Kapitel 52

Wenn man einen Mord begeht, macht man fünfundzwanzig Fehler. Wer zehn davon vermeiden kann, ist ein Genie. Das jedenfalls habe ich einmal in einem Film gehört. Es war im Grunde kein Mord, sondern eher ein Fall von Notwehr. Aber die Fehler beginnen sich zu summieren.

Ich wandere um den Schreibtisch in meinem Büro herum, der mit säuberlichen Reihen von gelben Blättern bedeckt ist. Ich habe Skizzen angefertigt von der Wohnung, dem Toten, den Kleidungsstücken, der Waffe, dem Baseballschläger, den Bierdosen, praktisch von allem, woran ich mich erinnern kann. Ich habe die Position meines Wagens, ihres Wagens und seines Pickups auf dem Parkplatz aufgezeichnet. Ich habe Seiten um Seiten geschrieben, jeden Schritt, jede Einzelheit des Geschehens schriftlich festgehalten. Ich vermute, daß ich weniger als fünfzehn Minuten in der Wohnung war, aber auf dem Papier sieht es aus wie ein ganzer Roman. Wie viele Brüller oder Aufschreie können draußen zu hören gewesen sein? Nicht mehr als vier, glaube ich. Wie viele Nachbarn sahen einen Fremden, der unmittelbar nach den Schreien die Wohnung verließ? Wer weiß.

Das, glaube ich, war Fehler Nummer eins. Ich hätte nicht so schnell verschwinden sollen. Ich hätte an die zehn Minuten warten müssen, um festzustellen, ob die Nachbarn etwas gehört haben. Erst dann hätte ich mich in die Dunkelheit davonschleichen sollen.

Vielleicht hätte ich auch die Polizei anrufen und die Wahrheit sagen sollen. Kelly und ich hatten jedes Recht, in der Wohnung zu sein. Es ist offensichtlich, daß er irgendwo in der Nähe auf der Lauer gelegen hat, während er ganz woanders sein sollte. Es war mein gutes Recht, mich zu wehren, ihn zu entwaffnen und mit seiner eigenen Waffe auf ihn einzuschlagen. Angesichts seines gewalttätigen Wesens und seiner Vorgeschichte hätte keine Jury auf der Welt mich verurteilt. Außerdem wäre die einzige Zeugin eindeutig auf meiner Seite gewesen.

Also, weshalb bin ich nicht geblieben? Sie hat mich regelrecht zur Tür hinausgedrängt, und es schien einfach die beste Lösung zu sein. Wer kann schon vernünftig denken, wenn er binnen fünfzehn Sekunden von einem brutal Attackierten zum Killer wird?

Fehler Nummer zwei war die Lüge über ihren Wagen. Nach dem Verlassen des Polizeireviers bin ich über den Parkplatz gefahren und habe ihren VW und seinen Allrad-Pickup gefunden. Mit dieser Lüge kommen wir nur durch, wenn niemand der Polizei erzählt, daß ihr Wagen seit Tagen nicht bewegt worden ist.

Aber was ist, wenn Cliff und einer seiner Freunde den Wagen unbrauchbar gemacht haben, während sie sich versteckt hielt, und wenn dieser Freund in ein paar Stunden auftaucht und mit der Polizei redet? Meine Phantasie geht mit mir durch.

Der schlimmste Fehler, der mir seit vier Stunden zu schaffen macht, ist die Lüge über den Anruf, den Kelly angeblich getätigt hat, nachdem sie 911 gewählt hatte. Das war meine Ausrede dafür, daß ich so schnell auf dem Revier eingetroffen bin. Es war eine unglaublich dämliche Lüge, weil es über diesen Anruf keine Aufzeichnung gibt. Wenn die Polizisten die Telefonanrufe überprüfen, stecke ich in ernsthaften Schwierigkeiten.

