Achter Aufzug

Drehort der Verfilmung der Oper »Gao Mengjiu«30

Die Bühne zeigt das Innere der Haupthalle des Yamen des Kreises Gaomi. Wir befinden uns in der Zeit der Republik, in den Dreißigerjahren des vergangenen Jahrhunderts. Obwohl es Reformen gab, wird noch nach den alten Prinzipien regiert. In der oberen Mitte der rückwärtigen Wand der Amtshalle des Kreismagistrats hängt eine Tafel mit den vier Schriftzeichen:

正大光明

Ehre, Recht und Redlichkeit.

Zu beiden Seiten der Inschriftentafel hängt ein Couplet mit großen Schriftzeichen. Das rechte trägt die Zeichen:

一陣風一陣雨一陣青天

Mal Wind, mal Regen, mal blauer Himmel.

Das linke trägt die Zeichen:

半是文半是武半是野蠻

Halb Literat, halb Militär, obendrauf eine Portion Barbarei.

Auf dem großen Amtstisch steht wie auf einem Altar ein überdimensionaler Schuh.

Gao Mengjiu trägt einen schwarzen Sun-Yat-Sen-Anzug und einen westlichen Hut, man sieht die Kette seiner Taschenuhr aus der Brusttasche hervorlugen. Zu beiden Seiten der Bühne stehen einige Amtsdiener mit den langen schwarzroten Schlagstöcken, wie sie im chinesischen Mandariat üblich waren. Aber die Amtsdiener sind in Sun-Yat-Sen-Anzüge gekleidet. Sie sehen lächerlich aus.

Regisseur, Kameramann und Tonassistent, das ganze Fernsehteam ist schwer beschäftigt.

REGISSEUR: Alle auf ihre Plätze, bitte. Und Achtung: Action!

GAO MENGJIU: (greift nach dem Schuh und schlägt damit geräuschvoll auf den Tisch)

Auwei, auwei, auwei ... Das macht mir Sorgen.

(singt)

Kreismagistrat Gao prüft gerichtlich den strittigen Fall ~ Bei den Wangs und den Zhangs ist ein Streit um ihren Grund und Boden entbrannt ~ Zhang und Wang haben beide gute Gründe, alle haben immer gute Gründe ~ Zu entscheiden, wer Recht bekommt und wer nicht, liegt wie immer bei mir! ~

Mit Namen heiß ich Gao, und ich bin hier Magistrat. Ich stamme aus Tianjin aus dem Kreis Weibaochi. In meiner Jugend diente ich bei der Armee. Ich folgte Marschall Feng Yuxiang und zog mit ihm gen Süden ins Feld. Einige außergewöhnliche Erfolge hatte ich. Marschall Feng beförderte mich in den Rang eines Wachbataillonskommandeurs. Es geschah eines Tages, dass ein mir unterstellter Soldat, eine Sonnenbrille auf der Nase, mit einem Freudenmädchen herumlief und angab. Marschall Feng sah ihn und rügte mich, dass ich mit meinen Soldaten nicht streng genug sei. Ich war tief getroffen und machte mir Vorwürfe. Wie dankbar darf ich sein, dass mein Marschall mich all die Jahre förderte. Ich trat von meinem Posten zurück, quittierte den Dienst und kehrte nach Hause in mein Dorf zurück. Im Jahr 19 der Republik war mein Armeekamerad Han Fuqi, der wie ich aus Tianjin stammte, Militärgouverneur in Shandong. Dreimal kam er und bat mich, mein Dorf zu verlassen und in seinen Dienst zu treten. Ich tat es aus Freundschaft zu Han Fuqi und kam also nach Shandong, um die Beamtenlaufbahn einzuschlagen. Zuerst wurde ich Mitglied im Provinzsenat unserer Republik, dann übernahm ich das Amt eines Kreismagistraten in Pingyuan, danach wurde ich Kreismagistrat in Qufu, und im Frühling dieses Jahres habe ich meinen Dienst in Gaomi angetreten. Die Menschen hier sind durchtriebene Schlauköpfe. Die Verbrecher sind hier besonders kaltblütig und gewalttätig. Das Glücksspiel steht hoch im Kurs. Wegen der Opiumsucht gibt es zahlreiche blutige Auseinandersetzungen auf der Straße. Um die Sicherheit der Bevölkerung ist es nicht zum Besten bestellt. Seit dem Frühling diesen Jahres gehe ich mit Entschlossenheit gegen die Verbrecher in Gaomi vor, an der Wurzel will ich dieses Übel packen. Ich fördere die Kindespietät und den Familienzusammenhalt. Ich mische mich gern unerkannt unters Volk, um schwierige Streitfälle zu lösen.

