Kapitel 16


Ich überstehe die Nacht ohne Verhaftung, aber auch ohne viel Schlaf. Irgendwann zwischen fünf und sechs Uhr kapituliere ich vor den verworrenen Gedanken, die mir im Kopf herumwirbeln, und stehe auf. Von den letzten achtundvierzig Stunden habe ich kaum vier geschlafen.

Die Nummer steht im Telefonbuch, und ich wähle sie um fünf Minuten vor sechs. Ich bin bei der zweiten Tasse Kaffee. Es läutet zehnmal, bevor eine verschlafene Stimme» Hallo «sagt.

«Barry Lancaster bitte.«

«Am Apparat.«

«Barry, hier ist Rudy Baylor.«

Er räuspert sich, und ich kann regelrecht sehen, wie er aus dem Bett springt.»Was wollen Sie?«fragt er jetzt mit wesentlich schärferer Stimme.

«Tut mir leid, daß ich Sie so früh störe, aber ich wollte Sie über ein paar Dinge informieren.«

«Zum Beispiel?«

«Zum Beispiel, daß die Blacks gestern ihre Klage gegen Great Benefit eingereicht haben. Ich schicke Ihnen eine Kopie, sobald Sie sich ein neues Büro beschafft haben. Die Blacks haben außerdem eine Kündigung unterschrieben. Sie sind also nicht mehr ihr Anwalt und brauchen sich ihretwegen nicht mehr den Kopf zu zerbrechen.«

«Wie konnten Sie die Klage einreichen?«

«Das geht Sie wirklich nichts an.«

«Meinen Sie?«

«Ich schicke Ihnen eine Kopie der Klage, dann können Sie es selbst herausfinden. Haben Sie eine neue Adresse, oder gilt noch die alte?«

«Unser Postschließfach ist nicht mit verbrannt.«

«Okay. Im übrigen würde ich es zu schätzen wissen, wenn Sie mich aus dieser Brandstiftungsgeschichte draußen ließen.

Ich habe nichts mit dem Brand zu tun, und wenn Sie darauf bestehen, mich da hineinzuziehen, werde ich Sie verklagen, Sie dreckiger Gauner.«

«Ich bin starr vor Angst.«

«Das kann ich mir vorstellen. Hören Sie einfach auf, mit meinem Namen herumzuwerfen. «Ich lege auf, bevor er etwas erwidern kann. Dann beobachte ich fünf Minuten das Telefon, aber er ruft nicht an. Was für ein Feigling.

Es interessiert mich brennend, wie die Zeitungen die Geschichte aufziehen, also dusche ich, ziehe mich an und verschwinde schnell im Schutz der Dunkelheit. Der Verkehr ist noch sehr dünn, während ich nach Süden in Richtung Flughafen fahre, auf Greenway Plaza zu, einen Ort, der anfängt, sich wie zu Hause anzufühlen. Ich parke an derselben Stelle, die ich sieben Stunden zuvor verlassen habe. Der Club Amber ist still und dunkel, der Parkplatz mit Müll und Bierdosen übersät.

In dem schmalen Bauabschnitt neben dem, in dem, wie ich glaube, mein Büro liegt, hat sich eine stämmige Deutsche namens Trudy eingemietet, die hier ein billiges Cafe betreibt. Ich habe sie am Vorabend kennengelernt, als ich auf ein Sandwich hineinging. Sie hat mir erzählt, daß sie um sechs für Kaffee und Doughnuts aufmacht.

Als ich hereinkomme, brüht sie gerade Kaffee auf. Wir unterhalten uns einen Moment, während sie mein Bagel toastet und mir Kaffee einschenkt. An den kleinen Tischen sitzt bereits ein Dutzend Männer, und Trudy hat andere Dinge im Kopf. Zum Beispiel hat der Doughnut-Lieferant sich verspätet.

Ich hole mir eine Zeitung und sitze an einem Tisch beim Fenster, während die Sonne aufgeht. Auf der Titelseite des Lokalteils ist ein großes Foto von Mr. Lakes Lagerhaus in hellen Flammen. Ein kurzer Artikel liefert eine Geschichte des Gebäudes. Es sei völlig zerstört worden, und Mr. Lake selbst schätze den Verlust auf drei Millionen.»Die Renovierung war eine Liebesaffäre, die sich über fünf Jahre hingezogen hat«, wird er zitiert.»Ich bin untröstlich.«

Weine nur weiter, alter Junge. Ich überfliege den Artikel und kann nirgends das Wort» Brandstiftung «entdecken. Die Polizei hüllt sich in Schweigen — die Untersuchungen dauern an, zu früh für Spekulationen, kein Kommentar. Der übliche Bullenjargon.