Je weiter die Nacht fortschreitet, desto mehr Fehler fallen mir ein. Glücklicherweise sind die meisten davon reine Angstprodukte und verschwinden nach sorgfältiger Analyse und hinreichendem Gekritzel auf den gelben Blättern.

Ich lasse Deck bis fünf Uhr schlafen, bevor ich ihn wecke. Eine Stunde später trifft er mit Kaffee im Büro ein. Ich liefere ihm meine Version der Geschichte, und seine erste Reaktion ist wundervoll.»Keine Jury in der Welt wird sie verurteilen«, sagt er ohne die Spur eines Zweifels.

«Der Prozeß ist eine Sache«, sage ich.»Eine andere ist es, sie aus dem Gefängnis zu holen.«

Wir arbeiten einen Plan aus. Ich brauche Unterlagen — Verhaftungsberichte, Gerichtsakten, medizinische Unterlagen und eine Kopie ihrer ersten Scheidungsklage. Deck kann es kaum abwarten, den Schmutz zusammenzuraffen. Um sieben geht er los, um mehr Kaffee und eine Zeitung zu holen.

Die Story steht auf Seite drei des Lokalteils, drei kurze Absätze ohne ein Foto des Dahingeschiedenen. Es ist zu spät gestern abend passiert, um viel herzugeben. EHEFRAU WEGEN TOD DES EHEMANNES VERHAFTET lautet die Schlagzeile, aber von der Sorte gibt es in Memphis drei pro Monat. Wenn ich nicht danach gesucht hätte, wäre es mir nicht aufgefallen.

Ich rufe Butch an und erwecke ihn von den Toten. Er ist ein Nachtschwärmer, ledig nach drei Scheidungen, und macht gern die Runde durch die Bars. Ich erzähle ihm, daß sein spezieller Freund Cliff Riker eines vorzeitigen Todes gestorben ist, und das scheint ihn munter zu machen. Er trifft kurz nach acht im Büro ein, und ich bitte ihn, die Umgebung der Wohnung durchzukämmen und festzustellen, ob irgend jemand etwas gehört oder gesehen hat und ob die Polizei das gleiche tut. Butch läßt mich gar nicht ausreden. Er ist der Detektiv. Wenn einer weiß, was hier zu tun ist, dann er.

Ich rufe Booker in der Kanzlei an und erkläre, daß eine Mandantin von mir — Scheidungssache — gestern abend ihren Mann umgebracht hat; aber sie ist eine wirklich reizende Person, und ich will sie aus dem Gefängnis heraushaben. Ich brauche seine Hilfe. Der Bruder von Marvin Shankle ist Richter an einem Strafgericht, und ich möchte, daß er sie entweder gegen Kautionszusage entläßt oder eine lächerlich geringe Kaution festsetzt.

«Du bist von einem Fünfzig-Millionen-Dollar-Urteil zu einem schäbigen Scheidungsfall abgestiegen?«fragt Booker vergnügt.

Ich bringe ein Lachen zustande. Wenn der wüßte.

Marvin Shankle ist nicht in der Stadt, aber Booker verspricht, sich ans Telefon zu hängen. Um halb neun verlasse ich mein Büro und fahre in die Innenstadt. Die ganze Nacht hindurch habe ich mich bemüht, den Gedanken an Kelly in einer Gefängniszelle zu verdrängen.

Ich betrete das Shelby County Justice Center und gehe direkt zum Büro von Lonnie Shankle. Dort erfahre ich, daß Richter

Shankle, wie sein Bruder, nicht in der Stadt ist und erst am späten Nachmittag zurückkehren wird. Ich tätige ein paar Anrufe und versuche herauszufinden, wo Kellys Unterlagen zur Zeit sind. Sie war nur eine von einem Dutzend Personen, die gestern abend verhaftet wurden, und ich bin sicher, daß ihre Akte sich noch auf dem Polizeirevier befindet.