(mit gedämpfter Stimme)

Natürlich ist es auch zu einigen lächerlichen Zusammenstößen gekommen. Menschen sind nun mal keine Weisen oder Halbgötter. Alle haben auch Fehler. Haben Weise und Halbgötter gar keine Fehler? Leute von Bildung hier auf dem Land schenkten mir diese Kalligraphie.

一陣風一陣雨一陣青天,

半是文半是武半是野蠻

Mal Wind, mal Regen, mal blauer Himmel.

Halb Literat, halb Militär, obendrauf eine Portion Barbarei.

Eine wunderbare Kalligraphie! Kunstvoll geschrieben! Dann schenkten sie mir noch einen Spitznamen! Gao Zwei Schuhsohlen! Weil ich durchtriebenen Halunken, Männern wie Frauen, gern mit zweierlei Schuhsohlen Backpfeifen verpasse.

(singt)

In unruhigen Zeiten muss der Beamte harte Strafen geben ~ Wenn es barbarisch zugehen muss, dann muss es sein. ~ Tricks und Köder, um sie abzuschlachten, die Verbrecherbrut. ~ Wenn Gao Mengjiu das Regiment führt, prasseln die Schuhsohlenschläge. ~ Meine Kameraden, sage ich.

AMTSDIENER: (alle zusammen)

Zu Befehl!

GAO MENGJIU: Ist alles bereit?

AMTSDIENER: Wir sind bereit!

GAO MENGJIU: Die Vorgeladenen, Kläger und Angeklagter, mögen den Gerichtssaal betreten.

AMTSDIENER 1: Die vorgeladenen Familien, Kläger und Angeklagter, betreten den Gerichtssaal!

Chen Augenbraue kommt holterdiepolter mit dem Kind auf dem Arm herbeigerannt.

AUGENBRAUE: Weiser Richter Bao! Wollen Richter Bao sich für Eure Magd einsetzen und bitte das Urteil fällen!

Kleiner Löwe und Kaulquappe kommen ebenfalls in die Amtshalle.

Die beiden Schauspieler, die den Kläger Zhang und den Angeklagten Wang darstellen, haben sich auch eingefunden und mischen sich unter die Anwesenden. Es entsteht ein Durcheinander.

REGISSEUR: (übelgelaunt, gestresst)

Stopp! Was hat das zu bedeuten? So ein Durcheinander! Regieassistenz!

AUGENBRAUE: (stürzt nach vorn und kniet vor dem Richtertisch)

Weiser Richter Bao Qingtian! Bitte setzt Euch für Eure Magd ein und fällt das Urteil!

GAO MENGJIU: Hier heißt der Richter Gao, nicht Bao.

AUGENBRAUE: (während der Säugling weint)

Weiser Richter Bao, Eurer Magd geschieht ein Unrecht, so groß wie die Welt alt ist. Richter Bao, bitte, Ihr sollt es unparteiisch und gerecht gerichtlich prüfen!

Yuan Backe und der kleine Cousin haben den Regisseur bereits angesprochen; leise diskutieren sie etwas, der Regisseur nickt mit dem Kopf.

YUAN BACKE: (undeutlich)

Unsere Firma unterstützt die Dreharbeiten mit zehntausend Yuan.

Der Regisseur geht zu Gao Mengjiu und flüstert ihm einige Sätze ins Ohr.

Der Regisseur gibt dem Kamerateam ein Zeichen, damit alle mit dem Dreh fortfahren können. Backe geht zu Kaulquappe und Kleiner Löwe und gibt ihnen leise ein paar Instruktionen.

GAO MENGJIU: (verpasst dem Richtertisch mit der Schuhsohle einige kräftige Hiebe)

Bürgerin, hör mir zu. Ich werde ausnahmsweise deinen Fall schon heute einer gerichtlichen Prüfung unterziehen. Nenn mir nun bitte deinen Namen, Vornamen, Geburtsort, Inhalt und Grund der Klage sowie den Namen desjenigen, gegen den du Klage führst. Ich belehre dich, dass du zur Ehrlichkeit gegenüber dem Gericht verpflichtet bist, schon ein halber Satz Unwahrheit wird dazu führen ... Kennst du die Gepflogenheiten hier bei Gericht?

