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Ein Junge brachte uns auf Wang Lebers Geheiß eine DVD mit der Reportagereihe Legendäre Persönlichkeiten Nordost-Gaomis. Er trug Hosenträgershorts, aus denen seine langen Beine wie die von Pinocchio herausragten. Die Füße steckten in Bergschuhen. Er hatte flachsfarbene Haare, hellblonde Brauen und Wimpern und graublaue Augen. Man sah auf den ersten Blick, dass er ein Ausländer war. Kleiner Löwe suchte sofort nach Süßigkeiten, aber der Junge verschränkte die Arme hinter dem Rücken und sagte in bester Nordost-Gaomi-Mundart: »Wang Leber hat gesagt, ihr müsst mir mindestens zehn Yuan geben.«
Wir gaben dem Jungen zwanzig Yuan. Er machte einen Diener und verschwand pfeifend treppab nach draußen. Vom Fenster aus schauten wir ihm hinterher, wie er einer Comicfigur ähnlich in Riesenschritten zur Achterbahn im Vergnügungspark auf der anderen Seite der Straße rannte.
Einige Tage später trafen wir ihn wieder, als wir am Fluss spazieren gingen. Er war mit einer hochgewachsenen Weißen unterwegs, die einen Kinderwagen schob. Der Junge und ein Mädchen, augenscheinlich sein Schwesterchen, hatten Inlineskates an den Füßen, bunte Helme auf den Köpfen, Ellenbogen- und Knieschützer an Beinen und Armen und fuhren vorsichtig ihrer Mutter hinterher. Ihr folgte ein gutaussehender Südchinese um die Vierzig, der in einem angenehmen Hochchinesisch südlicher Prägung auf seinem Handy ein Telefonat führte. Den Schluss dieser Gesellschaft bildete ein dicker Golden Retriever.
Ich erkannte den Chinesen auf der Stelle, er war ein berühmter Professor irgendeiner Pekinger Hochschule, ein Promi der Pekinger Gesellschaft, der regelmäßig im Fernsehen auftrat. Kleiner Löwe konnte es mal wieder nicht lassen und hatte sich mit ihrem molligen Gesicht über das blauäugige Baby im Kinderwagen gebeugt. Die Frau lächelte ausgesprochen höflich, der Professor dagegen machte ein unfreundliches Gesicht, aus dem deutliche Geringschätzung sprach. Erschrocken zog ich Shizi am Arm, damit sie dem Kind nicht zu nahe kam. Sie konnte sich nicht von dem Anblick des Kleinen losreißen, der Gesichtsausdruck des Professors war ihr entgangen. Ich nickte ihm entschuldigend zu, er antwortete mir mit einem Lächeln.
Meine Frau ermahnte ich, sie solle es unterlassen, sich jedes Mal wie die kinderfressende Baba Jaga an die Kleinen heranzumachen: »Kleiner Löwe, hast du den Gesichtsausdruck der Eltern nicht gesehen? Du möchtest dir immer alle Babys anschauen, übersiehst aber, dass die Leute es nicht gern sehen, wenn du ihre verhätschelten Kinder anfasst.«
Kleiner Löwe war schwer beleidigt. Sie schimpfte sofort auf die Reichen, die ausländische Frauen heiraten und rücksichtslos Überzählige Kinder in die Welt setzten, ein Kind nach dem anderen, Jungen und Mädchen. Anschließend war sie zerknirscht und machte sich Vorwürfe, dass sie der Tante damals geholfen hatte, die Geburtenpolitik durchzusetzen. So hartherzig! Knallhart! So viele Kinder hätten sie abgetrieben. Sie hätten sich damit am Himmel versündigt, deswegen hätte der Himmel sie mit Kinderlosigkeit gestraft. Und sie hoffe doch sehr, dass ich mir auch eine Weiße suchen würde, mit der ich viele niedliche Mischlingskinder in die Welt setzen könnte. Sie sagte wörtlich: »Renner. Ich werde es dir nicht neiden und auch nicht eifersüchtig auf diese weiße Frau sein. Kein bisschen! Such dir eine Weiße und heirate sie! Dann bekomm mit ihr nach Herzenslust Kinder! Je mehr, desto besser. Und bring sie zu mir. Ich ziehe sie für euch groß.«
Kaum waren diese Worte ihrem Mund entschlüpft, weinte sie. Sie schluchzte so sehr, dass sie keine Luft mehr bekam, ihr üppiger Busen bebte. Ihr von Muttergefühlen übervolles Herz wusste nicht wohin mit all der Liebe. Ich versichere jedem, hätte man ihr einen Säugling gegeben, aus ihren Brüsten wäre zweifellos reichlich Milch geflossen.
In dieser Gemütsverfassung steckte ich die DVD, die uns Leber hatte vorbeibringen lassen, in den DVD-Spieler.