Um halb zehn treffe ich mich mit Deck in der Halle. Er hat die Verhaftungsunterlagen. Ich schicke ihn ins Polizeirevier, damit er ihre Akte dort auftreibt.

Das Büro der Staatsanwaltschaft von Shelby County ist im dritten Stock. Dort arbeiten mehr als siebzig Ankläger in fünf Abteilungen. In der Abteilung für Mißhandlungen im häuslichen Bereich sind es nur zwei, Morgan Wilson und noch eine Frau. Zum Glück ist Morgan Wilson in ihrem Büro. Das einzig Schwierige ist, an sie heranzukommen. Ich flirte eine halbe Stunde mit der Dame am Empfang, und zu meiner Überraschung funktioniert es.

Morgan Wilson ist eine beeindruckende Frau um die Vierzig. Sie hat einen kräftigen Händedruck, und ihr Lächeln besagt:»Ich habe alle Hände voll zu tun. Also kommen Sie zur Sache. «In ihrem Büro türmen sich die Akten zu Bergen, aber sie sind sauber gestapelt und gut sortiert. Ich werde schon vom bloßen Betrachten all dieser noch anstehenden Arbeit müde. Wir setzen uns, dann fällt bei ihr der Groschen.

«Der Fünfzig-Millionen-Dollar-Mann?«fragt sie, jetzt mit einem Lächeln ganz anderer Art.

«Der bin ich. «Ich zucke die Achseln. Nicht der Rede wert.

«Herzlichen Glückwunsch. «Sie ist sichtlich beeindruckt. Ah, der Preis des Ruhms. Ich vermute, sie tut das, was auch jeder andere Anwalt tut — errechnet ein Drittel von fünfzig Millionen.

Sie verdient maximal vierzigtausend im Jahr, also möchte sie über mein Glück reden. Ich liefere ihr einen knappen Bericht über den Prozeß und meine Gefühle, als ich das Urteil hörte. Ich fasse mich kurz, dann sage ich ihr, weshalb ich hier bin.

Sie hört aufmerksam zu und macht sich eine Menge Notizen. Ich gebe ihr Kopien der früheren und der laufenden Scheidungsklage und der Protokolle über Cliffs drei Festnahmen we-gen Mißhandlung seiner Frau. Ich verspreche ihr, daß sie noch heute Kellys medizinische Unterlagen bekommt. Ich beschreibe die Verletzungen von einigen der schlimmsten Vorfälle.

Praktisch all diese Akten um mich herum betreffen Männer, die ihre Frauen, Kinder oder Freundinnen mißhandelt haben, also läßt sich leicht vorhersagen, auf wessen Seite Morgan steht.»Das arme Kind«, sagt sie, und damit meint sie nicht Cliff.

«Wie groß ist sie?«fragt sie.

«Ungefähr einsfünfundsechzig. An die fünfundfünfzig Kilo unter der Dusche.«

«Wie hat sie ihn erschlagen?«Ihr Ton ist fast ehrfürchtig und nicht im mindesten vorwurfsvoll.

«Sie war verängstigt. Er war betrunken. Irgendwie hat sie den Schläger in die Hand bekommen.«

«Gut für sie«, sagt sie, und auf meinen Schenkeln bildet sich eine Gänsehaut. Morgan Wilson ist die Anklägerin!

«Ich möchte sie gern aus dem Gefängnis herausholen«, sage ich.

«Ich muß mir die Akte kommen lassen und sie durchsehen. Ich werde den für die Kautionen zuständigen Mann anrufen und ihm sagen, daß wir keine Einwände gegen eine niedrige Kaution haben. Wo wohnt sie zur Zeit?«

«In einem Frauenhaus, einem dieser namenlosen Häuser im Untergrund.«

«Die kenne ich gut. Sie sind wirklich sehr sinnvoll.«

«Dort ist sie sicher, aber im Augenblick sitzt das arme Kind im Gefängnis, immer noch grün und blau von der letzten Attacke.«

Morgan deutet auf die sie umgebenden Akten.»Das ist mein Leben.«

Wir vereinbaren, uns morgen früh um neun zu treffen.

