Kapitel 9

Man macht sich Feinde beim Jurastudium. Die Konkurrenz kann bösartige Formen annehmen. Die Leute lernen, zu betrügen und anderen in den Rücken zu fallen; es ist ein Training für die reale Welt. In meinem ersten Jahr hier gab es eine Schlägerei, als zwei Studenten im dritten Jahr bei einem Scheinprozeß-Wettbewerb anfingen, sich gegenseitig anzuschreien. Sie wurden relegiert und dann wieder zugelassen. Die Universität ist auf die Studiengebühren angewiesen.

Es gibt hier einige Leute, die ich nicht ausstehen kann, und ein oder zwei, die ich verabscheue. Ich versuche, wenigstens niemanden zu hassen.

Aber im Augenblick hasse ich den kleinen Klugscheißer, der mir das angetan hat. In dieser Stadt gibt es eine Zeitung, die über alle möglichen juristischen und finanziellen Transaktionen berichtet. Sie heißt The Daily Report und enthält neben dem Scheidungsregister und einem Dutzend anderer wichtiger Rubriken auch eine Liste der Konkursanmeldungen des Vortages. Mein Freund oder meine Freunde haben es offenbar für einen besonders netten Zug gehalten, den Abschnitt mit meinem Namen in der gestrigen Ausgabe zu vergrößern und diesen kleinen Leckerbissen über die ganze Fakultät zu verbreiten. Er lautet:»Baylor, Rudy L., Student; Aktiva: 1125 Dollar (unpfändbar); gesicherte Schulden: 285 Dollar bei der Wheels and Deals Finance Company; ungesicherte Schulden: 5136,88 Dollar; anhängige Verfahren: (1) Zwangseintreibung durch Texaco, (2) Zwangsräumung aus The Hampton. Arbeitgeber: Keiner; Anwalt: Pro se.«

Pro se bedeutet, daß ich mir keinen Anwalt leisten kann und meine Interessen selbst wahrnehme. Der Student, der in der Eingangshalle der Bibliothek die Aufsicht hat, gab mir ein Exemplar, als ich heute morgen das Gebäude betrat, und sagte, er hätte sie überall herumliegen sehen; sogar an den Schwarzen Brettern wären sie angeschlagen. Er meinte:»Möchte wissen, wer das komisch findet?«

Ich dankte ihm und rannte in meinen Kellerwinkel, um mich mal wieder zwischen meine Bücherstapel zu vergraben und jedem vertrauten Gesicht möglichst aus dem Weg zu gehen. Wenn die Vorlesungen demnächst abgeschlossen sind, haue ich hier ab, bloß weg von diesen Leuten, die ich allesamt nicht ausstehen kann.

An diesem Morgen habe ich einen Termin bei Professor Smoot; ich komme zehn Minuten zu spät. Es stört ihn nicht. In seinem Büro herrscht das obligatorische Chaos eines Gelehrten, der vor lauter Intelligenz keine Ordnung halten kann. Seine Fliege sitzt schief, sein Lächeln ist echt.

Wir reden zuerst über die Blacks und ihre Streitsache gegen Great Benefit. Ich gebe ihm eine dreiseitige Zusammenfassung des Falles, dazu meine gesammelten scharfsinnigen Schlußfolgerungen und Verfahrensvorschläge. Er geht die Seiten sorgfältig durch, und ich betrachte währenddessen die Papierknäuel unter seinem Schreibtisch. Er ist sehr beeindruckt und sagt das immer und immer wieder. Mein Rat für die Blacks lautet, daß sie sich einen Prozeßanwalt suchen und Great Benefit wegen Verstoßes wider Treu und Glauben verklagen sollen. Smoot stimmt mir uneingeschränkt zu.

Wenn der wüßte. Ich will von Smoot nur den Seminarschein, sonst gar nichts. Anschließend reden wir über Miss Birdie. Ich berichte ihm, daß sie recht wohlhabend ist und ihr Testament ändern möchte. Die Details behalte ich für mich. Ich lege ihm ein fünfseitiges Dokument vor, die revidierte Form des Testaments und Letzten Willens von Miss Birdie. Er überfliegt es schnell und meint, es sähe gut aus, ohne es überhaupt richtig gesehen zu haben. Bei seinem Seminar über die juristischen Probleme älterer Leute gibt es keine Abschlußprüfung, und es brauchen auch keine schriftlichen Arbeiten vorgelegt zu werden. Du brauchst nur regelmäßig zu erscheinen, den Gruftis deinen Besuch abzustatten und hinterher eine nette Kurzzusammenfassung zu jedem Fall abzuliefern, und schon gibt Smoot dir ein A.