Ich hatte zwar nicht damit gerechnet, daß mein Name als möglicher Verdächtiger auftauchen würde, aber ich bin trotzdem erleichtert.

Ich bin in meinem Büro, versuche beschäftigt auszusehen und frage mich, wie in aller Welt ich es schaffen soll, im Laufe der nächsten dreißig Tage tausend Dollar an Honoraren einzubringen, als Bruiser hereingestürmt kommt. Er wirft ein Blatt Papier auf meinen Schreibtisch. Ich greife danach.

«Das ist eine Kopie des Polizeiberichts«, knurrt er, bereits wieder auf dem Weg zur Tür.

«Über mich?«frage ich bestürzt.

«Unsinn. Es ist ein Polizeibericht. Verkehrsunfall gestern abend an der Ecke von Airways und Shelby, nur ein paar Blocks von hier entfernt. Kann sein, daß ein betrunkener Fahrer beteiligt war. Sieht so aus, als wäre er bei Rot über die Kreuzung gefahren. «Er hält inne und funkelt mich an.

«Vertreten wir einen der…«

«Noch nicht! Dazu sind Sie da. Kümmern Sie sich um den Fall. Überprüfen Sie ihn. Ziehen Sie einen Vertrag an Land. Sieht so aus, als könnten da ein paar gute Verletzungen drinstecken.«

Ich bin völlig verwirrt, und er läßt mich so sitzen. Die Tür schlägt zu, und ich kann ihn auf seinem Weg den Flur entlang knurren hören.

Der Unfallbericht steckt voller Informationen: die Namen von Fahrern und Beifahrern, Adressen, Telefonnummern, Verletzungen, Schäden an den Fahrzeugen, Augenzeugenberichte. Da ist eine Zeichnung, wie es sich nach Ansicht der Polizisten zugetragen haben muß, und eine weitere, wie sie die Fahrzeuge vorgefunden haben. Beide Fahrer wurden verletzt und ins Krankenhaus gebracht, und derjenige, der bei Rot über die Kreuzung gefahren ist, hatte vermutlich getrunken.

Interessante Lektüre, aber was soll ich jetzt unternehmen?

Der Unfall ist gestern abend um zehn Minuten nach zehn passiert, und Bruiser hat es irgendwie geschafft, diesen Bericht gleich heute morgen in seine schmuddeligen Hände zu bekommen. Ich lese ihn noch einmal, dann starre ich ihn lange Zeit an.

Ein Klopfen an der Tür reißt mich aus meinem verwirrten Zustand.»Herein«, sage ich.

Sie knarrt leise, und ein schmächtiger kleiner Mann steckt den Kopf herein.»Rudy?«sagt er mit hoher, nervöser Stimme.

«Ja, kommen Sie herein.«

Er schiebt sich durch den schmalen Spalt und schleicht sich regelrecht zu dem Stuhl auf der anderen Seite meines Schreib-tischs.»Ich bin Deck Shifflet«, sagt er und setzt sich, ohne einen Händedruck oder ein Lächeln zu offerieren.»Bruiser hat gesagt, Sie hätten einen Fall, über den Sie reden möchten. «Er schaut über die Schulter, als hätte vielleicht jemand nach ihm das Zimmer betreten und hörte jetzt zu.

«Nett, Sie kennenzulernen«, sage ich. Es ist schwer zu sagen, ob Deck vierzig ist oder fünfzig. Der größte Teil seines Haars ist verschwunden, und die paar noch vorhandenen Strähnen sind mit viel Öl an seinen breiten Schädel geklatscht. Die Stellen um seine Ohren herum sind dünn und überwiegend grau. Er trägt eine kantige Drahtbrille mit ziemlich dik-ken und schmutzigen Gläsern. Es ist im übrigen schwer zu sagen, ob sein Kopf zu groß oder sein Körper zu schmächtig ist, aber beides paßt nicht zusammen. Seine Stirn ist in zwei runde Hälften unterteilt, die ziemlich genau in der Mitte zusammentreffen, wo eine tiefe Falte sie verbindet und dann zu seiner Nase hinabstürzt.

Deck ist einer der unattraktivsten Menschen, die mir je begegnet sind. Sein Gesicht ist von Teenagerakne verheert. Sein Kinn existiert praktisch nicht. Wenn er redet, verzieht sich seine Nase, und seine Oberlippe hebt sich und entblößt vier Schneidezähne, alle gleich groß.