Deck, Butch und ich kommen im Büro zusammen, um ein Sandwich zu essen und unsere nächsten Schritte festzulegen. Butch hat an die Tür jeder Wohnung in der Umgebung der Rikers geklopft und nur eine Frau gefunden, die glaubt, etwas krachen gehört zu haben. Sie wohnt direkt über dem Apartment der Rikers, und ich bezweifle, daß sie mich beim Verlassen des Hauses sehen konnte. Was sie gehört hat, war vermutlich das Bersten der Holzfigur, als das Softball-As ausholte und Schlag Nummer eins fehlging. Die Polizei hat nicht mit ihr gesprochen. Butch hat sich drei Stunden in der Wohnanlage aufgehalten und keinerlei Anzeichen polizeilicher Tätigkeit entdeckt. Die Wohnung ist verschlossen und versiegelt und scheint einen Haufen Leute anzuziehen. Während er dort herumstand, gesellte sich eine Lastwagenladung von Arbeitskollegen zu zwei massiven jungen Männern, die allem Anschein nach mit Cliff verwandt waren. Die Gruppe stand hinter der polizeilichen Absperrung, starrte auf die Wohnungstür und schwor Rache. Es war eine rauhe Bande, versichert mir Butch.

Er hat auch einen gewerblichen Kautionssteller aufgetrieben, einen Freund von ihm, der uns einen Gefallen tun will und anstelle der üblichen zehn Prozent Zinsen nur fünf berechnen wird. Das spart uns ein wenig Geld.

Deck hat den größten Teil des Vormittags auf dem Polizeirevier verbracht und sich das Verhaftungsprotokoll verschafft und Kellys Papierkram ausfindig gemacht. Er und Smotherton kommen gut miteinander aus, vor allem, weil Deck behauptet hat, er könnte Anwälte nicht ausstehen. Im Augenblick ist er nur ein Ermittler und alles andere als ein Hilfsanwalt. Interessanterweise hat Smotherton ihm mitgeteilt, daß sie seit heute morgen Morddrohungen gegen Kelly erhalten hätten.

Ich beschließe, zum Gefängnis zu fahren und nach ihr zu sehen. Deck wird einen Richter auftreiben, der ihre Kaution festsetzt. Butch wird mit seinem Kautionssteller zugegen sein. Als wir gerade das Büro verlassen wollen, läutet das Telefon. Deck nimmt den Hörer ab, dann gibt er ihn mir.

Es ist Peter Corsa, Jackie Lemancyzks Anwalt in Cleveland. Ich habe zuletzt nach ihrer Aussage mit ihm gesprochen, ein Gespräch, bei dem ich ihm ausgiebig gedankt habe. Damals hat er mir erzählt, daß er selbst in wenigen Tagen seine Klage einreichen würde.

Corsa gratuliert mir zu dem Urteil, sagt, es hätte große Schlagzeilen in der Sonntagszeitung von Cleveland gemacht.

Und dann erzählt er mir, daß bei Great Benefit merkwürdige Dinge vorgingen. Heute morgen hätte das FBI, in Zusammenarbeit mit dem Generalstaatsanwalt von Ohio und der Versicherungsaufsicht des Staates, die Büros der Gesellschaft durchsucht und angefangen, Unterlagen zu beschlagnahmen. Mit Ausnahme der Computeranalytiker in der Buchhaltung wurden alle Angestellten nach Hause geschickt und angewiesen, für die nächsten beiden Tage ihren Arbeitsplatz zu meiden. Einem gerade erschienenen Zeitungsartikel zufolge ist PinnConn, die Muttergesellschaft, Zahlungsverpflichtungen nicht nachgekommen und hat massenhaft Angestellte entlassen.

