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Im Übrigen, verehrter Freund Sugitani-san, kam mein Neffe anderntags mit dem Moped aus der Kreisstadt angefahren, nur um in Begleitung seines Vaters seine Großtante zu besuchen, damit sie ihm diese Geschichte über Wang Xiaoti erzählte. Mein Bruder lächelte gezwungen.
»Besser, wir lassen das. Deine bald achtzigjährige Großtante quält sich schon ihr ganzes Leben damit herum. Immer hatte sie es schwer. Wir rühren deswegen besser nicht an solch alte Kamellen, denn es brechen nur alte Wunden wieder auf. Dazu kommt, dass sie darüber vor deinem Großonkel nicht gut reden kann.«
»Xiangqun«, sagte ich, »dein Papa hat recht. Aber ich kann dir, wenn dich diese Geschichte interessiert, alles erzählen, was ich darüber weiß. Eigentlich brauchst du nur im Internet nachzuschauen, um nachvollziehen zu können, was damals passierte.«
Weil ich schon immer vorgehabt habe, über meine Tante einen Roman zu schreiben – obschon ich diesen Plan inzwischen verworfen habe und nur ein Theaterstück über sie schreiben werde –, habe ich Wang Xiaoti von Beginn an als einen wichtigen Protagonisten eingeplant. Zwanzig Jahre vorbereitende Recherche habe ich bislang investiert. Ich habe, um möglichst viele Beteiligte zu interviewen, unendlich viele Beziehungen geknüpft. Ich bin extra zu den drei Flughäfen gefahren, auf denen Wang Xiaoti Staffel geflogen ist, bin in seiner Heimat Zhejiang gewesen, habe mit einem Kriegskameraden aus seiner Jagdfliegerstaffel gesprochen, habe seinen Staffelkapitän und den stellvertretenden Kommodore, Oberstleutnant des Jagdgeschwaders, befragt, bin sogar in so einen Jagdflieger des Typs Shenyang J-5, wie er ihn flog, hineingestiegen und habe mit dem Leiter der Sondereinheit für die Abwehr antikommunistischer Machenschaften und dem Sektionschef des Sicherheitsdienstes im Kreisgesundheitsamt gesprochen. Man kann getrost behaupten, dass ich über Wang Xiaoti besser Bescheid weiß als jeder andere. Bedauerlich ist nur, dass ich ihn nie persönlich kennengelernt habe. Deinem Vater dagegen hatte deine Großtante mal erlaubt, sich vor der Vorstellung im Kino zu verstecken, um mit eigenen Augen zuzusehen, wie die beiden Hand in Hand in das Kino kamen. Sein Sitzplatz war dann unmittelbar neben dem Wang Xiaotis gewesen. So hatte dein Vater ihn uns später beschrieben: Einsfünfundsiebzig groß, vielleicht auch einssechsundsiebzig, blitzsaubere weiße Haut, langes, schmales Gesicht, kleine, aber sehr lebendige Augen, dazu gerade, strahlendweiße Zähne.
An jenem Abend hätten sie den sowjetischen Film Wie der Stahl gehärtet wurde gezeigt, eine Verfilmung nach dem gleichnamigen Roman von Nikolai Ostrowski. Zuerst habe er heimlich hinübergeschielt, ob die beiden sich wohl anfassten. Aber dann habe die Revolutions- und Liebesgeschichte auf der Leinwand ihn voll in ihren Bann gezogen. Damals habe es viele Brieffreundschaften zwischen sowjetischen und chinesischen Schülern gegeben. Das sowjetische Mädchen, mit dem sich dein Vater Briefe schrieb, hatte haargenau wie das Mädchen im Film Tonja geheißen. Deswegen hatte dein Vater, versunken in die Liebesgeschichte auf der Leinwand, vergessen, dass das Wichtigste im Leben immer die persönliche Berufung und die eigene Mission sind.
Aber ein bisschen hatte es doch genutzt, dass er ins Kino mitgekommen war. Vor der Vorstellung hatte er den Jetpiloten gesehen und in der Pause zum Rollenwechsel, damals arbeiteten die Vorführer in den Kinos nur mit einem einzigen Projektor, hatte er ihn noch einmal gesehen. Er hatte den Bonbonduft aus seinem Mund gerochen, natürlich auch den Geruch der anderen, die geräuschvoll Melonenkerne und Erdnüsse knabberten. Damals durfte man in den Kinos essen. Alles, mit oder ohne Schalen. Die Füße wateten durch eine dicke Schicht von Bonbonpapier, Erdnuss- und Melonenschalen.