Smoot kennt Miss Birdie seit etlichen Jahren. Offensichtlich ist sie schon seit geraumer Zeit die Königin von Cypress Gardens, und er hat sie bei Besuchen mit seinen Studenten jährlich zweimal gesehen. Bisher hat sie noch nie Gebrauch von der kostenlosen juristischen Beratung gemacht, sagt er nachdenklich und zupft an seiner Fliege. Es überrasche ihn sehr, nun zu erfahren, daß sie reich sei.

Wie überrascht er erst wäre, wenn ihm zu Ohren käme, daß sie demnächst meine Hauswirtin sein wird.

Von Smoots Büro aus brauche ich nur um die Ecke zu gehen, um in das von Max Leuberg zu kommen. Er hat in der Bibliothek eine Nachricht für mich hinterlassen, daß er mich sprechen müsse. Max geht von hier weg, wenn das Semester zu Ende ist. Er war für zwei Jahre von Wisconsin beurlaubt, und jetzt ist die Zeit abgelaufen. Wahrscheinlich werde ich Max ein wenig vermissen, wenn wir beide nicht mehr hier sind, aber im Augenblick fällt es mir schwer, wehmütige Gefühle für irgend etwas oder irgend jemanden in dieser Fakultät aufzubringen.

In Max' Büro stapeln sich die Umzugskartons, die den Aufdrucken zufolge sämtlich früher mal zum Transport von Hochprozentigem gedient haben. Er ist beim Packen, und ich habe noch nie ein derartiges Chaos gesehen. Wir schwelgen ein paar peinliche Minuten lang in Erinnerungen, ein verzweifelter Versuch, der Fakultät etwas Erfreuliches abzugewinnen. Ich habe ihn noch nie so niedergeschlagen erlebt. Es sieht fast so aus, als fiele es ihm wirklich schwer, von hier fortzugehen. Er deutet auf einen Stapel Papiere in einem Wild-Turkey-Kar-ton.»Das ist für Sie. Alles neueres Material, das ich in Leistungsverweigerungsfällen verwendet habe. Könnte nützlich für Sie sein.«

Ich bin noch nicht einmal ganz fertig mit dem letzten Pak-ken Recherchenmaterial, den er mir in die Hand gedrückt hat.»Danke, Max«, sage ich und betrachte den roten Truthahn auf dem Karton.

«Haben Sie die Klage schon eingereicht?«fragt er.

«Äh, nein. Noch nicht.«

«Das müssen Sie aber. Suchen Sie sich einen Anwalt, der sich mit Prozessen einen guten Namen gemacht hat. Jemanden mit Erfahrung in solchen Fällen. Ich habe eingehend über diesen Fall nachgedacht, und er geht einem an die Nieren. Viel Stoff für die Geschworenen. Ich sehe die aufgebrachte Jury förmlich vor mir, wie sie eine hohe Bestrafung der Versicherung fordern. Jemand muß sich dieses Falls annehmen und die Sache durchziehen.«

Ich ziehe ja schon, wie besessen.

Er springt von seinem Stuhl auf und reckt die Arme.»Bei was für einer Kanzlei werden Sie arbeiten?«fragt er, jetzt auf den Zehenspitzen und mit einer Art Yogadehnung seiner Waden beschäftigt.»Weil das hier nämlich ein großartiger Fall für Sie ist. Ich denke nur nach, wissen Sie. Vielleicht sollten Sie ihn in Ihre Firma einbringen, jemanden dort unterschreiben lassen und dann die Knochenarbeit selbst erledigen. Bestimmt gibt es dort jemanden mit Prozeßerfahrung. Sie können mich anrufen, wenn Sie wollen. Ich bin den ganzen Sommer über in Detroit und arbeite an einem Mega-Fall gegen Allstate, aber die Sache interessiert mich, okay? Ich glaube, das könnte eine ganz große Sache werden, eine Grundsatzentscheidung. Ich würde zu gern erleben, wie Sie diese Kerle in die Pfanne hauen.«

«Was hat Allstate denn angestellt?«frage ich, um vom Thema Firma abzulenken.

Sein Gesicht verzieht sich zu einem breiten Grinsen, und er verschränkt die Hände über dem Kopf. Er kann es einfach nicht fassen.»Unglaublich«, sagt er, dann stürzt er sich in einen weitschweifigen Bericht über ein wahres Prachtexemplar von einem Rechtsstreit. Ich wünschte, ich hätte nicht gefragt.

Meine begrenzten Erfahrungen im Umgang mit Anwälten haben mich gelehrt, daß sie alle an derselben Krankheit leiden. Eine ihrer widerwärtigsten Angewohnheiten ist das Erzählen von Kriegsgeschichten. Wenn sie einen großen Prozeß hinter sich haben, wollen sie, daß man das auch erfährt. Wenn sie mit einem großen Fall beschäftigt sind, der sie zweifellos reich machen wird, müssen sie die gute Nachricht unbedingt mit Gleichgesinnten teilen. Max ist so erfüllt von Visionen, wie er Allstate in den Konkurs treiben wird, daß er nachts nicht schlafen kann.