AUGENBRAUE: Eure Magd kennt sie nicht.

AMTSDIENER: (gemeinsam im Chor)

Woh Woh Woh Wah Shubiduwa!

GAO MENGJIU: (ergreift die Schuhsohle, peitscht mit ihr geräuschvoll den Tisch)

Wenn auch nur ein Wort Unwahrheit in deiner Rede ist, werde ich mit der Schuhsohle dein Gesicht schlagen.

AUGENBRAUE: Eure Magd weiß Bescheid. Weiser Richter, mit Respekt erstatte ich Bericht. Mein Name ist Chen, Vorname Augenbraue, ich bin in Nordost-Gaomi geboren. Bei meiner Geburt starb meine Mutter, meine Schwester hat mich großgezogen. Ich folgte ihr in eine Plüschtierfabrik, wo wir arbeiteten. Bei einem Großbrand in der Fabrik starb meine Schwester, das Feuer zerstörte mein Gesicht.

GAO MENGJIU: Ich sage dir, Chen Augenbraue, nimm jetzt den Schleier ab und lass mich dein Antlitz sehen.

AUGENBRAUE: Richter Bao, ich kann ihn nicht abnehmen.

GAO MENGJIU: Warum kannst du ihn nicht abnehmen?

AUGENBRAUE: Wenn ich ihn trage, bin ich ein Mensch, wenn ich den Schleier abnehme, bin ich ein Gespenst.

GAO MENGJIU: Chen Augenbraue, die Gerichtsverhandlung findet den gesetzlichen Verfahrensvorschriften entsprechend statt. Wie willst du dich vor mir ausweisen, wenn du einen Schleier trägst?

AUGENBRAUE: Richter Bao, sag allen anderen, sie sollen sich die Augen zuhalten.

GAO MENGJIU: Haltet euch alle die Augen zu!

AUGENBRAUE: Richter Bao, Sie können schauen. Richter Bao, ich bin vom Unglück verfolgt.

(legt das Kind vor sich nieder, nimmt den Schleier ab und bedeckt ihr Gesicht mit den Händen)

Als Chen Augenbraue Gao Mengjius Anweisungen folgt, stürzt Kleiner Löwe vor und nimmt sofort das Kind auf den Arm.

KLEINER LÖWE: Schätzchen, Goldkind, kleines Goldkindchen, lass Mama mal sehen. Kaulquappe, schau nur. Was ist das hier? Diese böse Wahnsinnige wird das Kind noch hinwerfen, dann ist es tot.

AUGENBRAUE: (schreit und stürzt sich auf Kleiner Löwe)

Es ist mein Kind, Richter Bao! Sie hat mir mein Kind geraubt.

Die Amtsdiener halten Augenbraue zurück. Gugu kommt langsam auf die Bühne.

KAULQUAPPE: Meine Tante ist eingetroffen!

KLEINER LÖWE: Gugu, schau nur! Hat das Kleine was?

Gugu zwickt das Kind ein paar Mal, es beginnt zu weinen. Kaulquappe reicht Kleiner Löwe eine Babyflasche mit Milch. Kleiner Löwe gibt dem Kind die Flasche. Das Kind hört sofort auf zu weinen.

AUGENBRAUE: Richter Bao, mein Kind soll keine Kuhmilch zu trinken bekommen. In der Kuhmilch sind Giftstoffe. Ich kann meinem Kind Muttermilch geben. Wenn Ihr es nicht glaubt, drücke ich welche aus meinen Brustdrüsen, damit Ihr sie sehen könnt.

Chen Nase und Li Hand kommen auf die Bühne.

CHEN NASE: (auf Krücken, die über den Boden kratzen)

Jetzt seht ihr, dass ich die Wahrheit sage.

GAO MENGJIU: (mitleidig)

Augenbraue, du kannst den Schleier eigentlich wieder aufsetzen.

AUGENBRAUE: (tastet ängstlich nach ihrem Schleier und verhüllt ihr Gesicht wieder)

Richter Bao, ich habe euch erschreckt. Entschuldigt das bitte.

GAO MENGJIU: Augenbraue, dein Fall wird durch mich entschieden, wenn ich mir durch einige Fragen Klarheit verschafft habe.

AUGENBRAUE: Danke, Richter Bao.

Kaulquappe und Yuan Backe nehmen Kleiner Löwe in ihre Mitte und wollen sich auf den Weg machen.