Als die Zuschauer den Kinosaal geräumt hatten, als der Jetpilot sein Fahrrad herbeigeholt hatte, um deine Großtante nach Hause in das Wohnheim der Krankenstation des Gesundheitsamts zu bringen, damals war sie vorübergehend ins Gesundheitsamt versetzt worden, sagte sie verschmitzt, während die drei im erleuchteten Eingangsbereich des Kinos standen: »Wang Xiaoti, ich will dir jemanden vorstellen!« Aber dein Papa hatte sich hinter einer Säule im Foyer versteckt und mochte sich nicht sehen lassen.
»Wen?« Neugierig reckte Wang Xiaoti den Hals. »Wo denn?«
»Wan Mund, komm mal!«
Erst jetzt kam dieser geduckt hinter der Säule zum Vorschein. Er war schon damals fast genauso groß wie Wang Xiaoti, dabei dürr wie eine Bambusstange. Was das Diskuswerfen angeht – die Sache mit quer über den Schulhof, raus übers Feld und dann einem Ochsen das Horn gespalten –, war ja wohl die Hälfte dazu gedichtet und hauptsächlich Selbstlob. Sein Haar sah aus wie Kraut und Rüben ...
»Das ist mein Neffe, Wan Mund«, stellte ihn deine Großtante vor. Der Jetpilot klopfte ihm auf die Schulter, dass es krachte: »Hi! Kumpel und Neffe in spe! Bist wohl gekommen, um auszuspionieren, ob ich auch der Richtige bin? Wan Mund! Einen Supernamen hast du!« Er reichte ihm die Hand: »Komm Junge, erst mal kennenlernen. Ich bin der Wang Xiaoti.« Dein Vater fühlte sich unerwartet geschmeichelt und schüttelte die dargebotene Hand auf und ab, auf und ab. Mit voller Kraft.
Später besuchte er Xiaoti auf seinem Flugplatz und durfte mit ihm zusammen in der Kantine der Flugzeugbesatzung essen. Da gab es Riesengarnelen, Kung-Pao-Hühnchen, Lilienblüten-Rührei und gedämpften, schneeweißen polierten Reis, und er durfte davon essen, so viel er wollte. Wie wir ihn darum beneideten! Na klar, dass wir stolz waren! Nicht nur wegen Wang Xiaoti. Auf deinen Vater war ich stolz! Der war doch mein Bruder! Mein Bruder hatte mit den Jetpiloten in ihrer Kantine zu Mittag gegessen!
Wang Xiaoti schenkte ihm sogar eine Mundharmonika. Marke Skylark, eine ziemlich feine Marke war das. Dein Vater sagte, der Wang Xiaoti sei ein Tausendsassa, Basketball spiele er auch sehr gut, seine Korbleger, Jump-in- und Unterhandkorbleger sähen super aus. Er konnte nicht nur Mundharmonika spielen, auch dem Schifferklavier entlockte er schöne Musik, seine mit dem Füllfederhalter geschriebene Handschrift war einwandfrei, eine Begabung für die Malerei hatte er auch. Dein Vater erzählte, er habe mit Reißzwecken ein selbstgezeichnetes Bleistiftporträt an seine Wand gepinnt, das deine Großtante zeigte. Wang Xiaotis familiärer Hintergrund war erst recht tadellos, sein Vater war ein hoher Kader, seine Mutter Universitätsprofessorin. Warum haut so einer mit einem Jet nach Taiwan ab und wird zu einem allseits verachteten Verräter?
Sein Staffelkapitän sagte, Wang Xiaoti sei mit der Maschine in den Westen abgehauen, weil er heimlich den feindlichen, taiwanischen Radiosender gehört habe. Er habe ein Halbleiter-Kurzwellenradio besessen, mit dem er Sendungen aus Taiwan habe empfangen können. Die betörende Stimme der Ansagerin beim Sender der KMT habe den Spitznamen »Röslein in der Nacht« gehabt. Sie sei total unter die Haut gegangen. Wahrscheinlich habe er sich in diese sexy Stimme verliebt und sei dann deswegen ab in den Westen. Als ob er an meiner herausragenden Tante nicht genug gehabt hätte!