«Auf jeden Fall«, sagt er, in die Realität zurückkehrend,»kann ich Ihnen bei dieser Sache behilflich sein. Ich komme im Herbst nicht zurück, aber Sie finden meine Adresse und meine Telefonnummer in dem Karton. Rufen Sie an, wenn Sie mich brauchen.«

Ich hebe den Wild-Turkey-Karton auf. Er ist schwer, und der Boden sackt durch.»Danke«, sage ich.»Das ist wirklich nett von Ihnen.«

«Ich möchte helfen, Rudy. Glauben Sie mir, es gibt nichts Aufregenderes, als eine Versicherungsgesellschaft fertigzumachen.«

«Ich werde mein Bestes tun. Danke.«

Das Telefon klingelt, und er stürzt sich darauf. Meinen schweren Karton unter dem Arm, verlasse ich sein Büro.

Miss Birdie und ich schließen einen seltsamen Handel ab. Sie ist nicht sonderlich gut im Verhandeln und natürlich auf das Geld nicht angewiesen. Ich bringe sie auf hundertfünfzig Dollar herunter, Nebenkosten eingeschlossen. Außerdem stellt sie mir genügend Möbel zur Verfügung, um die vier Räume einzurichten.

Als eine Art zusätzliche Mietzahlung erkläre ich mich bereit, ihr auf dem Grundstück zu helfen, vor allem bei der Gartenarbeit. Ich werde den Rasen mähen; auf diese Weise spart sie wöchentlich dreißig Dollar. Ich werde die Hecken beschneiden, Laub zusammenharken, das übliche. Es gab auch vage Andeutungen über Unkrautjäten, aber die habe ich nicht ernst genommen.

Für mich ist es ein guter Handel, und ich bin stolz auf meine Geschäftstüchtigkeit. Die Wohnung ist mindestens dreihundertfünfzig im Monat wert, also habe ich zweihundert Dollar Bargeld gespart. Ich stelle mir vor, daß ich ungefähr fünf Stunden pro Woche für sie arbeiten werde; das macht zwanzig Stunden im Monat. Nicht schlecht unter den gegebenen Umständen. Nachdem sich mein Leben drei Jahre lang vorwiegend in Bibliotheken abgespielt hat, brauche ich frische Luft und körperliche Betätigung. Niemand wird erfahren, daß ich jetzt ein Hilfsgärtner bin, und außerdem bleibe ich auf diese

Weise ständig in der Nähe von Miss Birdie, meiner Mandantin.

Es ist eine mündliche Vereinbarung, von Monat zu Monat; wenn es nicht funktioniert, kann ich jederzeit wieder ausziehen.

Vor nicht allzu langer Zeit habe ich mir ein paar hübsche Wohnungen angesehen, angemessen für einen aufstrebenden Anwalt. Sie verlangten siebenhundert im Monat für zwei Zimmer, knapp neunzig Quadratmeter. Und ich war durchaus willens, das zu bezahlen. Es hat sich viel geändert.

Jetzt ziehe ich in ein spartanisches Etablissement, von Miss Birdie eingerichtet und dann zehn Jahre vernachlässigt. Es hat ein bescheidenes Wohnzimmer mit orangefarbenem, grob genopptem Teppichboden und blaßgrünen Wänden. Außerdem ein Schlafzimmer, eine schmale, mit dem Nötigsten ausgestattete Küche und eine separate Eßecke. Sämtliche Wände sind abgeschrägt, und zwar in jedem Zimmer, was meinem kleinen Dachboden eine etwas beengende Atmosphäre verleiht.

Für mich ist er perfekt. Solange Miss Birdie Abstand hält, ist alles in bester Ordnung. Ich mußte ihr versprechen, daß es weder wilde Parties geben würde noch laute Musik, leichte Mädchen, Schnaps, Drogen, Hunde oder Katzen. Sie hat eigenhändig die Wohnung saubergemacht, die Fußböden und Wände gefegt und soviel Gerumpel herausgeholt, wie sie konnte. Sie wich mir buchstäblich nicht von der Seite, als ich meine bescheidene Habe die Treppe hinaufschleppte. Ich bin sicher, daß ich ihr leid getan habe.

Zum Auspacken bekam ich gar nicht erst eine Chance. Kaum daß ich den letzten Karton nach oben befördert hatte, bestand sie darauf, auf der Terrasse eine Tasse Kaffee mit mir zu trinken.

Wir saßen ungefähr zehn Minuten auf der Terrasse, gerade lange genug, daß ich nicht mehr allzusehr schwitzte, da erklärte sie auch schon, jetzt sei es aber Zeit, daß wir uns an die Blumenbeete machten. Ich jätete Unkraut, bis ich einen Krampf im Rücken hatte. Ein paar Minuten lang machte sie selber mit, dann stand sie nur noch hinter mir und erteilte Anweisungen.