GAO MENGJIU: (peitscht mit der Schuhsohle den Tisch)

Es ist nicht gestattet, die Amtshalle zu verlassen. Bevor das Gericht seine Entscheidung gefällt hat, wagt hier jemand, sich zu entfernen? Amtsdiener, bewacht sie!

Der Regisseur gibt Gao Mengjiu mit den Augen ein Zeichen. Gao Mengjiu tut, als habe er es nicht bemerkt.

GAO MENGJIU: Bürgerin Augenbraue. Du sagst mit jedem Satz, dieses Kind sei das deine. Ich frage dich, wer ist der Vater des Kindes?

AUGENBRAUE: Ein hoher Beamter, ein feiner Herr mit viel Geld.

GAO MENGJIU: Auch wenn er so bedeutend, so reich und in so hoher Position ist, wird er doch wohl einen Namen haben?

AUGENBRAUE: Ich weiß seinen Namen nicht.

GAO MENGJIU: Wann hast du ihn geheiratet?

AUGENBRAUE: Ich bin nicht verheiratet.

GAO MENGJIU: Aha, ein uneheliches Kind. Und wann kam es zu dem ... Kontakt?

AUGENBRAUE: Richter Bao, ich verstehe nicht.

GAO MENGJIU: Ach! Wann du mit ihm geschlafen hast – wie soll ich noch fragen? – Sex hattest? Verstehst du?

AUGENBRAUE: Richter Bao. Ich habe nie mit irgendwelchen Männern geschlafen. Ich bin Jungfrau.

GAO MENGJIU: Ach! Je mehr ich frage, umso komplizierter wird es. Wenn du nicht mit einem Mann geschlafen hast, wie bist du denn schwanger geworden? Diesen einfachen Sachverhalt verstehst du?

AUGENBRAUE: Richter Bao, ich spreche in allem nichts als die Wahrheit.

(zeigt auf Kleiner Löwe)

Sie haben es mit einer Spritze gemacht.

GAO MENGJIU: Ein Retortenbaby.

AUGENBRAUE: Nein, kein Retortenbaby.

GAO MENGJIU: Ich verstehe, so wie es beim Vieh gemacht wird. Mit der Bechermethode.

AUGENBRAUE: Richter Bao!

(kniet nieder)

Seid milde mit mir und trefft eine gute Entscheidung. Ich wollte durch die Geburt des Kindes Geld verdienen, um für meinen Vater eine Krankenhausrechnung zu bezahlen. Danach wollte ich in den Fluss springen und mir das Leben nehmen. Aber als ich die Schwangerschaft durchlebte, spürte ich, wie es sich in meinem Leib bewegte. Da wollte ich nicht mehr sterben. Mit mir zusammen sind noch einige andere Frauen schwanger geworden. Sie mochten das Kind in ihrem Bauch nicht, aber ich liebte es. Mein Gesicht und mein Körper sind voller Narben. Wenn es Regenwetter gibt, dann jucken und schmerzen sie. Sie springen auf, bluten. Richter Bao, auch die Schwangerschaft war nicht einfach für mich. Richter Bao, ich habe alles auf mich genommen, war immer vorsichtig und habe das Kind dann zur Welt gebracht. Aber sie haben behauptet, es wäre tot. Doch ich wusste, dass es lebt. Ich habe es gesucht und gesucht. Und ich habe es tatsächlich gefunden. Ich will das Leihmuttergeld nicht, sondern das Kind. Eine Million können die mir anbieten, aber ich würde immer das Kind wählen. Bitte seid gnädig und sprecht mir mein Kind zu.

GAO MENGJIU: (zu Kaulquappe und Kleiner Löwe gewandt)

Ihr beiden, seid ihr ein vor dem Gesetz ordentlich verheiratetes Ehepaar?

KAULQUAPPE: Wir sind seit über dreißig Jahren verheiratet.

GAO MENGJIU: Habt ihr in den mehr als dreißig Jahren nie ein Kind bekommen?

KLEINER LÖWE: (aufgebracht)

Haben wir nicht gerade eins bekommen?

GAO MENGJIU: Wie alt magst du sein, weit über fünfzig?

KLEINER LÖWE: Ich dachte mir schon, dass Sie so fragen würden.