»Natürlich war deine Tante in Bezug auf das, was wir damals schön fanden, allererste Wahl!«, gab mir Xiaotis inzwischen seniler Staffelkapitän zu bedenken. »Sie hatte diesen fantastischen familiären Hintergrund, war dazu Parteimitglied, ebenmäßig gebaut und gut anzuschauen. Wer von uns beneidete Wang Xiaoti nicht? Aber deine Tante war zu anständig, zu ehrlich, zu revolutionstreu. So einem bourgeoisen Typen wie ihm fehlte da das gewisse Etwas.«
Später analysierte der Sicherheitsdienst Wangs Tagebuch und stieß dabei auf den Spitznamen, den Wang ihr gegeben hatte: Rotes Holz! »Glücklicherweise, müssen wir heute sagen, gab es dieses konfiszierte Tagebuch. Es entlastete deine Tante, um die es sonst geschehen gewesen wäre. Selbst von ungerechtfertigten Vorwürfen hätte sie sich niemals reinwaschen können! Selbst wenn sie sich im Gelben Fluss ertränkt hätte, es hätte nichts genutzt.«
Verehrter Freund Sugitani-san, ich sagte meinem Neffen also: »Schau! Nicht nur deine Tante wäre um ein Haar des Todes gewesen! Selbst deinen Vater hat die Polizei wieder und wieder verhört. Die Mundharmonika stellten sie sicher, als Tatbeweis, dass Wang Xiaoti sich an Jugendliche herangemacht und sie aufgehetzt habe. Für deinen Vater gab es auch einen Tagebucheintrag: Das rote Holz hat mich mit seinem dämlichen Neffen bekannt gemacht. Er ist dieselbe Sorte rotes Holz wie sie auch und trägt den seltsamen Namen Wan Mund. Ohne diesen Eintrag wäre auch dein Vater verloren gewesen.«
Mein kleiner Neffe meint, Wang Xiaoti habe das doch mit voller Absicht geschrieben. Auch Gugu war später der Ansicht, dass er dieses Tagebuch nur zurückgelassen hatte, um sie zu schützen. Deswegen sagte sie an jenem Abend auch: Er hat mich zwar ins Verderben gestürzt, andererseits hat er mich aber auch wieder gerettet.
Am meisten interessiert sich mein kleiner Neffe aber für die Republikflucht, Sugitani-san. Er vergöttert diesen Mann wegen seiner superben Flugkünste, denn wenn so ein Tiger-5 Jet in einer Entfernung von fünf Metern mit einer Geschwindigkeit von achthundert Stundenkilometern über die Wasseroberfläche des Ozeans rase, meint er, brauche man über minimale Fehler gar nicht nachzudenken, der Flieger tunke seine Nase dann ohnehin ins Meer, und aus der Traum. Aber Wang Xiaoti, der habe ja wohl die hohe Kunst beherrscht und mehr Schneid gehabt als jeder andere! Dieser Jetpilot sei wirklich einsame Spitze gewesen. Und wie ein Zugvogel den ganzen Tag in der Luft.
Vor dem Zwischenfall, als er noch seine Flugübungen im Luftraum über unserem Dorf absolvierte, vollführte er unübertreffliche Kunststücke am Himmel, die jeder in den höchsten Tönen lobte. Damals, als er seine Tiger-5 im Sturzflug über die Melonenfelder im Osten unseres Dorfes sausen ließ, erzählten wir, dass er dabei die Hand ausstreckte, eine Melone pflückte und seine Maschine nur kurz mit den Flügeln wackeln ließ, um sich sofort wieder hoch in die Luft zu schrauben.
Ob er, auf Taiwan angekommen, tatsächlich mit einer Prämie von fünftausend Unzen Gold ausgezeichnet worden sei, fragte mich mein Neffe.
»Schon möglich«, sagte ich, »aber selbst zehntausend Unzen Gold sind eine Flugzeugentführung nicht wert. Xiangqun, mein aufgeweckter Junge, Gold und schöne Frauen sind nichts, was bleibt, nur Vaterland, Ruhm und Familie sollten dir teuer sein.«
Mein Neffe grinste: »Onkel, du machst wohl Witze? Hast du vergessen, in welcher Zeit wir leben? Und du kommst mir mit so was?«