Leuten, die nicht von hier stammen, tun vielleicht die Ohren weh, wenn sie dies hören müssen, aber wir hier ...
Uns kamen sofort die Tränen, als wir die mit unserer heimischen Opernmusik unterlegte Reportage über Gugu und den Lehm- und Tonskulpturenkünstler Hao Große Hand und dessen Leben und Arbeiten in Gaomi sahen.
Ich gebe geradeheraus zu, dass ich mich zwar damals mit einer Meinungsäußerung zurückgehalten hatte, als Gugu Hao Große Hand heiratete, dass es mir persönlich aber äußerst missfiel. Mein Vater, mein Bruder und seine Frau waren genau wie ich dagegen. Wir fanden, dass Gugu eine schlechte Partie machte.
Wir hatten seit unserer Kinderzeit immer so darauf gewartet, dass Gugu heiratete! Als sie mit Wang Xiaoti zusammen war, was hatte uns das an Ruhm und Ehre eingebracht! Es war großartig gewesen! Und was für ein maßlos grausames Ende es dann genommen hatte! Als später Yang Lin folgte, konnte er zwar Wang Xiaoti bezüglich unserer Vorstellung von einem idealen Ehemann für Gugu nicht das Wasser reichen, aber er war ein hoher Beamter. Selbst wenn sie den in sie vernarrten Qin Strom geheiratet hätte, wäre der doch immer noch besser gewesen als Hao Große Hand.
Inzwischen hatten wir uns eigentlich alle damit abgefunden, dass Gugu ihr Leben lang unverheiratet bleiben würde! Wir hatten uns bereits Gedanken darüber gemacht, wer von uns dazu in Frage käme, sie zu versorgen, wenn sie einmal alt und gebrechlich wäre, wer sie bis zuletzt begleiten sollte. Und dann heiratete sie ohne jede Vorwarnung Hao Große Hand ...
Ich und Kleiner Löwe hatten noch in Peking gewohnt, als uns die Nachricht erreichte. Zuerst waren wir überrascht, dann fanden wir es grotesk, zuletzt waren wir bitter enttäuscht.
Die Folge mit dem Titel Mondlichtkinder gab zwar vor, über den Tonkinder-Künstler Hao Große Hand zu berichten, aber die Hauptdarstellerin war eindeutig Gugu. Von der Begrüßung durch den Reporter bis ganz zum Schluss, als man noch einen Blick in Große Hands Magazin werfen durfte, in dem er fertige und unfertige Tonkinder aufbewahrte, stand Gugu als Hauptdarstellerin im Zentrum eines jeden Bildes. Sie berichtete mit Händen und Füßen farbenprächtig und in allen Stimmlagen, während Hao Große Hand mit undurchdringlichem Blick still an seinem Arbeitstisch saß, wie ein altes Ross in einer Traumwelt.
Werden alle Lehmkünstler, wenn sie zu Meistern ihrer Kunst geworden sind, zu alten Rössern in einer Traumwelt? Er besitzt einen großen, klingenden Namen, ist eine Berühmtheit in Gaomiland, aber soweit ich mich erinnere, bekam ich ihn während meines gesamten Lebens nur wenige Mal zu Gesicht. Als mein Bruder ein Festessen gab, weil mein Neffe von der Luftwaffe zum Piloten ausgebildet werden sollte, traf ich Große Hand einmal kurz, aber es war schon dunkel. Viele Bürger Gaomis sahen ihn in dieser Fernsehfolge zum ersten Mal, und dies nur auf dem Bildschirm. Sein Haar war schlohweiß, seine Gesichtsfarbe jedoch rosig. Er sah aus wie ein die Wolken reitender Unsterblicher. Der Film enthüllte uns überraschenderweise auch, warum Gugu ihn geheiratet hatte.
Gugu zündete sich darin eine Zigarette an, nahm einen tiefen Zug und sprach mit ernster Stimme: »Die Sache mit dem Heiraten ist von der Vorsehung bestimmt. Wenn ich das zu euch jungem Volk sage, sollt ihr nicht meinen, ich hätte dem Materialismus abgeschworen. Ich bin bisher immer eine kämpferische Materialistin gewesen, und ich vertrete bestimmt nicht die Ansicht, dass ihr jetzt etwa dem Idealismus anhängen sollt. Aber mit dem Heiraten ist es so eine Sache: Da muss man die Vorsehung entscheiden lassen, sonst wird das nichts. Fragt ihn.« Sie zeigte mit dem Finger auf Hao Große Hand, der wie eine aus Lehm modellierte Gottheit dasaß. »Fragt ihn, ob er sich auch nur im Traum hätte vorstellen können, einmal mit mir verheiratet zu sein.
