7
Abends weinte meine Tochter, wollte ihre Mama suchen. Was wir auch unternahmen, sie ließ sich nicht beruhigen. Mutter sagte: »Du gehst jetzt zu Yanyans anderer Oma nachfragen.«
Ich ging mit Yanyan auf dem Arm zu meinen Schwiegereltern und klopfte dort an die Haustür. Mein Schwiegervater öffnete die Tür nur einen Spaltbreit: »Wan Renner, ich habe dir meine Tochter zur Frau gegeben, sie ist damit Mitglied deiner Familie geworden. Wen suchst du hier? Wenn meiner Tochter etwas geschieht, sind wir Erzfeinde bis an mein Lebensende.«
Ich ging weiter zu Chen Nase. Ein großes Schloss hing am Hoftor, im Hof herrschte pechschwarze Nacht. Dann ging ich zu Wang Bein, ich klopfte Ewigkeiten am Tor. Drinnen bellte ein kleiner Hund wie verrückt. Dann ging Licht an, das Tor wurde aufgemacht, aber Wang Bein verstellte mir mit einem Knüppel in der Hand den Weg und ranzte mich wutentbrannt an: »Zu wem willst du?«
»Onkel, ich bin’s.«
»Ich weiß schon, dass du es bist. Zu wem willst du?«
»Ist Leber da?«
»Er ist tot!« Damit warf Wang Bein das Tor ins Schloss.
Natürlich war Leber nicht tot. Mir fiel ein, dass Mutter bei meinem letzten Familienbesuch über Leber schwatzte, dass ihn sein Vater aus dem Haus gejagt habe. Und dass er sich jetzt draußen herumtrieb, man ihn zuweilen im Dorf Nudeln essen sehe, aber keiner wüsste, wo er wohnte.
Meine Tochter hatte sich müde geweint und war in meinem Arm eingeschlafen. Ich lief mit ihr unsere Dorfstraße entlang, derweil mir meine bedrückte Stimmung zu schaffen machte. Erst seit vorletztem Jahr hatten wir bei uns im Dorf Strom aus dem Netz, und jetzt hatte man neben den Hochfrequenzlautsprechern, die an dem hohen Betonmast hinter der Dorfparteizentrale befestigt waren, zusätzlich eine Straßenlaterne aufgehängt. Unter der Leuchte hatte man einen mit blauem Filz bezogenen Billardtisch aufgestellt. Ein paar Jugendliche standen darum herum und spielten, wobei sie sich gegenseitig laut anfeuerten. Ein vielleicht fünfjähriger Junge saß in der Nähe des Billardtischs auf einem Hocker. Seine Hände hantierten mit einem kleinen Spielzeugschifferklavier, dem er einfache Töne entlockte. Ich sah ihm an, dass es sich um Yuan Backes Sohn handelte.
Gegenüber blickte ich auf Backes großes erneuertes Hoftor. Ich zögerte kurz und beschloss, Backe zu besuchen. Wenn ich nur daran dachte, dass er Renmei die Spirale herausgenommen hatte! Wie unangenehm! Peinlich, eklig. Mir wurde ganz anders. Hätte das ein examinierter Mediziner gemacht, na, dann hätte ich ja nichts gesagt. Aber Backe ... dieser Affenarsch.
Mein Kommen überraschte ihn sichtlich. Erholte er sich doch gerade, allein mit sich selbst, beim Schnaps auf seinem Kang. Auf dem Nachttisch standen Tellerchen mit Erdnüssen, Dosensardellen und Rührei. Barfuß kam er vom Kang herunter und begrüßte mich, ich solle mich zu ihm gesellen und mit ihm trinken. Seiner Frau rief er zu, sie solle noch ein paar Gerichte auftragen.
Auch er hatte eine Klassenkameradin geheiratet. Wir hatten sie immer Sesamstange gerufen. Diesen Spitznamen hatte sie ihrer Weißfleckenkrankheit zu verdanken.
»Bei dir flutscht das Geschäft wohl richtig! Wie die Made im Speck«, sagte ich und setzte mich auf den Schemel vor seinen Kang. Sesamstange hatte mir gleich meine Tochter abgenommen und sie auf dem Kang schlafen gelegt. Ich hatte mich zuerst gesträubt, sie ihr aber dann doch gegeben.
