Kapitel 50

Der letzte Ort, wo ich jetzt sein möchte, ist das Büro. Ich bin zu müde und zu benommen, um in einer Bar zu feiern, und der einzige, der mir in diesem Moment Gesellschaft leistet, ist Deck, ein Nicht-Trinker. Zwei steife Drinks wären ohnehin genug, um mich ins Koma fallen zu lassen, also gerate ich gar nicht erst in Versuchung. Irgendwo sollte jetzt eine tolle Siegesfeier stattfinden, aber dergleichen läßt sich schwer planen, wenn man es mit einer Jury zu tun hat.

Vielleicht morgen. Ich bin sicher, daß morgen der erste Schock vorbei sein und eine verzögerte Reaktion auf das Urteil einsetzen wird. Bis dahin werde ich die Realität begriffen haben. Morgen werde ich feiern.

Ich verabschiede mich vor dem Gericht von Deck, sage ihm, daß ich völlig erledigt bin, und verspreche, daß wir uns später treffen werden. Wir stehen beide noch unter Schock und brauchen Zeit zum Nachdenken, allein. Ich fahre zu Miss Birdies Haus und absolviere meine tägliche Routine, indem ich einmal alle Zimmer abgehe. Nur ein Tag wie jeder andere. Nichts Besonderes. Ich setze mich auf ihre Terrasse, starre zu meiner kleinen Wohnung hinauf und fange zum erstenmal an, Geld auszugeben. Wie lange wird es dauern, bis ich mein erstes hübsches Haus kaufe oder baue? Was für einen neuen Wagen soll ich mir anschaffen? Ich versuche, diese Gedanken zu verdrängen, aber es ist unmöglich. Was fängt man mit sechzehneinhalb Millionen Dollar an? Ich kann es einfach nicht fassen. Ich weiß, daß Dutzende von Dingen schief gehen können. Das Urteil könnte aufgehoben und der Fall vor einem anderen Gericht neu verhandelt werden; das Urteil könnte für nichtig erklärt werden, und ich bekäme gar nichts; die Geldstrafe könnte von einem Berufungsgericht drastisch herabgesetzt oder vollständig verworfen werden. Ich weiß, daß diese schrecklichen Dinge passieren können, aber im Augenblick gehört das Geld mir.

Ich träume, während die Sonne untergeht. Die Luft ist klar,

aber sehr kalt. Vielleicht kann ich morgen damit anfangen, das Ausmaß dessen, was ich getan habe, zu begreifen. Im Augenblick wärmt mich der Gedanke, daß eine Menge Gift aus meiner Seele herausgeschwemmt worden ist. Fast ein Jahr lang habe ich mit einem verzehrenden Haß auf dieses mysteriöse Wesen gelebt, das sich Great Benefit nennt. Ich war erfüllt von Bitterkeit gegen die Leute, die dort arbeiten. Sie haben eine Folge von Ereignissen in Gang gesetzt, die Donny Ray das Leben kosteten. Ich hoffe, Donny Ray ruht in Frieden. Bestimmt wird ein Engel ihm sagen, was heute passiert ist.

Sie sind bloßgestellt und für ihre Missetaten bestraft worden. Ich hasse sie nicht mehr.

Kelly zerteilt ihr schmales Stück Pizza mit einer Gabel und ißt winzige Häppchen. Ihre Lippen sind immer noch geschwollen und ihre Wangen und Kiefer sehr empfindlich. Wir sitzen auf ihrem Bett, mit ausgestreckten Beinen, den Rücken an der Wand; der Pizzakarton liegt zwischen uns. Auf einem Fünf-undvierzig-Zentimeter-Sony, der in dem kleinen Zimmer nicht weit von uns auf einer Kommode steht, sehen wir uns einen Western mit John Wayne an.