1997 bin ich sechzig geworden, da hat mich mein vorgesetzter Kader in den Ruhestand geschickt. Ich war natürlich nicht erpicht darauf. Ich war schon fünf Jahre länger als alle anderen im Dienst.
Der Stationsleiter unserer Krankenstation, ihr kennt ihn ja alle, ist ein Vieh, das Hilfsbereitschaft mit Undank lohnt. Er ist der Sohn des Huang Milz aus dem Dorf Hexicun, man nennt ihn Sexgurke, sein richtiger Name lautet Huang Jun. Gerade fällt mir ein, diesen Faun habe ich auch aus dem Leib seiner Mutter geholt. Der ist nur zweieinhalb Tage auf die medizinische Fachschule in Gaomi gegangen. Wenn dieser Hohlkopf jemanden mit dem Stethoskop abhören soll, findet er Lunge und Herz nicht, wenn er Blut abnehmen soll, die Vene nicht, wenn er eine TCM-Pulsdiagnose machen soll, die drei Punkte Cun, Guan, Chi nicht. Und so einer ist Leiter unserer Krankenstation geworden! Als er auf die medizinische Fachschule ging, war ich für ihn beim Gesundheitsamt, bei Amtsleiter Shen, und habe mich für ihn eingesetzt. Aber kaum hatte er die Macht in Händen, kannte er mich nicht mehr. Er kann nichts. Nur zwei Stärken besitzt er: Nr. 1 – Leute einladen, Geschenke machen, sich einschmeicheln und lobhudeln. Nr. 2 – Mit faulen Tricks Frauen ins Bett kriegen.«
Hier machte sie eine Pause. Sie wirkte gebrochen.
»Ich war völlig verblendet! Ich hatte mir den Wolf ins Haus geholt und damit dem Missbrauch Vorschub geleistet! Die jungen Dinger in unserem Krankenhaus hatte er schnell alle durch. Wang Xiaomei aus Wangjiazhuang war gerade mal siebzehn. Ein wunderhübsches ovales Gesicht, makellose helle Haut und einen dicken Zopf auf dem Rücken, dazu lange Wimpern wie Schmetterlingsflügel, mit denen sie immer klimperte, und große, sprechende Augen. Wer sie sah, sagte sofort, wenn Zhang Yimou die entdecken sollte, würde sie noch berühmter als Gong Li und Zhang Ziyi. Aber es kam nicht dazu, denn erst einmal hatte Sexgurke sie am Wickel. Er fuhr nach Wangjiazhuang und beredete die Eltern der Kleinen, da hätten sogar Tote zu reden begonnen. Sie sollten ihre Tochter die Schule wechseln lassen und sie auf unsere Krankenstation geben, damit sie von mir die Frauenmedizin lernte. Er gab das zwar vor, aber Wang Xiaomei war dann keinen einzigen Tag bei mir auf der Frauenstation. Sexgurke, dieser ständig nach Frischfleisch hungrige Wolf, nahm sie völlig in Beschlag. Sie leistete ihm Tag und Nacht Gesellschaft, nachts hatten sie Sex, da will ich ja mal nichts sagen, aber am helllichten Tage trieben sie es auch miteinander. Viele aus Gaomi haben es mit eigenen Augen gesehen. Wenn es ihm über war, fuhr er mit ihr in die Kreisstadt und gab von öffentlichen Geldern Festessen. Kader und Beamte lud er ein, solche Aktivitäten verlegte er alle in die Stadt. Habt ihr diesen miesen Kerl nie dabei gesehen? Ein langes Gesicht, wie das eines Esels, die Lippen von der Farbe eines Blutergusses, zwischen den Zähnen Zahnfleischbluten, dazu einen üblen Mundgeruch, so stark, dass jedes Pferd davon in die Knie geht. Und nun hatte er tatsächlich noch vor, Vizeleiter des Kreisgesundheitsamts zu werden. Wang Xiaomei musste ihm auf alle drei Arten gefällig sein, mit ihm essen und trinken, mit ihm reden und spaßen und mit ihm tanzen und Sex haben. Es hätte nur noch gefehlt, dass er sie an seine Trinkkumpane auslieh. Er versündigte sich schwer! Er setzte sich schlechte Ursachen!
Eines Tages rief er mich zu sich in sein Büro. Die Frauen im Krankenhaus fürchteten nichts mehr, als zu ihm ins Büro gerufen zu werden. Ich natürlich nicht. In meiner Jackentasche hatte ich immer ein kleines Messer dabei. Ich war jederzeit darauf vorbereitet, ihn zu kastrieren. Er goss mir mit einem Scheißlächeln einen Tee nach dem anderen ein und bewirtete mich mit Süßigkeiten. Ich sagte nur: ›Stationsleiter Huang, wenn es etwas gibt, wobei ich helfen soll, dann heraus mit der Sprache. Es wird nicht um den heißen Brei herumgeredet.‹ Er lachte trocken, fast hüstelte er: ›Verehrte Tante!‹ – Wie abartig! Er wagte es doch tatsächlich, mich Tante zu nennen! – Er sagte, er sei von mir auf die Welt gezogen worden, ich hätte ihn aufwachsen sehen, er sei nichts anderes als mein leiblicher Sohn.