Jetzt hatte sie den Wok gespült und Feuer gemacht, denn sie wollte uns frischen Degenfisch braten, der gut zum Schnaps schmeckt. Ich verbot es ihr energisch. Aber der Fisch brutzelte bereits im Wok, und es duftete köstlich.
Yuan Backe drängte mich, die Schuhe auszuziehen und richtig auf den Kang hinaufzukommen, aber ich wollte nicht, entschuldigte mich, dass ich doch nur ein Weilchen bliebe und es umständlich sei, die Schuhe auszuziehen. Er gab nicht auf und wollte mich unbedingt auf seinem Kang haben. Mir blieb nichts anderes übrig. Ich setzte mich auf die Kante und ließ die Beine baumeln.
Dann füllte er mein Glas und stellte es vor mir ab. »Kamerad, dein Besuch macht uns Ehre! In welchem Rang dienst du inzwischen? Bist du Oberstleutnant und Bataillonskommandeur oder schon Oberst und Regimentskommandeur?«
»Blödsinn! Ich arbeite für eine klitzekleine Kompanie!«
Ich führte das Glas zum Mund und trank den Schnaps in einem Zug. »Und mit der Kompanie ist es sowieso aus und vorbei, weil ich vom Dienst suspendiert werde und heim muss, um wieder als Bauer zu arbeiten.«
»Was höre ich da?« Er leerte sein Glas auch auf ex: »Du bist unter uns Mitschülern immer der mit den blendendsten Zukunftsaussichten gewesen. Obwohl Xiao Unterlippe und Li Hand beide die Uni besuchen – Oberlippe, dieser gescheckte Hund, hat tagaus tagein auf der Straße herumposaunt, dass sein Sohn inzwischen einen Posten im Staatsrat habe –, bist du immer noch der Erfolgreichste von uns allen. Unterlippe hat eine schmale Stirn, breite Backen, dabei spitze Ohren und das typische Aussehen eines Amtsdieners im Mandarinat. Hand hat ein fein geschnittenes Gesicht mit hübschen Brauen und Augen, ist aber kein Glückskind, während du Kranichbeine und Mandelaugen besitzt! Wäre da nicht dieses »Tränenmal« unter dem rechten Auge, hättest du das typische Aussehen eines Herrschers. Wenn du dir diesen kleinen Leberfleck mit den ungünstigen Vorzeichen weglasern lassen würdest, könntest du vielleicht nicht gerade Minister oder General, doch immerhin noch Lehrer oder Brigadekommandant werden.«
»Halt den Mund, Mann! Wenn du Leuten auf dem Markt so einen Bären aufbindest, meinetwegen. Aber mich musst du damit nicht vollquatschen.«
»Es ist Li Hes Lehre des Gesichtlesens, die uns diese Einblicke eröffnet, die Wissenschaft von den Physiognomien ist das große Vermächtnis unserer Ahnen.«
»Hör auf mir einen vom Pferd zu erzählen! Ich bin hergekommen, weil ich mit dir abrechnen will. Du Sack hast mich ins Unglück gestürzt.«
»Was?«, erwiderte Yuan Backe. »Ich habe doch nichts getan, was dir Schaden zufügt!«
»Wer hat dir erlaubt, Renmei heimlich die Spirale zu entfernen?« Ich flüsterte: »Jetzt ist’s aus. Jemand hat der Truppe ein Telegramm geschickt. Die haben mich angewiesen, nach Hause zu fahren und Renmei eine Abtreibung machen zu lassen. Wenn ich mich weigere, dann schließen sie mich aus der Partei aus und streichen mir meine Arbeitsstelle. Renmei ist mir davongerannt. Erklär mir mal, wie ich mich jetzt verhalten soll?«