(zeigt auf Gugu)

Das ist die Frauenärztin hier bei uns in Gaomi. Sie hat unzählige Frauen von ihrer Unfruchtbarkeit geheilt. Es ist sehr gut möglich, dass auch Sie von ihr auf die Welt geholt wurden. Sie können Gugu befragen. Über den gesamten Prozess meiner Schwangerschaft, bis hin zur Geburt. Alles kann sie Ihnen berichten.

GAO MENGJIU: Ich kenne natürlich eure berühmte Tante Gugu. Sie ist hier in Nordost-Gaomi wie ein Halbgott, reich an Tugend und edlen Zielen.

GUGU: Dieses Kind ist mit meiner Geburtshilfe auf die Welt gekommen.

GAO MENGJIU: (fragt Augenbraue)

Hat sie dir bei der Geburt geholfen?

AUGENBRAUE: Richter Bao, bevor ich in den Kreißsaal kam, haben sie mir die Augen verbunden.

GAO MENGJIU: Diesen Fall kann das Gericht nicht lösen. Macht einen DNA-Test.

Der Regisseur kommt und flüstert ihm etwas ins Ohr. Beide scheinen sich leise zu streiten.

GAO MENGJIU: (seufzt schwer, singt)

~ Ein sehr ungewöhnlicher Fall ~ Der mir sehr zu schaffen macht. ~ Wem soll ich das Kind geben? ~ Ein tückischer Plan kommt mir. ~

(geht von der Bühne, kommt wenig später zurück)

Ihr hört mir jetzt zu: Da ihr mir den Fall übergeben habt, will ich ihn nun auch entscheiden! Amtsdiener!

AMTSDIENER: Jo!

GAO MENGJIU: Wer meinen Anweisungen nicht folgt, kriegt die Schuhsohle ins Gesicht.

AMTSDIENER: Richtig!

GAO MENGJIU: Augenbraue, Kleiner Löwe: Was jeder von euch vorbringt, erscheint mir gerecht und vernünftig. Deswegen fällt es mir schwer, das Urteil zu fällen. Bitte, Kleiner Löwe, gib mir das Kind.

KLEINER LÖWE: Ich will nicht ...

GAO MENGJIU: Amtsdiener!

AMTSDIENER: (gemeinsam im Chor)

Woh Woh Woh Wah Shubiduwa!

Der Regisseur flüstert Kaulquappe etwas ins Ohr, der pufft Kleiner Löwe mit dem Ellenbogen in die Seite und bedeutet ihr, dem Richter das Kind zu geben.

GAO MENGJIU: (blickt auf das Kind in seinem Arm herab)

Es ist wirklich ein feines Kind, kein Wunder, dass sich beide Familien darum streiten. Augenbraue, Kleiner Löwe, hört mir jetzt gut zu. Ich kann nicht entscheiden, wem ich das Kind zusprechen soll. Ihr könnt es euch aus meinem Arm holen. Wer es als erster schafft, es mir zu entwenden, kriegt es. Einem verdrehten Fall gebührt eine verdrehte Lösung. (hebt das Kind in die Höhe)

Achtung, los!

Chen Augenbraue und Kleiner Löwe stürzen nach vorn. Beide zerren am Kind. Es beginnt zu weinen. Da packt Augenbraue es mit einem festen Griff und nimmt es auf den Arm.

GAO MENGJIU: Amtsdiener! Nehmt Augenbraue das Kind ab und gebt es mir.

Die Amtsdiener nehmen ihr das Kind ab und übergeben es Gao Mengjiu.

GAO MENGJIU: Augenbraue, du warst so kühn zu behaupten, du seist die Mutter des Kindes, aber als du um das Kind kämpfen solltest, hast du es an Sorge und Mitgefühl fehlen lassen. Das zeigt mir, dass deine Behauptung, seine Mutter zu sein, falsch ist. Als Kleiner Löwe sich bemühte, es zu ergattern, hat sie vom ihm abgelassen, sobald es zu weinen begann, weil sie es liebt und nicht verletzen möchte. Richter Bao hat in Kaifeng einen ähnlichen Streitfall genauso entschieden. Diejenige, die vom Kind ablässt, ist die Mutter. Deswegen spreche ich analog zur erwähnten Entscheidung Kleiner Löwe das Kind zu. Augenbraue hat sich erdreistet, andrer Leute Kind zu beanspruchen, und Lügenmärchen gestreut. Somit muss eine Strafe von zwanzig Schuhsohlenschlägen an ihr vollstreckt werden. Weil sie aber eine Behinderung hat, setze ich den Vollzug der Strafe aus. Alle haben den Gerichtsstand zu verlassen. Die Sitzung ist beendet.