Dazu kann ich nicht viel sagen. Vor achtzehn Stunden habe ich einen Mann umgebracht, und es fällt mir schwer, mich auf Dinge zu konzentrieren, die damit nichts zu tun haben. Wir plaudern. Ich danke ihm. Er verspricht, mich auf dem laufenden zu halten.

Es kostet mich anderthalb Stunden, bis ich Kelly irgendwo im Labyrinth des Gefängnisses ausfindig gemacht und veranlaßt habe, daß man sie ins Besucherzimmer bringt. Wir sitzen auf beiden Seiten einer Glasscheibe und unterhalten uns über Telefone. Sie sagt mir, daß ich müde aussehe. Ich sage ihr, daß sie großartig aussieht. Sie hat eine Einzelzelle, aber es ist laut, und sie kann nicht schlafen. Sie möchte so schnell wie möglich hier raus. Ich sage ihr, daß ich tue, was ich kann. Ich erzähle ihr von meinem Gespräch mit Morgan Wilson und erkläre ihr, wie eine Kaution funktioniert. Von den Morddrohungen erzähle ich ihr nicht.

Es gibt so vieles, worüber wir reden müßten, aber nicht hier.

Als wir uns voneinander verabschiedet haben und ich das Besucherzimmer verlasse, ruft eine Wärterin in Uniform meinen Namen. Sie fragt, ob ich der Anwalt von Kelly Riker sei, dann gibt sie mir einen Ausdruck.»Das ist unser Telefonregister. In den letzten zwei Stunden hatten wir vier Anrufe wegen dieser Frau.«

«Was für Anrufe?«

«Morddrohungen. Von irgendwelchen Irren.«

Richter Lonnie Shankle trifft; um halb vier in seinem Büro ein. Deck und ich warten auf ihn. Er hat hundert Dinge zu tun, aber Booker hat angerufen und mit der Sekretärin des Richters geflirtet, also sind die Räder geölt. Ich gebe dem Richter einen Packen Papiere, liefere ihm einen Fünf-Minuten-Bericht über den Fall und ende mit der Bitte um eine niedrige Kaution, weil ich, der Anwalt, sie stellen muß. Shankle setzt die Kauhon auf zehntausend Dollar fest. Wir danken ihm und gehen.

Eine halbe Stunde später sind wir alle im Gefängnis. Ich weiß, daß Butch eine Waffe in einem Schulterholster hat, und ich vermute, daß der Kautionssteiler, ein Mann namens Rick, gleichfalls bewaffnet ist. Wir sind auf alles gefaßt.

Ich schreibe Rick einen Scheck über fünfhundert Dollar für die Kaution aus und unterschreibe alle erforderlichen Papiere. Wenn die Anklage gegen sie nicht fallengelassen wird oder wenn sie zu irgendwelchen Gerichtsterminen nicht erscheint, muß Rick entweder die restlichen neuntausendfünfhundert Dollar abschreiben oder sie finden, aufgreifen und ins Gefängnis zurückbefördern. Ich habe ihn überzeugt, daß die Anklage fallengelassen wird.

Es dauert eine Ewigkeit, sie loszueisen, aber endlich sehen wir sie auf uns zukommen, ohne Handschellen, mit einem Lächern. Wir begleiten sie rasch zu meinem Wagen. Ich habe Butch und Deck gebeten, uns ein paar Blocks weit zu folgen, nur sicherheitshalber.

Ich informiere Kelly über die Morddrohungen. Wir vermuten, daß es seine Verwandten und Arbeitskollegen sind. Wir reden wenig, während wir schnell die Innenstadt hinter uns lassen und zu dem Frauenhaus fahren. Ich möchte nicht über den gestrigen Abend reden, und auch sie ist noch nicht dazu bereit.