Der Kragen seines zweitaschigen und angeschmutzten weißen Hemdes ist ausgefranst. Der Knoten seiner schlichten roten Strickkrawatte ist so groß wie meine Faust.

«Ja«, sage ich und versuche, nicht in die beiden riesigen Augen zu schauen, die mich durch die dicken Gläser hindurch mustern.»Es ist ein Versicherungsfall. Sind Sie einer der angestellten Anwälte hier?«

Die Nase und die Lippen stoßen aneinander. Die Zähne funkeln mich an.»Sozusagen. Nicht wirklich. Sehen Sie, ich bin kein Anwalt, noch nicht. Habe Jura studiert und all das, aber ich habe kein Examen gemacht.«

Ah, eine verwandte Seele.»Ach, wirklich«, sage ich.»Wann waren Sie mit dem Studium fertig?«

«Vor fünf Jahren. Sehen Sie, ich habe ein paar Probleme mit dem Anwaltsexamen. Ich habe es sechsmal versucht.«

Das ist nicht, was ich hören möchte.»Wow«, murmele ich. Ich habe wirklich nicht gewußt, daß sich jemand so oft zum Examen melden kann.»Tut mir leid, das zu hören.«

«Wann ist es bei Ihnen soweit?«fragt er und schaut sich abermals nervös um. Er sitzt auf der Kante seines Stuhls, als rechnete er damit, jeden Moment aufspringen zu müssen. Daumen und Zeigefinger seiner rechten Hand zupfen an der Haut auf dem Rücken seiner linken.

«Im Juli. Ziemlich hart, nicht wahr?«

«Ja, ziemlich hart, würde ich sagen. Seit einem Jahr habe ich mich nicht mehr angemeldet. Weiß nicht, ob ich es jemals wieder versuchen werde.«

«Wo haben Sie studiert?«frage ich, weil er mich ziemlich nervös macht. Ich bin nicht sicher, ob ich über den Fall Black reden möchte. Wie paßt er ins Bild? Wie sieht sein Anteil aus?

«In Kalifornien«, sagt er mit dem heftigsten Gesichtszuk-ken, das ich je gesehen habe. Die Augen öffnen und schließen sich. Die Brauen tanzen. Die Lippen flattern.»In Abendkursen. War damals verheiratet, habe fünfzig Stunden die Woche gearbeitet. Hatte nicht viel Zeit zum Lernen. Fünf Jahre habe ich gebraucht bis zur Graduierung. Meine Frau hat mich verlassen. Bin dann hierhergezogen. «Seine Sätze werden immer kürzer, dann verstummt er und läßt mich ein paar Sekunden hängen.

«Ja, und seit wann arbeiten Sie für Bruiser?«

«Seit fast drei Jahren. Er behandelt mich wie die übrigen Anwälte. Ich treibe die Fälle auf, bearbeite sie, gebe ihm seinen

Anteil. Alle sind glücklich. Wenn Versicherungsfalle hereinkommen, bittet er gewöhnlich mich, sie zu bearbeiten. Ich habe achtzehn Jahre für Pacific Mutual gearbeitet. Hatte es satt. Hab angefangen zu studieren. «Er verstummt wieder.

Ich beobachte ihn und warte.»Was passiert, wenn Sie vor Gericht gehen müssen?«

Er grinst verlegen, als wäre er in Wirklichkeit ein toller Hecht.»Also, ein paarmal bin ich selbst hingegangen, wirklich. Bisher bin ich noch nicht erwischt worden. Hier gibt es so viele Anwälte, da ist es unmöglich, alle zu kennen. Wenn es zu einem Prozeß kommt, geht Bruiser für mich hin. Oder einer der anderen Anwälte hier.«

«Bruiser sagte, es arbeiten fünf Anwälte hier in der Kanzlei.«

«Ja. Ich, Bruiser, Nicklass, Toxer und Ridge. Aber ich würde es nicht eine Kanzlei nennen. Hier ist jeder auf sich allein gestellt. Sie werden es schnell lernen. Sie müssen Ihre eigenen Fälle und Mandanten beschaffen, und behalten ein Drittel von dem, was hereinkommt.«

Seine Offenheit gefällt mir, also setze ich nach:»Kommen die Anwälte auf ihre Kosten?«

«Hängt davon ab, was Sie wollen«, sagt er und rutscht herum, als hörte Bruiser zu.»Da draußen gibt es eine Menge Konkurrenz. Für mich genau das richtige, weil ich vierzigtausend im Jahr mit juristischer Arbeit verdienen kann, obwohl ich keine Lizenz habe. Aber verraten Sie es niemandem.«

Das würde mir nicht im Traum einfallen.