Sie trägt denselben grauen Jogginganzug, keine Socken oder Schuhe, und ich sehe eine kleine Narbe an ihrem rechten Knöchel, den er ihr im letzten Sommer gebrochen hat. Sie hat ihr Haar gewaschen und zu einem Pferdeschwanz zusammengerafft. Sie hat ihre Fingernägel lackiert, leuchtendrot. Sie versucht Konversation zu machen, aber sie hat so starke Schmerzen, daß sie es nicht recht schafft, lustig zu sein. Wir reden nicht viel. Ich bin noch nie zusammengeschlagen worden, und es fällt mir schwer, mir die seelischen Nachwirkungen vorzustellen. Die körperlichen Schmerzen sind relativ leicht zu begreifen, nicht aber der psychische Schock. Ich frage mich, wann er wohl beschlossen haben mag, aufzuhören, Schluß zu machen und sein Werk zu bewundern.

Ich versuche, nicht daran zu denken. Wir haben nicht darüber gesprochen, und ich habe auch nicht die Absicht, dieses

Thema zur Sprache zu bringen. Kein Wort von Cliff, seit ihm die Papiere zugestellt wurden.

Sie hat hier an diesem Zufluchtsort eine andere Frau kennengelernt, eine Mutter von drei Teenagern, die so verängstigt und traumatisiert ist, daß sie kaum imstande war, einen einfachen Satz zu beenden. Sie ist im Nebenzimmer. Im Haus herrscht Totenstille. Kelly hat ihr Zimmer nur einmal verlassen, um auf der Hinterveranda zu sitzen und frische Luft zu schöpfen. Sie hat versucht zu lesen, aber ihr linkes Auge ist noch immer fast gänzlich zugeschwollen, und auf dem rechten kann sie zeitweise nur verschwommen sehen. Der Arzt hat gesagt, es wäre kein permanenter Schaden.

Sie hat ein paarmal geweint, und ich verspreche ihr immer wieder, daß dies die letzten Schläge waren. Es wird nie wieder passieren, und wenn ich den Dreckskerl mit eigenen Händen umbringen muß. Und ich meine es ernst. Ich bin ganz sicher, daß ich, falls er sich ihr noch einmal nähern sollte, ihm das Gehirn wegpusten könnte.

Verhaftet mich. Klagt mich an. Macht mir den Prozeß. Gebt mir zwölf Leute auf den Geschworenenbänken. Ich habe eine Glückssträhne.

Ich erzähle ihr nichts von dem Urteil. Hier, wo ich neben ihr in diesem dunklen, kleinen Zimmer sitze und John Wayne beim Reiten zusehe, scheint Kiplers Gerichtssaal tage- und meilenweit entfernt zu sein.

Und dies hier ist genau der Ort, an dem ich sein möchte.

Wir essen den Rest der Pizza und schmiegen uns eng aneinander. Wir halten uns bei den Händen wie zwei Teenager. Aber ich muß sehr vorsichtig sein, weil sie buchstäblich überall vom Kopf bis zu den Knien verletzt ist.

Der Film geht zu Ende, und es kommen die Zehn-UhrNachrichten. Plötzlich interessiert es mich, ob der Black-Fall erwähnt wird. Nach den obligatorischen Morden und Vergewaltigungen und nach dem ersten Werbeblock verkündet der Moderator ziemlich großspurig:»In einem Gerichtssaal in Memphis wurde heute Geschichte geschrieben. In einem Zivilprozeß hat eine Jury die Great Benefit Life Insurance Company in Cleveland, Ohio, zu einer Rekordgeldstrafe von fünfzig Millionen Dollar verurteilt. Rodney Frate mit den Einzelheiten. «Ich kann nicht anders, ich muß lächeln. Wir sehen Rodney Frate live und vor Kälte zitternd vor dem Shelby County Courthouse stehen, das jetzt natürlich seit etlichen Stunden verlassen ist.»Arnie, vor ungefähr einer Stunde habe ich mit Pauline McGregor gesprochen, der Kanzlistin hier am Gericht, und sie hat mir bestätigt, daß gegen vier Uhr heute nachmittag eine Jury in Abteilung Acht unter dem Vorsitz von Richter Tyrone Kipler mit einem Urteil über zweihunderttausend Dollar Schadenersatz und einer Geldstrafe von fünfzig Millionen in den Saal zurückgekehrt ist. Ich habe auch mit Richter Kipler gesprochen, der sich weigerte, vor die Kamera zu treten. Er sagte, bei diesem Fall wäre es um die böswillige Verweigerung eines Anspruchs durch Great Benefit gegangen. Mehr wollte er nicht sagen, außer daß seines Wissens diese Geldstrafe die höchste ist, die jemals in Tennessee verhängt wurde. Ich habe mit mehreren Prozeßanwälten hier in der Stadt gesprochen, und keiner von ihnen hat je von einer so hohen Summe gehört. Leo F. Drummond, der Anwalt der Beklagten, wollte keinen Kommentar abgeben. Rudy Baylor, der Anwalt der Kläger, war nicht zu erreichen. Zurück zu Ar-nie.«