Gao Mengjiu gibt Kleiner Löwe das Kind. Augenbraue wird von den Amtsdienern festgehalten, sie wehrt sich und brüllt dabei aus Leibeskräften.

CHEN NASE: Gao Mengjiu, du Nachtwächter!

LI HAND: (pufft Nase)

Freund, Folgendes: Ich habe mit Backe und Kaulquappe schon alles abgesprochen, sie werden Augenbraue mit hunderttausend Yuan entschädigen.

Ende des achten Aufzugs


Neunter Aufzug

Gugus Haushof, Bühnenbild wie zuvor. Hao Große Hand und Qin Strom sind immer noch in das Modellieren der Tonkinder vertieft. Kaulquappe knetet an seinem Stapel Manuskriptpapier, er steht abseits und rezitiert sein Stück mit heller Stimme.

KAULQUAPPE: Wenn mich jemand fragen würde, welche Farbe in Nordost-Gaomi die wichtigste sei, sagte ich ohne Umschweife: Grün!

GROSSE HAND: (unzufrieden vor sich hin brummelnd)

Und was ist mit Rot? Rote Mohrenhirse, rote Sonne, rote Steppjacken, rote Chilis, rote Äpfel ...

QIN STROM: Gelbe Erde, gelbe Kacke, gelbe Zähne, gelbe Marder, nur eben kein Gold, diese gelben Barren gibt’s hier nicht.

KAULQUAPPE: Würde mich jemand fragen, welches Geräusch wohl in Nordost-Gaomi das wichtigste sei, so sagte ich ihm stolz und ohne Umschweife: das Quaken der Frösche!

GROSSE HAND: Warum sollte man darauf stolz sein?

QIN STROM: Das Schreien der Babys ist das Geräusch, auf das man wirklich stolz sein kann.

KAULQUAPPE: Fröschequaken, wie wimmerndes Blöken kleiner Kälbchen, wie trauriges Meckern kleiner Zicklein, wie zeterndes, aber frei herausgeschmettertes Gackern der Henne, wenn sie ihr Ei gelegt hat, Quaken, wie das traurige und durchdringend laute Schreien der Säuglinge.

GROSSE HAND: Was ist mit Hundegebell? Was mit Katzenmiauen? Was mit Eselsiahen?

KAULQUAPPE: (entnervt)

Diese ewigen Widerworte, wie wippende Sänften, die nicht mehr zu stoppen sind.

QIN STROM: Ich finde, dein Theaterstück ist genau das und nichts anderes als eine arg in Schwung geratene Sänfte, die nicht mehr zu stoppen ist.

GUGU: (mit eiskalter Stimme)

Was du gerade gelesen hast, habe ich das gesagt?

KAULQUAPPE: Die Figur Gugu im Theaterstück hat das gesagt.

GUGU: Bin ich die Gugu in deinem Stück? Oder bin ich es nicht?

KAULQUAPPE: Eigentlich bist du es schon, aber im Grunde auch wieder nicht.

GUGU: Was du da sagst, musst du mir schon genauer erklären. So versteh ich das nicht.

KAULQUAPPE: Das ist ein ganz verbreitetes Muster des künstlerischen Schaffensprozesses. Eigentlich der gleiche Vorgang wie das, was beim Formen der Niwawa-Tonkinder bei den beiden passiert. Die Formen und Bilder sind zwar dem realen Leben entnommen, werden aber dank der Kreativität des Künstlers mit neuen Inhalten gefüllt.

GUGU: Fürchtest du nicht, dass einiger Ärger auf uns zukommt, wenn das Stück wirklich aufgeführt wird? Du hast die Namen und Vornamen ja doch alle so gelassen wie im realen Leben.

KAULQUAPPE: Das ist ein Manuskript, Gugu. Wenn die Endfassung steht, tausche ich die Namen aller Figuren gegen ausländische aus. Gugu heißt dann Tante Maria, Große Hand heißt dann Henry, Qin Strom wird zu Allende, Augenbraue zu Dounia, Nase wird dann Figaro heißen, sogar unser Nordost-Gaomiland wird das kleine Dorf namens Macondo werden müssen.

GROSSE HAND: Henry? Der Name hat was.

QIN STROM: Aus mir machst du besser einen Rodin oder Michelangelo, deren Natur und ihre Art zu arbeiten sind mir näher.