Ich sagte: ›Nun mal langsam ... das ist zu viel der Ehre. Du bist Stationsleiter des Krankenhauses. Ich dagegen bin eine einfache Frauenärztin. Ich kann dich nicht als meinen Sohn betrachten, diese Ehre gebührt mir nicht. Wenn es etwas gibt, das du mir sagen willst, dann tu es bitte direkt!‹
Er hüstelte wieder. Und dann besaß er doch tatsächlich die Schamlosigkeit zu sagen: ›Ich habe – leitenden Kadern passiert gerade dieses kleine Malheur sehr häufig – nicht aufgepasst und Wang Xiaomei geschwängert.‹
›Herzlichen Glückwunsch!‹, sage ich nur, ›Wang Xiaomei trägt einen Drachensohn unter ihrem Herzen! Unser Krankenhaus bekommt einen Stammhalter!‹
›Verehrte Tante! Machen Sie bitte keine Witze! Ich bin so besorgt, dass ich seit Tagen keinen Bissen mehr runterbringe und kein Auge mehr zutue.‹
– Dieses Vieh! Gehört der etwa zu der Spezies, die keinen Bissen mehr runterbringen und kein Auge mehr zutun? –
›Sie verlangt von mir, dass ich mich scheiden lasse. Wenn ich nicht einwillige, will sie mich beim Kreisparteitag verklagen.‹
Ich sage nur: ›Warum das? Bei euch Kadern und Regierungsbeamten ist es doch üblich, eine Zweitfrau zu halten! Kauf ihr ein schönes Haus im Grünen, wo du sie versorgst und es ihr an nichts fehlt. Wo ist das Problem?‹
›Verehrte Tante, erlauben Sie sich keinen Spaß mit mir! Sich eine Zweitfrau und Drittfrau halten sind doch Dinge, die nur unter dem Tisch bezahlt werden. Wie soll ich unbemerkt so viel Geld zusammenbekommen, dass ich ihr eine Villa kaufen kann?‹
›Na, dann lass dich doch scheiden!‹
Dieser Esel machte ein langes Gesicht: ›Verehrte Tante, Sie können es sich vielleicht nicht vorstellen, aber mein alter Schwiegervater und seine Brüder, die Schweineschlächter, sind richtige Kriminelle. Wenn die das erfahren, machen sie mich kalt.‹
›Du bist doch aber Stationschef, ein hoher Kader. Also, wo ist das Problem?‹
›Verehrte Tante! Sie wissen doch genau, dass ich nur ein zweitrangiger Kader bin, der Leiter der Krankenstation eines winzigen Dorfes! In Ihren werten Augen bin ich doch ein Nichts, nicht mal einen Furz bin ich wert! Hören Sie auf, mich zu verhöhnen! Helfen Sie mir aus der Klemme und tun Sie was!‹
›Was sollte ich deiner Meinung nach tun?‹
›Wang Xiaomei vergöttert Sie. Sie hat mir so oft gesagt, wie sehr sie Sie bewundert. Wenn sie auf keinen hört, auf Sie wird sie hören.‹
›Was willst du von mir?‹
›Überreden Sie sie, dass sie das Kind aus ihrem Bauch herausnehmen lässt.‹
›Stationsleiter Huang, für derlei den Himmel beleidigende, sich an Himmel und Erde versündigende Geschäfte stehe ich nicht mehr zur Verfügung. Nie wieder! Ich habe in diesem meinem Leben bereits über zweitausend Kindsabtreibungen vorgenommen! So ein schmutziges Geschäft verrichte ich nicht mehr. Freu dich, dass du Vater wirst! Dieses Mädchen ist ein hübsches Kind! Der kleine Säugling, den sie gebären wird, ist bestimmt entzückend! Eine Tat, an der der Himmel seine Freude hat! Sag mir Bescheid, wenn es so weit ist, dann mache ich die Geburtshilfe!‹«
Gugu erzählte weiter: »Mit wehenden Ärmeln verließ ich sein Büro. Dem hatte ich’s gegeben! Zurück in meinem Büro trank ich ein Glas Heißwasser, und ich wurde traurig. Diese Missgeburt Sexgurke! So einer sollte gar keine Nachkommenschaft zeugen dürfen! Dass die hübsche Wang Xiaomei mit ihrem makellosen Körper das Kind einer solchen Kreatur gebären sollte, war wirklich schade.