«Was springt für Sie heraus, wenn Sie mit mir an meinem Versicherungsfall arbeiten?«frage ich.

«Ach, das. Bruiser bezahlt mich, wenn es zu einem Vergleich kommt. Ich helfe ihm bei seinen Fällen, aber ich bin der einzige, dem er wirklich vertraut. Niemand sonst hier darf seine Akten anrühren. Er hat schon Anwälte hinausgeworfen, weil sie versucht haben, ihre Nase hineinzustecken. Ich bin harmlos. Ich muß hierbleiben, zumindest so lange, bis ich das Anwaltsexamen bestanden habe.«

«Wie sind die anderen Anwälte?«

«Okay. Sie kommen und gehen. Er engagiert nicht gerade

die Spitzenleute, wissen Sie. Er holt junge Leute von der Straße. Sie arbeiten ein oder zwei Jahre hier, beschaffen sich ein paar Mandanten und Kontakte, dann machen sie ihren eigenen Laden auf. Anwälte sind immer auf dem Absprung.«

Wem sagt er das?

«Darf ich Sie etwas fragen?«sage ich, gegen meine bessere Einsicht handelnd.

«Natürlich.«

Ich gebe ihm den Unfallbericht, und er überfliegt ihn schnell.»Den hat Bruiser Ihnen gegeben, stimmt's?«

«Ja, vor ein paar Minuten. Was erwartet er von mir?«

«Daß Sie den Fall an Land ziehen. Den Mann finden, der angefahren wurde, ihm einen Vertrag mit der Kanzlei J. Lyman Stone aufschwatzen und sich dann um alles Weitere kümmern.«

«Wie soll ich ihn finden?«

«Nun, es sieht so aus, als wäre er im Krankenhaus. Da kommt man gewöhnlich am besten an die Leute ran.«

«Sie gehen ins Krankenhaus?«

«Klar. Das tue ich ständig. Sehen Sie, Bruiser hat ein paar Kontakte zum Präsidium. Ein paar sehr gute Kontakte, Leute, mit denen er aufgewachsen ist. Von denen bekommt er fast jeden Morgen die Unfallberichte. Er verteilt sie im Büro und erwartet von uns, daß wir uns die Fälle angeln. Dazu braucht man kein Experte zu sein.«

«Welches Krankenhaus?«

Seine Augen verdrehen sich, und er schüttelt angewidert den Kopf.»Was hat man euch beim Studium eigentlich beigebracht?«

«Nicht viel, aber ganz bestimmt nicht, wie man Jagd auf Unfallopfer macht.«

«Dann sollten Sie es lieber rasch lernen. Wenn Sie es nicht tun, werden Sie verhungern. Sehen Sie, hier steht die Telefonnummer des verletzten Fahrers. Sie rufen einfach dort an, sagen dem, der sich meldet, Sie gehörten zum Rettungsdienst der Feuerwehr von Memphis oder etwas von der Art und Sie müßten unbedingt mit dem verletzten Fahrer sprechen, wie

immer der heißen mag. Er kann nicht ans Telefon kommen, weil er im Krankenhaus liegt, richtig? In welchem Krankenhaus? Sie brauchen das für Ihren Computer. Man wird es Ihnen sagen. Funktioniert immer. Benutzen Sie Ihre Phantasie. Die Leute sind leicht zu übertölpeln.«

Mir ist übel.»Und was dann?«

«Dann fahren Sie ins Krankenhaus und reden mit dem Mann. He, tut mir leid, Sie sind ja noch ein Anfänger. Ich werde Ihnen sagen, was wir tun werden. Wir schnappen uns ein Sandwich und essen es im Wagen, während wir zusammen zum Krankenhaus fahren und versuchen, diesen Burschen an den Haken zu kriegen.«

Das möchte ich ganz und gar nicht. Ich würde am liebsten diesen Ort verlassen und nie mehr zurückkehren. Aber im Moment habe ich nichts anderes zu tun.»Okay«, sage ich äußerst widerstrebend.

Er springt auf.»Wir treffen uns vor dem Haus. Ich rufe an und finde heraus, in welchem Krankenhaus er liegt.«

Das Krankenhaus ist St. Peter's Charity Hospital, ein regelrechtes Irrenhaus, in das die meisten Unfallopfer gebracht werden. Es gehört der Stadt und bietet, neben vielen anderen Dingen, auch kostenlose Behandlung für unzählige Patienten.