»Wo hast du denn das aufgeschnappt?« Backe verdrehte die Augen und breitete beide geöffneten Hände aus: »Ich soll Renmei ihre Spirale entfernt haben? Ich bin Wahrsager, sage nach dem I Ging die Zukunft voraus, kann das Qi beeinflussen, bestimme Glücks- und Unglückstage und führe Fengshui-Beratungen durch. Darin bin ich Spezialist. Wie komme ich als Mann dazu, Frauen ihre Spirale rauszunehmen? Pfui Teufel! Dass du nichts dabei findest, solche Unglück heraufbeschwörenden Dinge überhaupt zu sagen! Wenn ich es nur höre, spüre ich schon das Unglück hereinbrechen.«
»Hör auf, den Affen zu machen!«, sagte ich nur. »Hier weiß doch jeder von den Fähigkeiten des Kleinen Heilers. Spezialist bis du im I Ging und im Fengshui, aber nebenberuflich bist du nicht nur Sauschneider, sondern entfernst den Frauen auch noch ihre Spirale. Ich werde dich nicht anzeigen, aber meine Meinung will ich dir sagen. Als du ihr die Spirale entferntest, hättest du mir ja wohl einen Wink geben können.«
»Du beschuldigst den Falschen! Eine himmelschreiende Anklage gegen einen Unschuldigen ist das! Bring sie ruhig her, die Renmei. Wir bringen dir den Beweis, dass ich es nicht gewesen bin.«
»Sie ist weggelaufen. Ich wüsste nicht, wo ich sie suchen sollte. Außerdem würde sie es niemals zugeben, denn sie würde dich nicht verraten.«
»Du bist echt ein Scheißkerl, Renner, dir ist doch klar, dass du nicht zum gemeinen Volk gehörst. Du bist Offizier und übernimmst Verantwortung, du kennst die Konsequenzen für das, was du sagst. Beharrst du auf der Behauptung, ich hätte deiner Frau die Spirale rausgenommen? Wen ziehst du als Zeugen hinzu? Du ruinierst damit meinen Ruf, machst mich rasend, zwingst mich dazu, dich anzuzeigen.«
»Ich gebe ja zu, wenn ich die Sache genau betrachte, kann ich dir die Schuld nicht in die Schuhe schieben. Ich möchte von dir einen Rat. Möchte wissen, wie ich reagieren soll. Deswegen bin ich zu dir gekommen. Da die Karre nun mal in den Dreck gefahren ist ... was mache ich jetzt?«
Backe schloss die Augen, kniff sich in einige Akupunkturpunkte an seinen Händen, damit das Qi gut floss, und summte ein Tantra. Dann riss er die Augen wieder auf.
»Werter Freund, auf dich wartet großes Glück! Woher das Glück kommt? Der Fötus im Leib deiner Gattin ist die Wiedergeburt eines berühmten Adligen aus der Qing-Dynastie. Weil es das göttliche Geheimnis berühren würde, kann ich dir den Namen des Vornehmen nicht nennen. Anstelle seines Namens nenne ich dir vier Sätze, die du bitte in deinem Gedächtnis bewahrst: Das Kind ist von Geburt an körperlich genial. Überragend begabt und befähigt schließt es seine Ausbildung ab. Bei Prüfungen steht es immer als Erstplatzierter auf den öffentlichen Listen. In purpurner Staatsrobe mit dem Jadegürtel des hohen Beamten wird ihm Ruhm und Respekt zuteil!«
»Lüg weiter«, sagte ich zwar – aber während mein Mund sprach, spürte ich, wie mir eine nicht zu benennende Freude direkt aus dem Herzen sprudelte. Wie schön das wäre, wenn ich tatsächlich einen so wunderbaren Sohn bekommen könnte ...
Yuan Backe erkannte natürlich sofort, dass er mir mit seinem Pfeil mitten ins Herz getroffen hatte. Verhalten lächelnd sagte er: »Kumpel, das ist der Wille des Himmels. Dem darf man nicht zuwiderhandeln.«
»Aber wenn ich Renmei das Kind gebären lasse, bin ich erledigt«, sagte ich kopfschüttelnd.