Ich habe in meinem Leben so viele Kinder auf die Welt geholt! Am Ende habe ich die Erfahrung gemacht: Ob jemand gut oder böse wird, ist zur Hälfte vererbt und zur anderen Hälfte der Erziehung geschuldet. Ihr könnt mich jetzt als Verfechterin der Lehre von der Blutreinheit und der Eugenik verunglimpfen! Aber meine Erfahrung hat mich nun mal gelehrt, dass es so ist. Aus der Nachkommenschaft eines Huang würde, selbst wenn man den Säugling im Tempel aufzöge, nur ein Mönch, der das Gebot der Keuschheit nicht einhält und im Verborgenen zu Frauen geht.
Huang Xiaomei tat mir sehr leid. Aber ihr unter dem Deckmäntelchen politisch intendierter Überzeugungsarbeit ins Gewissen reden? Dieses Päckchen würde ich der Missgeburt Sexgurke nicht abnehmen! Das sollte er mal schön alleine ausbaden! An einem unkeuschen Mönch mehr oder weniger würde die Welt auch nicht zugrunde gehen.
Aber letztendlich habe ich der Kleinen doch einen Abort gemacht. Sie selbst hat mich darum gebeten. Sie kniete vor mir, hielt meine Waden umklammert und heulte Rotz und Wasser! Meine Hose wurde davon ganz schmutzig. Jämmerlich weinend flehte sie: ›Gugu, ich bin auf ihn hereingefallen, er hat mich betrogen. Selbst wenn er mit einer von acht Mann getragenen Sänfte ankäme, um mich zu seiner Frau zu machen, würde ich dieses Vieh nicht heiraten. Gugu, mach es mir weg! Diese schlechte Frucht will ich nicht in meinem Leib haben!‹ Also habe ich es getan.«
Gugu hatte sich eine neue Zigarette angezündet und machte ein paar tiefe Lungenzüge, so dass weißer Qualm ihr Gesicht verhüllte.
»Was für eine zarte Rosenknospe sie einmal war! Er hat sie so zugerichtet, dass aus ihr eine verbrauchte, welke Blume geworden ist.«
Gugu wischte sich mit dem Ärmel die Tränen vom Gesicht. »Ich schwor mir, nie mehr im Leben einen derartigen Eingriff vorzunehmen. Ich hielt es nicht mehr aus. Selbst wenn die Frucht im Leib der Schwangeren ein Affe wäre, ich würde nie wieder einen Abort durchführen. Als ich das Geräusch der Saugglocke hörte, dieses Gurren, Gurgeln, war mir, als packte eine Riesenhand mein Herz, drückte zu, fester, noch fester, vor Schmerz verkrampfte ich mich, war schweißnass am ganzen Leib, Sternchen tanzten vor meinen Augen und ich hatte Rotsehen. Als es vorbei war, fiel ich ohnmächtig zu Boden ... Ich bin offenbar sehr alt geworden. Mir fällt auf, dass ich komplett den Faden verloren habe. Dabei wollte ich eigentlich berichten, warum ich Hao Große Hand geheiratet habe.«
Gugu erzählte weiter: »Der Tag, an dem mein Ausscheiden aus dem Dienst bekanntgegeben wurde, war nach dem Mondkalender der 15. des siebten Monats, der Tag Allerseelen, an dem der Höllenfürst Yama die Tore der Hölle geöffnet hat. Sexgurke wollte mich bewegen, weiter im Dienst zu bleiben. Ich sollte meine Position behalten dürfen, und er wollte mir jeden Monat achthundert Yuan geben. ›Pfui ...!‹ Ich spuckte ihm ins Gesicht. ›Du Missgeburt, deine alte Großtante sagt dir eins, sie hat genug wertvolle Lebenszeit an dein Krankenhaus verschwendet! In meinen Dienstjahren sind acht von zehn Yuan, die das Krankenhaus verdiente, doch durch mich hereingekommen. Aus ganz Weifang, aus allen vier Bezirken und acht Kreisen kommen die kranken Frauen und Kinder zu mir. Wenn ich Geld bräuchte, wär’s mir ein Leichtes, immer mal tausend oder achthundert Yuan nebenbei zu verdienen. Und da willst du Gurke mich für achthundert Yuan pro Monat kaufen? Dafür bekommst du nicht mal einen Wanderarbeiter! Ich habe mein Leben lang hart gearbeitet. Ich will nicht mehr. Nun gehe ich zurück aufs Land und werde mich ausruhen.‹
Das hat mir Sexgurke übelgenommen. In den zwei Jahren zuvor hatte der mich ganz schön drangsaliert. Mich drangsaliert? Ach, was rede ich! ›Gurke, lass es dir gesagt sein‹, erklärte ich ihm, ›deine alte Großtante hat in ihrem Leben schon alles erlebt! Sie hatte selbst als kleines Mädchen nicht mal vor den Japsen Angst. Da wird sie sich mit über siebzig doch nicht von jemandem wie dir, du Missgeburt, ins Bockshorn jagen lassen!‹
Richtig. So ist es abgelaufen. So und nicht anders.