Deck kennt es gut. Wir fahren in seinem verbeulten Kleinbus durch die Stadt, dem einzigen Gegenstand, der ihm bei seiner Scheidung zugesprochen wurde, einer Scheidung infolge von Jahren des Alkoholmißbrauchs. Jetzt ist er trocken, ein stolzes Mitglied der Anonymen Alkoholiker, und mit dem Rauchen hat er auch aufgehört. Aber er spielt gern, gibt er betrübt zu, und die neuen Casinos, die direkt jenseits der Staatsgrenze in Mississippi aus dem Boden schießen, machen ihm zu schaffen.

Seine Ex-Frau und seine beiden Kinder leben nach wie vor in Kalifornien.

Ich bekomme all diese Details in weniger als zehn Minuten geliefert, während ich auf einem Hot dog herumkaue. Deck fährt mit einer Hand, ißt mit der anderen und zuckt, rutscht herum, schneidet Grimassen und redet quer durch halb Mem-phis, wobei ihm ein Klümpchen Hühnersalat am Mundwinkel hängt. Ich bringe es einfach nicht fertig, ihn anzusehen.

Wir parken auf dem für Ärzte reservierten Platz, weil Deck einen Parkschein hat, der ihn als Arzt ausweist. Der Wachmann scheint ihn zu kennen und winkt uns durch.

Deck führt mich geradenwegs zum Auskunftsschalter in der von Menschen wimmelnden Haupthalle. Binnen Sekunden hat er die Zimmernummer von Dan Van Landel, unserem potentiellen Mandanten. Deck geht mit einwärts gerichteten Füßen und einem leichten Hinken, trotzdem habe ich Mühe, mit ihm Schritt zu halten, als er auf den Fahrstuhl zusteuert.»Benehmen Sie sich nicht wie ein Anwalt«, füstert er mir fast unhörbar zu, während wir in einer Gruppe von Schwestern warten.

Wie könnte irgend jemand auf die Idee kommen, Deck für einen Anwalt zu halten? Wir fahren schweigend zum achten Stock hinauf und verlassen zusammen mit einem Haufen anderer Leute den Fahrstuhl. Für Deck scheint das schon Routine zu sein.

Ungeachtet der merkwürdigen Form seines großen Kopfes, seines hinkenden Ganges und all seiner anderen Auffälligkeiten nimmt niemand von uns Notiz. Wir wandern einen belebten Korridor entlang, bis er sich an einem Schwesternzimmer mit einem anderen kreuzt. Deck weiß genau, wie er zu Zimmer 886 kommt. Wir biegen nach links ab, vorbei an Schwestern, Pflegern und einem Arzt, der eine Tabelle studiert. An einer Wand sind fahrbare Betten ohne Decken aufgereiht. Der geflieste Boden ist abgetreten und müßte gewischt werden. Vier Türen weiter auf der linken Seite, und wir betreten, ohne anzuklopfen, das Halbdunkel eines Zweibettzimmers. Im ersten Bett liegt ein Mann, der sich die Decken bis zum Kinn hochgezogen hat. Er sieht sich in dem winzigen, über seinem Bett hängenden Fernseher eine Seifenoper an.

Er mustert uns so entsetzt, als wären wir gekommen, um uns eine Niere von ihm zu holen, und ich hasse mich selbst dafür, daß ich hier bin. Wir haben nicht das Recht, auf eine derart rücksichtslose Art in die Privatsphäre anderer Menschen einzudringen.

Deck dagegen ist die Ruhe selbst. Es ist schwer zu glauben, daß dieser schamlose Hochstapler der kleine Mickerling ist, der vor weniger als einer Stunde in mein Büro geschlichen kam. Da hatte er sich vor seinem eigenen Schatten gefürchtet. Jetzt scheint er keine Spur von Angst zu haben.

Wir tun ein paar Schritte und gehen zu der Öffnung in einer zusammenfaltbaren Trennwand. Deck zögert einen Moment, um zu sehen, ob Dan Van Landel irgendwelchen Besuch hat. Er ist allein, und Deck schiebt sich vorwärts.»Guten Tag, Mr. Van Landel«, sagt er freundlich.

Van Landel ist vermutlich Ende Zwanzig, aber sein Alter ist schwer zu schätzen, weil sein Gesicht verbunden ist. Ein Auge ist fast vollständig zugeschwollen, unter dem anderen ist eine Schnittwunde. Ein Arm ist gebrochen, ein Bein steckt in einem Streckverband.