GUGU: Kaulquappe, wir sollten nicht abschweifen, Theaterspielen gehört ins Theater! Real Vorgefallenes ist nun mal in der Realität vorhanden und bleibt da auch. Ich finde immer, wir hätten, ich schließe mich da nicht aus, Augenbraue nicht so verächtlich behandeln dürfen. Ich leide in letzter Zeit wieder stark unter meiner Schlafstörung. Der Plagegeist Schuldeneintreiber-Dämon führt seine Schar schwerbehinderter Frösche jede Nacht zu mir und rumort an meinem Bett. Ich spüre ihre kühle, feuchte Haut und nehme den fischigen Körpergeruch wahr.

GROSSE HAND: Das sind alles Halluzinationen, Anwandlungen, die du wegen deiner schwachen Nerven hast.

KAULQUAPPE: Gugu, ich kann dich verstehen, aber irgendwie mussten wir die Sache doch in den Griff bekommen. Wenn nicht so, wie geschehen, wie dann? Wie wir es auch drehen und wenden, Augenbraue ist geisteskrank, dazu ist sie noch schwer entstellt, eine Verbrennungskranke, eine Verrückte mit einem grimmigen, monströsen Aussehen. Wenn wir ihr das Kind gegeben hätten, damit sie es großzieht, wäre das unverantwortlich gewesen. Und außerdem bin ich vom biologischen Standpunkt aus gesehen der Vater des Kindes, obwohl ich es nicht freiwillig geworden bin. Wenn die Mutter nervenkrank ist und schon mit ihrem eigenen Leben Probleme hat, entspricht es dem Gesetz des Himmels, dass der Vater das Kind großzieht. Da würde es immer mir zugesprochen werden, egal von welchem Gericht. Bist du meiner Meinung?

GUGU: Vielleicht wäre sie jetzt gesund, wenn wir ihr das Kind gegeben hätten. Durch die Beziehung zwischen Mutter und Kind sind schon viele Wunder geschehen.

KAULQUAPPE: Wir können das Kind doch nicht einem solchen Experiment aussetzen.

GUGU: Geisteskranke sind auch kinderlieb.

KAULQUAPPE: Aber ihre Liebe kann dem Kind unter Umständen Schaden zufügen. Gugu, mach dir deswegen auf keinen Fall Vorwürfe. Wir haben das Menschenmögliche bereits getan. Wir haben ihr die doppelte Menge Geld gegeben. Wir haben sie in die Klinik einweisen lassen und Nase ebenso. Wir haben unsere Schuldigkeit getan. Wenn sie ihre Krankheit irgendwann völlig überwunden hat, wenn das Kind groß ist, dann werden wir einen günstigen Zeitpunkt auswählen, um ihm die Wahrheit zu sagen, auch wenn wir ihm damit Kummer zufügen, denn es wird in jedem Fall Kummer bedeuten.

GUGU: Ich sage euch, wie es ist. In letzter Zeit denke ich oft an den Tod.

KAULQUAPPE: Gugu, komm jetzt bloß nicht auf dumme Gedanken! Du bist erst Anfang siebzig. Dass du jetzt im Zenit deines Lebens stehst, dass es also zwölf Uhr Mittag für dich ist, mag übertrieben sein, aber mehr als drei Uhr Nachmittag ist es in deinem Leben noch nicht. Damit möchte ich dir keineswegs schmeicheln. Drei Uhr nachmittags ist noch früh am Tag, da wird es noch lange nicht dunkel. Dazu kommt, dass die Menschen in Nordost-Gaomi ihre Gugu noch nicht missen möchten!

GUGU: Natürlich will ich nicht sterben. Wenn der Mensch keine Not leidet, nicht ernsthaft krank ist, wenn er essen und wenn er schlafen kann, warum sollte er dann sterben wollen? Aber ich kann nicht einschlafen. Wenn um Mitternacht alle schlafen, bin ich wach wie die Eule auf dem Baum vor unserem Haus. Die Eule bleibt wach, weil sie Mäuse fangen muss. Was mache ich, wenn ich wach bleibe?

KAULQUAPPE: Du kannst Schlaftabletten nehmen. Sehr viele bedeutende Persönlichkeiten leiden unter massiven Schlafstörungen. Sie nehmen alle etwas ein.

GUGU: Schlaftabletten zeigen bei mir  keinerlei Wirkung.