Wenn ihr nun wissen wollt, warum ich Große Hand heiratete, muss ich bei den Fröschen beginnen. Am Abend nach meinem offiziellen Eintritt in den Ruhestand hatten ein paar meiner alten Kollegen im Restaurant einen Tisch bestellt. Ich war an jenem Abend betrunken.
Der Schnaps war schlecht, ich hatte gar nicht viel getrunken. Jie Xiaoque, der Chef des Restaurants, ein Sohn des Jie Zhuas – 1963 habe ich ihn auf die Welt gezogen, –, holte eine Flasche Wuliangye hervor, um mir Respekt zu erweisen, wie er sagte. Das war, verdammt noch mal, gepanschter Schnaps. Ich trank ein halbes Glas, dann wurde mir so schlecht, dass mir Hören und Sehen verging. Alle am Tisch, die von dem Fusel getrunken hatten, kippten von den Stühlen. Jie Xiaoque erbrach weißen Schaum und verdrehte die Augen.«
Gugu erzählte, sie sei dann schwer torkelnd gegangen und hätte eigentlich ins Wohnheim des Krankenhauses zurückgewollt, sei aber versehentlich in die Aue gelaufen und in eine Senke geraten. Einen gewundenen Pfad entlang, zu beiden Seiten mannshohes Schilf, und Wasser sei da gewesen. Das habe im Mondschein hell geschimmert wie Glas. Kröten und Frösche hätten laut gequakt, mal auf der einen, mal auf der anderen Seite. Ein auf- und abebbendes Quaken wie die Lieder, die sich die Leute über die Täler im Hochgebirge zusingen. Manchmal sei das Gequake auch von überallher gekommen. Alle hätten in der Riesensenke gleichzeitig gequakt, bis zum Himmel hinauf habe es getönt. Dann habe plötzlich Stille geherrscht. Grabesstille. Bis auf das Summen der Insekten.
Gugu betonte, sie sei in den vielen Jahren, in denen sie Hausbesuche gemacht habe, in unzähligen Nächten unterwegs gewesen. Nie habe sie sich vor etwas gefürchtet, aber in jener Nacht habe sie die Furcht gepackt.
Man sagt, das Quaken von Fröschen höre sich wie Trommeln an. In jener Nacht habe es sich aber wie Weinen angehört. Wie das Weinen von Tausenden und Abertausenden Neugeborenen.
Sie habe ja das Schreien der Neugeborenen immer so gern gehört! Für eine Frauenärztin ist der erste Schrei des Neugeborenen die schönste und bewegendste Musik auf der ganzen Welt! Aber in jener Nacht habe in dem Froschgesang Hass mitgeklungen. Das Schreien von Wesen, die ihrer Würde beraubt wurden, die in äußerster Bedrängnis sind, so habe es geklungen! Als wären es die Neugeborenen, an denen sie sich versündigt hatte, und deren Totengeister nun Anklage erheben würden. Auch der letzte Tropfen Schnaps, den sie bei Tisch getrunken habe, sei ihr auf der Stelle als eiskalter Schweiß aus den Poren gedrungen, als sie das gehört habe.
»Denkt nicht, dass das etwa Halluzinationen durch übermäßigen Alkoholgenuss gewesen wären! Der Schnaps hatte den Körper als kalter Schweiß längst wieder verlassen. Ich konnte glasklar denken.«
Sie habe dem sie umzingelnden Gequake auf dem matschigen Pfad entfliehen wollen. Doch wie? Wohin hätte sie sich retten können? Wie schnell sie auch gerannt sei, das Quaken, dieses hasserfüllte, wüste Weinen habe sie von überallher bedrängt.
Sie erzählte weiter, sie habe wegrennen wollen, habe aber keine Kraft mehr gehabt. Der Pfad sei zu matschig gewesen. Zäher Matsch, wie Kaugummi, das die jungen Leute auf die Straße spucken. So habe der Matsch unter ihren Füßen geklebt. Sie habe ihre Füße nicht mehr heben können. Mit ganzer Kraft habe sie sich abgemüht. Dann habe sie entdeckt, dass sich zwischen ihren Schuhsohlen und der Erde ein dichtes, silbernes Seidengespinst befand. Sie habe versucht, diese Fäden zu durchtrennen. Aber immer, wenn sie ihren Fuß wieder aufgesetzt habe, seien neue Seidengespinste aufgetaucht. Sie habe die Schuhe fortgeworfen und sei barfuß weitergelaufen. Aber barfuß sei das Ziehen noch stärker gewesen. Sie habe es noch viel deutlicher gespürt. Als hätten die Fäden des Gespinsts Saugnäpfe bekommen, hätten sie bombenfest an ihren Fußsohlen geklebt. Die Haut ihrer Fußsohlen habe sich beinahe abgelöst.