Er ist wach, also brauchen wir ihn gnädigerweise nicht anzurühren oder anzuschreien. Ich stelle mich ans Fußende des Bettes, in die Nähe des Eingangs, und hoffe inbrünstig, daß kein Arzt, keine Schwester und kein Angehöriger auftaucht und uns hierbei erwischt.

Deck beugt sich über ihn.»Können Sie mich hören, Mr. Van Landel?«fragt er mit dem Mitgefühl eines Priesters.

Van Landel ist ziemlich festgeschnallt, er kann sich also nicht bewegen. Ich bin sicher, daß er sich gern aufsetzen oder irgendwie anders hinlegen würde, aber er ist uns hilflos ausgeliefert. Ich kann mir nicht vorstellen, was für ein Schock das für ihn sein muß. In dem einen Moment liegt er noch hier und starrt an die Decke, vermutlich immer noch benommen und unter Schmerzen, und den Bruchteil einer Sekunde später blickt er in eines der seltsamsten Gesichter, die er je gesehen hat.

Er blinzelt heftig, um besser zu sehen.»Wer sind Sie?«grunzt er durch zusammengebissene Zähne. Zusammengebissen, weil sie verdrahtet sind.

Das ist nicht fair.

Deck lächelt und zeigt seine vier glänzenden Hauer.»Deck Shiflet, Kanzlei Lyman Stone. «Er sagt dies mit erstaunlicher Selbstsicherheit, als würde von ihm erwartet, daß er hier ist.

«Sie haben doch wohl noch nicht mit irgendeiner Versicherung gesprochen, oder?«

Einfach so hat Deck die bösen Buben abgestempelt. Das sind nicht wir. Das sind die Versicherungstypen. Damit hat er schon mal eine Menge Boden gutgemacht. Jetzt ist er der Vertraute. Wir gegen die ändern.

«Nein«, grunzt Van Landel.

«Gut. Reden Sie nicht mit ihnen. Die wollen Sie nur aufs Kreuz legen«, sagt Deck. Er schiebt sich noch näher heran, erteilt bereits Ratschläge.»Wir haben uns den Unfallbericht angesehen. Klarer Fall von Mißachtung einer roten Ampel. Wir werden in ungefähr einer Stunde hinfahren«, sagt er, wichtigtuerisch auf seine Uhr schauend,»und den Unfallort fotografieren, mit Zeugen reden, Sie wissen schon, alles, was dazugehört. Wir müssen das schnell tun, bevor die Ermittler der Versicherung an die Zeugen herankommen. Es ist schon vorgekommen, daß sie sie bestechen, damit sie falsch aussagen, wissen Sie, und andere solche Mätzchen. Wir müssen schnell handeln, aber dazu müssen wir von Ihnen bevollmächtigt sein. Haben Sie einen Anwalt?«

Ich halte den Atem an. Wenn Van Landel jetzt sagt, daß sein Bruder Anwalt ist, bin ich draußen.

«Nein«, sagt er.

Deck setzt zum Todesstoß an.»Also, wie ich schon sagte, wir müssen schnell handeln. Unsere Kanzlei bearbeitet mehr Verkehrsunfälle als sonst jemand in Memphis, und wir holen gewaltige Vergleichssummen heraus. Die Versicherungen haben Angst vor uns. Und wir verlangen keinen Groschen. Wir nehmen nur das übliche Drittel von dem, was wir herausholen. «Während er das sagt, zieht er langsam einen Vertrag aus der Mitte eines Notizblocks heraus. Es ist ein Kurzvertrag — eine Seite, drei Paragraphen, gerade genug, um ihn an die Angel zu bekommen. Deck schwenkt ihn auf eine Weise vor seinem Gesicht, daß Van Landel ihn nehmen muß. Er hält ihn mit seinem heilen Arm, versucht, ihn zu lesen.

Der arme Kerl. Er hat gerade die schlimmste Nacht seines Lebens hinter sich, ist heilfroh, daß er noch lebt, und jetzt soll er, mit verschwollenen Augen und völlig benommen, ein juristisches Dokument lesen und eine intelligente Entscheidung treffen.

«Können Sie auf meine Frau warten?«fragt er fast flehend.

Sind wir im Begriff, ertappt zu werden? Ich umklammere das Bettgeländer und stoße dabei unabsichtlich gegen ein Kabel am Flaschenzug, wodurch sein Bein mit einem Ruck ein paar Zentimeter höher gezogen wird.»Ahhh!«stöhnt er.

«Tut mir leid«, sage ich schnell und reiße meine Hände zurück. Deck sieht mich an, als würde er mich am liebsten umbringen, dann ist er wieder Herr der Lage.»Wo ist Ihre Frau?«fragt er.