Um fünf Uhr am Dienstag nachmittag meldet Great Benefit beim Bundesgericht in Cleveland Konkurs an. Peter Corsa ruft im Büro an, während ich Kelly verstecke, und Deck nimmt den Anruf entgegen. Als ich ein paar Minuten später eintreffe, ist Deck leichenblaß.

Wir sitzen, mit den Füßen auf dem Schreibtisch, lange Zeit wortlos in meinem Büro. Totale Stille. Keine Stimmen. Kein Telefon. Keine Verkehrsgeräusche von unten. Wir hatten unsere Diskussion darüber, wieviel Deck von dem Honorar bekommen würde, aufgeschoben, er weiß also nicht, wieviel er verloren hat. Aber wir wissen beide, daß wir von Papiermillionären zu nahezu Insolventen geworden sind. Unsere hochfliegenden Träume von gestern kommen uns albern vor.

Es gibt noch einen Funken Hoffnung. Noch in der vorigen Woche sah die Bilanz von Great Benefit solide genug aus, um eine Jury zu überzeugen, daß die Gesellschaft fünfzig Millionen Dollar entbehren könnte. M. Wilfred Keeley schätzte ihr Barvermögen auf hundert Millionen. Sicherlich steckte ein Teil Wahrheit darin. Ich erinnere mich an die Warnungen von Max Leuberg. Verlassen Sie sich nicht auf die Zahlen einer Versicherungsgesellschaft; die machen ihre Buchführungsregeln selbst.

Aber bestimmt muß doch irgendwo noch eine Million für uns drinstecken.

Im Grunde glaube ich es nicht, und Deck glaubt es auch nicht.

Corsa hat seine Privatnummer hinterlassen, und endlich bringe ich die Kraft auf, ihn anzurufen. Er entschuldigt sich für die schlechte Nachricht, sagt, in Juristen- und Finanzkreisen in Cleveland herrsche heller Aufruhr. Es ist noch zu früh, um Genaues zu erfahren, aber es sieht so aus, als hätte PinnConn beim Spekulieren mit ausländischen Währungen schwere Verluste einstecken müssen. Daraufhin hätten sie angefangen, die riesigen Geldreserven der Tochtergesellschaften, darunter auch die von Great Benefit, anzuzapfen. Die Lage verschlechterte sich, und das Geld wurde von PinnConn einfach abgezogen und nach Europa transferiert. Der größte Teil der Aktien von PinnConn gehört einer Gruppe amerikanischer Finanzpiraten, die in Singapur operieren. Es hört sich an, als hätte sich die ganze Welt gegen mich verschworen.

Die Sache entwickelt sich rasch zu einem gewaltigen Coup, dessen Aufdeckung Monate dauern kann. Der dortige Bundesanwalt war heute nachmittag im Fernsehen und hat Strafverfolgung angekündigt. Das hilft uns auch nicht weiter.

Corsa wird morgen früh wieder anrufen.

Ich informiere Deck über das Gespräch, und wir wissen beide, daß es hoffnungslos ist. Das Geld ist von Gangstern beiseite geschafft worden, die zu gerissen sind, um sich erwischen zu lassen. Tausende von Versicherungsnehmern, die legitime Ansprüche hatten und schon einmal leer ausgegangen sind, sind abermals angeschmiert. Deck und ich sind angeschmiert. Ebenso Dot und Buddy. Donny Ray ist am meisten angeschmiert. Drummond ist angeschmiert, wenn er seine beachtliche Rechnung für juristische Dienste präsentiert. Ich erwähne das Deck gegenüber, aber es fällt uns schwer, zu lachen.

Die Angestellten und Agenten von Great Benefit sind angeschmiert. Leute wie Jackie Lemancyzk müssen es ausbaden.

Unglück liebt Gesellschaft, aber irgendwie ist mir zumute, als hätte ich mehr verloren als all diese anderen Leute. Die Tatsache, daß auch andere leiden werden, ist nur ein sehr geringer Trost.