Gugu berichtete, sie habe schließlich am Boden gekniet. Wie ein Riesenfrosch sei sie vorwärtsgekrochen, aber der Matsch und das Gespinst hätten sich an ihren Knien, an den Waden und an den Handtellern festgesaugt. Sie habe darauf aber keine Rücksicht genommen und sei weiter vorwärtsgekrochen. Dann seien mitten aus dem dichten Schilfröhricht, da wo das silbern schimmernde Wasser zu sehen gewesen sei, zwischen den Seerosen unzählige Frösche herausgesprungen. Grasgrüne seien darunter gewesen, goldgelbe, manche groß wie ein Bügeleisen, andere klein wie Dattelkerne, manche mit Goldsternaugen, manche mit Augen wie die Bohnen für die rote Bohnenpaste. Die Frösche seien wie eine Flutwelle auf sie zugerollt, ihr tosendes, wütendes Quaken sei von überallher gekommen, habe sie umzingelt.
Gugu berichtete, sie habe spüren können, wie deren harte, spitze Mäuler ihr in die Haut schnappten. Als wären an ihren Füßen mit den Schwimmhäuten spitze Fingernägel gewesen, so habe es sich angefühlt, als sie sie gekratzt hätten. Sie seien ihr auf den Rücken gehopst, an den Hals, auf den Kopf, bis sie die schwere Last nicht mehr habe tragen können und bäuchlings auf den Boden gedrückt worden sei.
Gugu meinte, das Furchterregendste sei gar nicht das Beißen und Kratzen gewesen, sondern dieses unerträglich ekelerregende Gefühl, wenn die kühle, klebrige Bauchhaut der Frösche mit ihrer Haut in Berührung gekommen sei.
»Sie haben mich die ganze Zeit über angepinkelt! Vielleicht haben sie auch ihre Samenflüssigkeit auf mich abgespritzt.«
Gugu sagte, plötzlich sei ihr das alte Märchen von den Fröschen eingefallen, die einen Menschen zum Narren hielten: Ein Mädchen aus gutem Hause war versehentlich am Fluss eingeschlafen und hatte geträumt, ein junger Mann in grünen Kleidern wäre erschienen und sie hätte mit ihm am Strand geschlafen. Und als sie erwachte, war sie doch wirklich schwanger. Aber was sie gebar, war ein kleiner Frosch!
Als ihr das eingefallen sei, sagte Gugu, sei sie auf die Beine gekommen. Diese entsetzliche Vorstellung habe bei ihr enorme Kräfte frei werden lassen. Sie habe gesehen, dass viele an ihr klebende Frösche wie Matsch von ihrem Körper zu Boden gefallen seien. Aber etliche andere hätten sich noch in ihren Kleidern, in ihren Haaren festgeklammert. Zwei hätten sich sogar an ihren Ohrläppchen festgebissen wie ein Paar grässliche Ohrringe.
Gugu war weitergerannt, die sie nach unten ziehenden Kräfte waren plötzlich fortgewesen. Sie hatte sich beim Rennen geschüttelt, hatte mit beiden Händen wild auf sich und um sich geschlagen. Wenn sie einen Frosch erwischt hatte, hatte sie schrill aufgeschrien, ihn gepackt und von sich geschleudert.
Als sie die zwei Frösche von ihren Ohren abgerissen habe, sagte Gugu, sei es um ihre Ohren beinahe geschehen gewesen, denn sie hätten daran gehangen wie hungrige Säuglinge an den Brustwarzen der Mutter.
Sie habe geschrien, während sie weitergerannt sei, aber die Frösche seien ihr dicht auf den Fersen und schwer abzuschütteln gewesen. Sie habe sich beim Rennen kurz umgewandt, und der Anblick habe sie völlig kopflos werden lassen. Tausende, Abertausende von Fröschen seien ihr wie eine Armee quakend, hopsend, rempelnd, drängelnd, wie ein dicker, schmutziger Strom rasend schnell gefolgt. Damit nicht genug seien immer weitere von beiden Seiten auf den Pfad gesprungen. Wie sei sie gerannt! Aber Trupps von Fröschen seien schon vor ihr gewesen und hätten versucht, ihr den Weg abzuschneiden, andere seien angriffslustig aus dem Schilf auf sie zugesprungen.