«Ahhh!«stöhnt der arme Kerl abermals.

«Tut mir leid«, wiederhole ich, weil ich nicht anders kann. Meine Nerven sind in Fetzen.

Van Landel mustert mich angstvoll. Ich schiebe beide Hände tief in die Hosentaschen.

«Sie kommt bald wieder«, sagt er, ganz offensichtlich bei jeder Silbe schmerzgepeinigt.

Deck hat für alles eine Antwort.»Ich spreche später mit ihr, in meinem Büro. Ich brauche tonnenweise Informationen von ihr. «Deck schiebt gekonnt seinen Block unter den Vertrag, damit das Unterschreiben leichter geht, und zieht die Kappe von einem Kugelschreiber ab.

Van Landel murmelt etwas, dann nimmt er den Kugelschreiber und kritzelt seinen Namen. Deck schiebt den Vertrag wieder in den Block und gibt dem neuen Mandanten eine Geschäftskarte. Sie identifiziert ihn als Anwaltsgehilfen der Kanzlei J. Lyman Stone.

«Nun ein paar Dinge«, sagt Deck. Sein Ton ist gebieterisch.»Reden Sie mit niemandem außer Ihrem Arzt. Es werden Versicherungsleute kommen und Sie belästigen, vermutlich schon heute, sie werden versuchen, Sie dazu zu bringen, daß Sie Formulare und solches Zeug unterschreiben. Kann sogar sein, daß sie Ihnen einen Vergleich anbieten. Reden Sie unter gar keinen Umständen mit diesen Leuten, und unterschreiben Sie nichts, bevor ich es mir angesehen habe. Sie haben meine Nummer. Sie können mich Tag und Nacht anrufen. Auf der Rückseite steht die Nummer von Rudy Baylor hier, den können Sie auch jederzeit anrufen. Wir bearbeiten den Fall gemeinsam. Noch Fragen?«

«Gut«, sagt Deck, bevor er grunzen oder stöhnen kann.»Rudy kommt morgen früh mit ein bißchen Papierkram wieder zu Ihnen. Sorgen Sie dafür, daß Ihre Frau uns noch heute anruft. Es ist sehr wichtig, daß wir mit ihr reden. «Er klopft Van Landel auf das gesunde Bein. Es wird Zeit, daß wir verschwinden, bevor er es sich anders überlegt.»Wir werden einen schönen Batzen Geld für Sie herausholen«, versichert ihm Deck.

Wir verabschieden uns und verlassen schnell das Zimmer. Sobald wir auf dem Flur angekommen sind, sagt Deck stolz:»So wird's gemacht, Rudy. Ein Kinderspiel.«

Wir weichen einer Frau im Rollstuhl aus und bleiben stehen, damit ein Patient auf einem fahrbaren Bett fortgebracht werden kann. Auf dem Flur wimmelt es von Menschen.»Was wäre gewesen, wenn der Mann schon einen Anwalt gehabt hätte?«frage ich und versuche, wieder normal zu atmen.

«Wir haben nichts zu verlieren, Rudy. Daran müssen Sie immer denken. Wir sind mit nichts hergekommen. Wenn er uns aus irgendeinem Grund vor die Tür gesetzt hätte, was hätten wir dann verloren?«

Ein bißchen Würde, ein bißchen Selbstachtung. Seine Argumentation ist völlig logisch. Ich gehe schnell und mit ausholenden Schlitten und versuche, nicht hinzusehen, wie er sich ruckend und schlurfend vorwärtsbewegt.»Sehen Sie, Rudy, an der Universität wird Ihnen nicht beigebracht, was Sie wissen müssen. Nichts als Bücher und Theorien und hochtrabende Vorstellungen von der Juristerei als Beruf für Gentlemen. Einer Berufung, die sich an ganzen Büchern voller ethischer Grundsätze orientiert.«

«Was haben Sie gegen ethische Grundsätze?«

«Oh, nichts vermutlich. Ich meine, ich bin der Ansicht, ein Anwalt sollte für seinen Mandanten kämpfen, kein Geld stehlen, versuchen, nicht zu lügen, Sie wissen schon, das Grundlegende.«

Deck über ethische Grundsätze. Wir haben Stunden damit verbracht, ethische und moralische Zweifelsfälle auszuloten, und Deck hat den ethischen Kanon einfach so, wamm, auf die Großen Drei reduziert: Kämpfe für deinen Mandanten, stehle nicht, versuche, nicht zu lügen.