Arnie geht rasch zu einem Lastwagenunfall auf der Interstate 55 über.

«Du hast gewonnen?«fragt sie. Sie ist nicht verblüfft, nur unsicher.

«Ich habe gewonnen.«

«Fünfzig Millionen Dollar?«

«Ja. Aber noch ist das Geld nicht auf der Bank.«

«Rudy!«

Ich zucke die Achseln, als wäre das bloßer Alltagskram.»Ich hatte Glück«, sage ich.

«Aber du bist doch gerade erst mit dem Studium fertig geworden?«

Was soll ich sagen?» So schwierig war das nicht. Wir hatten eine großartige Jury, und die Tatsachen haben sich einfach ergeben.«

«Ja, einfach so, als passierte das jeden Tag.«

«Schön war's.«

Sie nimmt die Fernbedienung und dämpft die Lautstärke. Sie will weiter darüber reden.»Deine Bescheidenheit funktioniert nicht. Sie ist nur gespielt.«

«Du hast recht. Im Augenblick bin ich der beste Anwalt der Welt.«

«Schon besser«, sagt sie und versucht zu lächeln. Ich habe mich schon beinahe an die Verletzungen in ihrem Gesicht gewöhnt. Ich starre sie nicht mehr so an, wie ich es heute nachmittag im Wagen getan habe. Ich kann es kaum abwarten, daß eine Woche vergeht und sie wieder so hinreißend aussieht wie vorher.

Ich schwöre, ich könnte ihn umbringen.

«Wieviel davon bekommst du?«fragt sie.

«Du kommst gleich zur Sache, ja?«

«Ich bin nur neugierig«, sagt sie mit einer Stimme, die fast kindlich klingt. Im Geiste sind wir jetzt ein Liebespaar, und dazu gehört, daß man kichert und gurrt.

«Ein Drittel, aber bis dahin ist es noch ein langer Weg.«

Sie will sich zu mir umdrehen, aber das verursacht ihr derartige Schmerzen, daß sie fast aufstöhnt. Ich helfe ihr, sich auf den Bauch zu legen. Sie kämpft gegen Tränen an, und ihr Körper ist verspannt. Wegen der Prellungen kann sie nicht auf dem Rücken schlafen.

Ich streiche ihr übers Haar und flüstere in ihr Ohr, bis die Gegensprechanlage uns unterbricht. Es ist Betty Norvelle unten. Meine Zeit ist um.

Kelly drückt meine Hand ganz fest, als ich sie auf die verletzte Wange küsse und ihr verspreche, morgen wiederzukommen. Sie fleht mich an, nicht zu gehen.

Die Vorteile, meinen ersten Prozeß mit einem derartigen Urteil abgeschlossen zu haben, liegen auf der Hand. Der einzige Nachteil, den ich in den letzten paar Stunden erkennen konnte, ist der, daß es von nun an nur noch abwärtsgehen kann. Jeder künftige Mandant wird die gleiche Zauberei erwarten. Doch darüber zerbreche ich mir später den Kopf. Ich sitze am Samstag vormittag allein in meinem Büro und warte auf einen Reporter und seinen Fotografen, als das Telefon läutet.»Hier ist Cliff Riker«, sagt eine rauhe Stimme, und ich drücke sofort auf den Knopf des Aufnahmegeräts.