An jenem Abend habe sie, so sagte Gugu, einen dicken schwarzen Seidenrock getragen. Er sei von den Fröschen, die sie hinterrücks überfallen hätten, in Fetzen gerissen worden. Wenn die Frösche ein Stück Seide abgerissen hätten, hätten sie es sofort verschlungen, sie hätten es sich ins Maul gestopft und hinuntergewürgt und dann einen Purzelbaum geschlagen, so dass man den weißen Bauch habe sehen können.
Gugu erzählte weiter, sie sei dann zum Fluss gerannt. Als sie die kleine Steinbrücke im Mondlicht habe funkeln sehen, sei von ihrem Rock schon nichts mehr übrig gewesen. Sie sei so gut wie nackt gewesen, als sie auf die kleine Brücke gelaufen und dort mit Hao Große Hand zusammengetroffen sei.
»Ich hatte in dieser Lage keinen Sinn für Peinlichkeit mehr. Mir war gar nicht bewusst, dass ich fast nackt war. Ich sah einen Mann mit Palmstrohcape und Bambushut auf der kleinen Brücke sitzen und mit der Hand einen silbern funkelnden Klumpen bearbeiten. Später erfuhr ich, dass er Tonerde geknetet hatte.«
Um Mondlichtkinder zu machen, braucht man wohl Mondlichttonerde.
»Ich konnte in jenem Augenblick gar nicht erkennen, wer es war, nur dass es ein Mensch war und meine Rettung.«
Gugu erzählte, sie sei diesem Mann in die Arme gestürzt, habe sich wie von Sinnen unter das Palmstrohcape an seine Brust gewühlt, nur um an ihrer eigenen Brust die Wärme seines Körpers zu spüren und die frostige, nach Fisch stinkende Kälte der Frösche zu vertreiben. »Zu Hilfe, Bruder«, habe sie noch gerufen, dann sei sie ohnmächtig geworden.
Der lange Fernsehbericht der Tante hatte uns aufgewühlt. Wir hatten die Massen von Fröschen noch vor unserem geistigen Auge. Ein eiskalter Schauer lief uns über den Rücken.
Der Kameramann schwenkte wohl zu Hao Große Hand hinüber, jedenfalls kam dieser jetzt endlich ins Bild.
Gugu fuhr fort: »Als ich aufwachte, lag ich bereits auf Große Hands Kang. Ich steckte in Männerkleidung. Er brachte eine Schale süße Mungobohnensuppe, die er mir einflößte. Die köstlich duftenden Mungobohnen weckten meine Lebensgeister. Ich aß die Schale leer und schwitzte alles tüchtig aus. Viele Stellen meines Körpers glühten schmerzhaft. Das Gefühl des Eiskalt-Feuchten, Klebrigen, das jeden laut losschreien lässt, ebbte langsam ab. Aber ich bekam einen Ausschlag, stechende, juckende, schmerzende Pusteln, dem ein hohes Fieber mit Halluzinationen folgte.
Mit Große Hands Mungobohnensuppe nahm ich auch diese Hürde. Mein Körper schälte sich und ich hatte diffuse Knochenschmerzen. Ich hatte davon gehört, dass man sein Karma doch noch ändern kann, wenn man sich einer sehr harten Praxis oder Prüfung unterzieht, so wie der schlangenköpfige Mahoraga21, und ich wusste, dass ich mich gehäutet und auch meine Knochen ausgetauscht hatte. Wieder genesen, sagte ich zu Hao Große Hand: »Bruder, wir sollten wohl heiraten!«
Bei diesen Worten weinte sie wieder bitterlich.
Es folgte ein Schnitt, und die Kamera fing ein, wie Gugu und Große Hand gemeinsam Niwawa-Kinder modellierten. Gugu saß mit geschlossenen Augen da und sagte zu Große Hand, der ebenfalls die Augen geschlossen hielt und einen Klumpen Tonerde in der Hand hielt: »Dieses Baby muss Guan mit Nachnamen und Kleiner Bär mit Vornamen heißen, sein Vater ist einen Meter neunundsiebzig groß und hat ein längliches Gesicht, ein breites Kinn, Schlitzaugen, große Ohren, die Nase ist vorne breit und hat einen flachen Rücken. Seine Frau ist einen Meter dreiundsiebzig groß, hat einen langen Hals, ein spitzes Kinn, ein hohes Jochbein, keine Schlitzaugen, eine kleine Nasenspitze und einen hohen Nasenrücken. Das Kind hat dreißig Prozent vom Vater und siebzig Prozent von der Mutter ...« Während Gugu weitersprach, entstand das Kind namens Guan Kleiner Bär in den Händen des Meisters.
Die Kamera schwenkte für ein Close-Up zum Niwawa-Tonkind. Ich sah es mit seinen frischen Gesichtszügen, die aber, wie soll ich sagen, bekümmert wirkten. Ich musste heftig weinen ...