden morden für diesen Fall. Sie wollen nur ein Drittel vom Erlös.

Deck registriert das alles, bevor ich überhaupt begriffen habe, was da vor sich geht. Er deutet mit einem Kopfnicken auf eine Stelle näher bei den trauernden Familien, aber ich denke nicht daran, mich zu bewegen. Er schleicht sich davon in die Menge und verschwindet rasch in der Dunkelheit, um seine Goldmine auszubeuten.

Ich kehre dem Fluß den Rücken, und wenig später renne ich durch die Straßen der Innenstadt von Memphis.

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