«Was wollen Sie?«

«Wo ist meine Frau?«

«Sie haben Glück, daß sie nicht im Leichenschauhaus ist.«

«Ich werde Ihnen den Arsch aufreißen, Sie Großmaul.«

«Reden Sie ruhig weiter, mein Junge. Das Band läuft.«

Er legt rasch auf, und ich starre das Telefon an. Es ist ein billiges Modell, das die Kanzlei in einem K-Markt gekauft hat, aber es ist sauber.

Ich rufe Butch zu Hause an und informiere ihn über mein kurzes Gespräch mit Mr. Riker. Butch hat wegen der gestrigen Auseinandersetzung, als er ihm die Papiere überbrachte, noch ein Hühnchen mit ihm zu rupfen. Cliff hat ihm unflätige Beschimpfungen an den Kopf geworfen und sogar seine Mutter beleidigt. Nur die Anwesenheit zweier Kollegen von Cliff auf dem nahe gelegenen Parkplatz hatte Butch daran gehindert, über ihn herzufallen. Butch hat mir gestern abend gesagt, wenn es zu irgendwelchen Drohungen käme, würde er gern eingreifen. Er hat einen Freund, der Rocky heißt und stundenweise als Rausschmeißer arbeitet, und zusammen sind sie ein beeindruckendes Paar, hat Butch mir versichert. Er muß mir versprechen, daß er dem Jungen nur Angst einjagt, ihn aber nicht verletzt. Butch sagt mir, er hätte vor, Cliff irgendwo allein aufzuspüren, das Telefongespräch zu erwähnen, ihm zu sagen, daß sie meine Leibwächter wären und daß auch nur eine einzige Drohung schwerwiegende Folgen hätte. Dabei würde ich gern zuschauen. Ich bin entschlossen, nicht in Angst zu leben.

Das ist Butchs Vorstellung von einem netten Zeitvertreib.

Der Reporter von der Memphis Press kommt um elf. Wir unterhalten uns, während der Fotograf einen ganzen Film ver-knipst. Er will alles über den Fall und den Prozeß wissen, und ich sage ihm, was er hören will. Das ist jetzt öffentliche Information. Ich sage nette Dinge über Drummond, wundervolle Dinge über Kipler, grandiose Dinge über die Geschworenen.

Es wird eine große Story in der Sonntagsausgabe, verspricht

er.

Ich beschäftige mich im Büro, lese die Post und höre die paar Telefonanrufe ab, die im Laufe der letzten Woche hereingekommen sind. Ich bin außerstande zu arbeiten, und mir wird bewußt, wie wenige Mandanten und Fälle ich habe. Die Hälfte der Zeit verbringe ich damit, den Prozeß noch einmal ablaufen zu lassen, die andere Hälfte vergeht mit Träumen über meine Zukunft mit Kelly. Kann ich noch mehr Glück haben?

Ich rufe Max Leuberg an und erzähle ihm alles haarklein. Ein Schneesturm hatte O'Hare außer Betrieb gesetzt, deshalb konnte er nicht rechtzeitig zum Prozeß nach Memphis kommen. Wir unterhalten uns eine Stunde lang.

Unser Zusammensein am Samstag abend ist dem am Freitag sehr ähnlich, nur etwas anderes zu essen und ein anderer Film. Sie liebt chinesisches Essen, und ich bringe eine große Tüte voll mit. Wir sitzen in der gleichen Position auf dem Bett, sehen uns eine Komödie an und lachen hin und wieder.

Aber es ist alles andere als langweilig. Sie kommt langsam aus ihrem privaten Alptraum heraus. Ihre körperlichen Verletzungen heilen. Das Lachen kommt ein wenig leichter, ihre Bewegungen sind ein wenig rascher. Wir berühren uns öfter, aber nicht viel öfter. Bei weitem nicht genug.

Sie möchte heraus aus dem Jogginganzug. Sie waschen ihn zwar jeden Tag, aber sie hat ihn satt. Sie sehnt sich danach, wieder hübsch zu sein, und möchte ihre Kleider. Wir reden davon, uns in ihre Wohnung zu schleichen und ihre Sachen herauszuholen.

Über die Zukunft reden wir immer noch nicht.

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