»Es gibt ein altes Wort: Im Vertrauen auf den Himmel gibt es immer einen Ausweg.«
»Nun sag schon!«
»Du gibst ein Telegramm auf, darin teilst du deinem Vorgesetzten mit, dass Renmei gar nicht schwanger ist, sondern dass nur Leute, die dir übel wollen, böse Gerüchte gestreut haben.«
»Das soll nun der einmalige Trick sein, der alle meine Probleme zum Verschwinden bringt?«, lachte ich abschätzig. »Das ist, wie ein loderndes Feuer hinter Papier zu verstecken. Was mache ich denn bitteschön, wenn ich für mein Kind eine Meldebescheinigung brauche? Soll es denn nicht zur Schule gehen?«
»Freund, warum denkst du in so langen Zeiträumen? Wenn es geboren ist, können wir das als Sieg verbuchen. Bei uns wird alles sehr streng gehandhabt, aber in den benachbarten Kreisen gibt es unzählige schwarz geborene Kinder. Jetzt ist doch sowieso jeder Privatwirtschaftler. Zu Essen gibt’s genug. Dann ziehen wir das Kind doch erst mal groß! Ob mit oder ohne Meldebescheinigung, die Staatbürgerschaft werden sie diesen Kindern doch wohl nicht aberkennen wollen? Bürger der Volksrepublik China sind sie also allemal.«
»Und wenn’s rauskommt? Ist es mit meiner beruflichen Zukunft dann nicht aus und vorbei?«
»Daran lässt sich nichts ändern, genauso wenig wie man beim Zuckerrohr nicht zwei saftige Spitzen haben kann.«
»Verdammte Scheißweiber! Denen gehört der Arsch versohlt!« Ich leerte mein Glas wieder auf ex, drehte mich um und rutschte vom Kang. »Immer verpassen die Weiber meinem Leben die Pechsträhne!«
»Das würde ich so nicht sagen, Kumpel. Ich hatte euch mal ein Horoskop erstellt. Renmeis Schicksal ist das einer ihren Mann unterstützenden Frau. Dein Erfolg beruht auch auf ihrer Hilfe.«
»Dass ich nicht lache!« Ich grinste kühl. »Du meinst wohl das Schicksal einer ihren Mann ins Verderben stürzenden Frau?«
»Nehmen wir mal den ungünstigsten Ausgang an: Dann bringt Renmei euren Sohn zur Welt, du verlierst deinen Arbeitsplatz und wirst wieder Bauer, der zu Hause sein Feld bestellt. Was ist daran so schlimm? Aber zwanzig Jahre später macht dein Sohn Karriere und du bist ein Großvater, der es sich gut gehen lassen kann. Wo ist da der Unterschied?«
»Hätte sie sich zuvor mit mir beraten, wäre es halb so wild. Aber so mit mir umzuspringen? Da platzt mir der Kragen.«
»Renner, aber du musst eins anerkennen«, erwiderte Backe, »das Kind, das Renmei unter ihrem Herzen trägt, ist dein Nachwuchs, von dir gezeugt! Ob du es nun wegmachen lässt oder behältst, musst allein du entscheiden.«
»Da hast du völlig recht, Kumpel. Aber ich möchte dich daran erinnern: Die Wände haben hier Ohren! Du solltest vorsichtiger sein!«
Ich ließ mir von Sesamstange meine tief schlafende Tochter reichen und spazierte zum Tor hinaus. Als ich mich umdrehte, um mich von ihr zu verabschieden, flüsterte sie mir zu: »Lass sie das Kind bekommen, Renner! Wenn’s soweit ist, dann helfe ich euch dabei, ein verschwiegenes, entferntes Plätzchen zu finden, wo sie es in Ruhe gebären kann.«
Sie stand noch am Tor, als ein Militärjeep vor Yuan Backes Haus hielt. Zwei Polizisten sprangen heraus, die sich resolut Zutritt verschaffen wollten. Sesamstange streckte die Hand vor, um ihnen diesen zu verwehren. Aber die Polizisten drückten sie zu Seite und waren auch schon im Haus verschwunden. Man hörte Krachen und harte Schläge, dazwischen Yuan Backe laut aufschreien. Minuten später wurde er, die Füße nur halb in den Schuhen und in Handschellen, zwischen zwei Polizisten aus dem Haus heraus auf den Hof abgeführt.
»Wer gibt euch das Recht, mich einfach festzunehmen? Mit welchem Recht?« Backe gab keine Ruhe, während sie ihm den Kopf aufs Kinn drückten.
»Hör auf zu plärren«, sagte der eine der beiden barsch, »du weißt doch besser als wir, warum wir dich abführen.«
Yuan Backe rief mir zu: »Renner, du musst mich auf Kaution rausholen. Ich habe nichts Illegales getan.«
Im gleichen Moment sprang aus dem Wageninneren eine riesenhafte, gewichtige Frau heraus.
»Tante?«
Meine Tante nahm den Mundschutz ab und sagte kalt: »Morgen kommst du zu mir auf die Krankenstation.«