Wir biegen plötzlich links ab und gelangen auf einen weiteren Flur. St. Peter's ist ein Labyrinth aus Flügeln und späteren Anbauten. Deck ist in Vortragsstimmung.»Aber das, was man euch an der Universität nicht beibringt, kann euch schaden. Nehmen wir zum Beispiel den Burschen da hinten, Van Landel. Ich hatte das Gefühl, daß Sie in seinem Zimmer ziemlich nervös waren.«

«Ja, das war ich.«

«Das sollten Sie nicht sein.«

«Aber es ist unmoralisch, Fälle auf diese Art hereinzuholen. Unfallopfer so zu überrumpeln.«

«Richtig. Aber wen kümmert das? Besser wir als der nächste. Ich versichere Ihnen, im Laufe der nächsten vierundzwanzig Stunden wird mindestens ein weiterer Anwalt bei Van Landel auftauchen und versuchen, ihn zum Unterschreiben eines Vertrags zu bewegen. Das ist einfach die Art, auf die es gemacht wird, Rudy. Es ist Wettbewerb, freie Marktwirtschaft. Da draußen schwirren Unmengen von Anwälten herum.«

Als ob ich das nicht wüßte.»Wird der Mann bei der Stange bleiben?«frage ich.

«Vermutlich. Bisher haben wir Glück gehabt. Wir haben ihn im richtigen Moment erwischt. Wenn man in so ein Zimmer kommt, steht es gewöhnlich fünfzig zu fünfzig, aber sobald sie auf der punktierten Linie unterschrieben haben, steht es achtzig zu zwanzig, daß sie dabeibleiben. Sie müssen ihn in ein paar Stunden anrufen, mit seiner Frau sprechen, sich erbieten, noch heute abend wiederzukommen und den Fall mit ihm durchzusprechen.«

«Ich?«

«Natürlich. Es ist ganz einfach. Ich habe ein paar Akten, die Sie sich ansehen können. Dazu brauchen Sie kein Gehirnchirurg zu sein.«

«Aber ich weiß nicht…«

«Nehmen Sie's leicht, Rudy. Haben Sie keine Angst vor diesem Bau. Van Landel ist jetzt unser Mandant. Es ist Ihr gutes

Recht, ihn zu besuchen, und niemand kann etwas dagegen tun. Niemand kann Sie hinauswerfen. Rudy. Entspannen Sie sich.«

Wir trinken in einer kleinen Cafeteria im dritten Stock Kaffee aus Plastikbechern. Deck gibt ihr den Vorzug, weil sie in der Nähe der Orthopädischen Abteilung liegt, das Produkt einer kürzlich stattgefundenen Renovierung ist und nur wenige Anwälte wissen, daß sie existiert. Die Anwälte, erklärt er mit gedämpfter Stimme, während er sämtliche Patienten mustert, haben die Angewohnheit, in Krankenhauscafeterias herumzuhängen, wo sie sich direkt auf Verletzte stürzen können. Er sagt das mit einem gewissen Abscheu einem solchen Verhalten gegenüber. Für Ironie hat Deck kein Gespür.

Ein Teil meiner Arbeit als neuester Mitarbeiter der Kanzlei J. Lyman Stone wird darin bestehen, hier herumzuhängen und diese Weiden abzugrasen. Auch im ersten Stock des zwei Blocks entfernten Cumberland Hospital gibt es eine große Cafeteria, und im VA Hospital sogar drei. Deck weiß natürlich, wo sie sich befinden, und teilt sein Wissen mit mir.

Er rät mir, mit St. Peter's zu beginnen, weil es die größte Unfallchirurgie hat. Er zeichnet auf einer Papierserviette eine Karte, auf der ich sehen kann, wo sich die anderen potentiellen Fundgruben befinden — die Hauptcafeteria, ein Imbiß in der Nähe der Entbindungsstation im zweiten Stock, ein Cafe in der Nähe der Eingangshalle. Nachts ist es besonders gut, sagt er, immer noch seine potentielle Beute musternd, weil sich die Patienten dann oft in ihren Zimmern langweilen und, wenn sie dazu imstande sind, gern auf einen Happen hereinrollen. Vor ein paar Jahren hat einer von Bruisers Anwälten gegen ein Uhr nachts in der Hauptcafeteria herumgelungert und dort einen Jungen an Land gezogen, der schwere Verbrennungen erlitten hatte. Der Fall endete ein Jahr später mit einem Vergleich über zwei Millionen. Das Problem war nur, daß der Junge Bruiser entlassen und einen anderen Anwalt engagiert hatte.

«Ist uns entwischt«, sagt Deck wie ein frustrierter Angler

Загрузка...