Ich kann der Gartenarbeit nur entkommen, indem ich mich zu Yogi's in Sicherheit bringe. Heute bin ich für die Bar eingeteilt, und zwar, bis wir schließen. Also irgendwann nach ein Uhr nachts.

Der Laden ist voll heute abend, und zu meinem großen Ärger sitzt eine ganze Horde meiner Kommilitonen an zwei langen Ecktischen im vorderen Teil des Lokals. Es ist das letzte Treffen einer der verschiedenen Verbindungen von Jurastudenten, einer, die mich nicht zum Beitritt aufgefordert hat. Sie nennt sich The Barristers und setzt sich größtenteils aus Typen zusammen, die für die Juristenzeitschrift arbeiten, ungeheuer wichtige Studenten also, die sich selbst viel zu ernst nehmen. Sie tun geheimnisvoll und versuchen sich den Anschein von Exklusivität zu geben. Zu ihren obskuren Initiationsriten gehören zum Beispiel das Deklamieren von lateinischen Sprüchen und andere Albernheiten in der Art. Fast alle haben Stellungen bei großen Kanzleien oder Bundesgerichten gefunden. Zwei sind bei der Steuerschule in New York angenommen worden. Eine aufgeblasene Clique.

Ich zapfe einen Krug Bier nach dem anderen, und sie werden schnell betrunken. Der lauteste ist ein Frettchen namens Jacob Staples, ein vielversprechender junger Anwalt, der vor drei Jahren mit dem Jurastudium begonnen hat und schon jetzt eine Menge schmutziger Tricks beherrscht. Staples hat mehr Möglichkeiten zum Mogeln gefunden als irgend jemand sonst in der Geschichte dieser Fakultät. Er hat Examensfragen gestohlen, Nachschlagewerke versteckt, unsere Ausarbeitungen geklaut und Professoren belogen, um einen Aufschub für seine Seminararbeiten und Kurzreferate zu bekommen. Bald wird er eine Million Dollar jährlich verdienen. Ich vermute, daß Staples derjenige war, der den mich betreffenden Text aus dem Daily Report kopiert und die ganze Fakultät damit bepflastert hat. Zuzutrauen wäre es ihm.

Obwohl ich versuche, gar nicht auf sie zu achten, fange ich gelegentlich einen starrenden Blick ein. Mehrmals dringt das Wort» Offenbarungseid «zu mir herüber.

Aber ich widme mich meiner Arbeit und trinke hin und wieder einen Schluck Bier aus einem Kaffeebecher. Prince sitzt in der gegenüberliegenden Ecke, sieht fern und behält die Barristers im Auge. Heute abend sieht er sich ein Windhundrennen in Florida an und wettet auf jeden Lauf. Sein Wett- und Trinkkumpan ist diesmal sein Anwalt, Bruiser Stone, ein ungeheuer dicker und breiter Mann mit langem, dichtem grauen Haar und herunterhängendem Spitzbart. Er bringt mindestens hundertachtzig Kilo auf die Waage, und zusammen sehen die beiden aus wie zwei Bären, die auf Felsbrocken sitzen und Erdnüsse mampfen.

Bruiser Stone ist ein Anwalt von höchst fragwürdigem Ruf. Er und Prince kennen sich schon sehr lange, sie sind alte HighSchool-Freunde aus South Memphis, und sie haben eine Menge dunkle Geschäfte zusammen gemacht. Sie zählen ihr Geld, wenn niemand dabei ist. Sie bestechen Politiker und Polizisten. Prince erledigt die Geschäfte, Bruiser besorgt das Denken. Und wenn Prince erwischt wird, erscheint Bruiser sofort auf jeder Titelseite und lamentiert über Ungerechtigkeiten. Auch im Gerichtssaal ist Bruiser sehr erfolgreich, in erster Linie deshalb, weil er, wie man sich erzählt, Geschworenen beträchtliche Summen Bargeld zukommen läßt. Prince braucht keine Angst davor zu haben, daß er irgendwann mal schuldig gesprochen wird.

Bruiser beschäftigt vier oder fünf Anwälte in seiner Kanzlei. Ich kann mir die Tiefe der Verzweifung nicht ausmalen, die mich zwingen könnte, ihn um einen Job zu bitten. Im Gegenteil. Ich kann mir nichts Schlimmeres vorstellen, als den Leuten sagen zu müssen, daß ich für Bruiser Stone arbeite.

Prince könnte es für mich arrangieren. Er würde mir liebend gern diesen Gefallen tun, nur um zu beweisen, wieviel Einfluß er hat.

Ich kann einfach nicht glauben, daß ich auch nur daran denke.

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