Ich denke wieder an Donny Ray. Ich sehe ihn unter dem Baum sitzen und tapfer versuchen, Kraft für seine Aussage zu sammeln. Er hat für die Dieberei von Great Benefit den höchsten Preis gezahlt.

Ich habe den größten Teil des letzten halben Jahres mit der Arbeit an diesem Fall verbracht, und nun ist diese Zeit vergeudet. Die Kanzlei hat, seit wir damit anfingen, im Durchschnitt monatlich ungefähr tausend Dollar Gewinn gemacht, aber wir wurden angespornt von der Hoffnung auf das große Geld aus dem Black-Fall. In unseren Akten stecken nicht genügend Honorare, um die nächsten beiden Monate zu überleben, und ich denke nicht daran, mich auf irgendwelche Leute zu stürzen. Deck hat einen guten Verkehrsunfall, der aber erst spruchreif wird, wenn der Mandant aus ärztlicher Behandlung entlassen worden ist, was in ungefähr sechs Monaten der Fall sein wird. Und es ist bestenfalls ein Zwanzigtausend-Dollar-Vergleich.

Das Telefon läutet. Deck nimmt den Hörer ab, hört zu, dann legt er rasch wieder auf.»Irgendein Kerl sagt, er wird Sie umbringen«, sagt er sachlich.

«Das ist nicht der schlimmste Anruf des Tages.«

«Im Augenblick würde es mir nichts ausmachen, erschossen zu werden«, sagt er.

Kellys Anblick hebt meine Stimmung. Wir essen wieder chinesisch in ihrem Zimmer, bei abgeschlossener Tür und mit meiner Waffe unter meinem Mantel auf einem Stuhl.

Es gibt so viele Gefühle, die uns bedrängen und um Beachtung wetteifern, daß die Unterhaltung nicht leicht ist. Ich erzähle ihr von Great Benefit, und sie ist nur traurig, weil ich so mutlos bin. Das Geld bedeutet ihr nichts.

Manchmal lachen wir, manchmal weinen wir beinahe. Sie macht sich Sorgen darüber, was die Polizei tun oder herausfinden könnte. Sie hat fürchterliche Angst vor dem Riker-Clan Diese Leute sind schon als Fünfjährige auf die Jagd gegangen. Waffen gehören für sie zum täglichen Leben. Sie hat Angst davor, wieder ins Gefängnis zurückkehren zu müssen, obwohl ich ihr versichere, daß es dazu nicht kommen wird. Wenn die Polizei und die Staatsanwaltschaft tatsächlich Anklage gegen sie erheben sollten, werde ich vortreten und die Wahrheit sagen.

Ich komme auf den gestrigen Abend zu sprechen, und sie erträgt es nicht. Sie beginnt zu weinen, und wir schweigen lange Zeit.

Ich schließe die Tür auf und gehe leise den dunklen Korridor entlang durch das weitläufige Haus, bis ich Betty Norvelle finde, die in ihrem Zimmer allein vor dem Fernseher sitzt. Sie kennt nur Bruchstücke dessen, was gestern abend passiert ist. Ich erkläre, daß Kelly im Moment zu labil ist, um allein gelassen zu werden. Ich muß bei ihr bleiben und bin bereit, notfalls auf dem Fußboden zu schlafen. In diesem Haus ist es streng verboten, daß Männer über Nacht bleiben, aber in diesem Fall macht sie eine Ausnahme.

Wir liegen zusammen auf dem schmalen Bett, auf den Dek-ken, und halten uns eng umschlungen. Ich habe vorige Nacht überhaupt nicht geschlafen und heute nachmittag nur ein kurzes Nickerchen gemacht, und mir ist zumute, als hätte ich in der ganzen vergangenen Woche keine zehn Stunden geschlafen. Ich kann sie nicht an mich drücken, weil ich Angst habe, ihr weh zu tun. Ich drifte davon.

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