KAULQUAPPE: Du könntest es mal mit Traditioneller Chinesischer Medizin versuchen.

GUGU: Ich bin Ärztin, das weißt du doch! Ich sag dir eins. Das ist bei mir keine Krankheit.

Die Zeit der Vergeltung ist angebrochen. Der Dämon, der meine Schulden eintreiben will, steht mit geöffnetem Säckel an meinem Bett, um mit mir abzurechnen. Um Mitternacht, wenn die Eule ruft, kommt er an mein Bett. Jede Nacht kommt er, blutüberströmt, und brüllt zum Erbarmen. Er kommt zusammen mit den schwerbehinderten Fröschen, die einen Arm, ein Bein zu wenig haben. Ihr Brüllen mischt sich mit dem Fröschequaken zu einem Konzert. Sie jagen mich durch den Hof. Ich habe keine Angst, dass sie mich beißen. Ich fürchte die kühle, weiche Haut an ihrem Bauch und ihren fischigen Gestank. Sagt selbst, wovor habe ich in meinem Leben Angst gehabt? Tiger, Leoparden, Wölfe, Füchse, vor denen andere sich immer fürchten, erschrecken mich nicht. Ich habe nur mörderische Angst vor den Froschdämonen.

KAULQUAPPE: (zu Große Hand gewandt)

Sollte man vielleicht einen Taoisten kommen lassen, der Gebete spricht?

GROSSE HAND: Sie spricht ja schon auswendig gelernte Bühnentexte.

GUGU: Wenn ich nicht einschlafen kann, grüble ich immer über mein Leben nach. Ich beginne bei dem ersten Kind, das ich geholt habe, und lasse dann alle Kinder in einer langen Schlange folgen, bis zum letzten, Bild für Bild, als würde ich einen Film abspulen. Mal angenommen, ich hätte in meinem Leben sonst nichts Unrechtes getan. Aber gewisse Dinge, sind das böse Taten gewesen?

KAULQUAPPE: Gugu, das, was du meinst, waren keine bösen Taten, auch jetzt ist noch einiges sehr umstritten. Und selbst wenn man jetzt all das offiziell als böse Tat definieren würde, könnte man dir aber noch lange nicht die Verantwortung dafür aufbürden. Gugu, mach dir keine Selbstvorwürfe. Es ist keine Schande, du bist eine erfolgreiche Beamtin, keine Missetäterin.

GUGU: Bin ich wirklich keine Sünderin?

KAULQUAPPE: Wenn Nordost-Gaomi heute seinen Gutmenschen wählen würde, würden die Leute zuallererst dich wählen.

GUGU: Sind meine beiden Hände sauber?

KAULQUAPPE: Sie sind nicht nur sauber, es sind gesegnete Hände.

GUGU: Wenn ich nicht einschlafen kann, muss ich immer daran denken, wie Fausts Frau gestorben ist, und wie Renmei gestorben ist, und wie Galle gestorben ist.

KAULQUAPPE: Bei dir darf man nicht die Schuld suchen. Bei dir zuallerletzt.

GUGU: Fausts Frau hat etwas zu mir gesagt, als sie starb. Weißt du, was das war?

KAULQUAPPE: Nein.

GUGU: Sie sagte: Wan Herz, du wirst zur Hölle fahren.

KAULQUAPPE: Die alte Stinksocke. Was die sich herausgenommen hat.

GUGU: Renmei hat etwas zu mir gesagt, als sie starb. Weißt du, was das war?

KAULQUAPPE: Nein, was denn?

GUGU: Sie sagte: Gugu, mich friert so.

KAULQUAPPE: (schmerzvoll)

Renmei, mich friert auch.

GUGU: Galle hat etwas zu mir gesagt, als sie starb.Weißt du, was das war?

KAULQUAPPE: Nein.

GUGU: Möchtest du es wissen?

KAULQUAPPE: Natürlich, obwohl ...

GUGU: (erhebt sich)

Sie sagte: Danke, Gugu, dass du mein Kind gerettet hast. Was meinst du, habe ich ihr Kind gerettet?

KAULQUAPPE: Natürlich hast du das.

GUGU: Dann kann ich ja beruhigt sterben.

KAULQUAPPE: Gugu, so ist das nicht richtig. Du musst sagen, du schläfst jetzt beruhigt ein, und dann lebst du zufrieden.

GUGU: Ein Mensch, der Schuld auf sich geladen hat, sollte das Recht haben, in den Tod zu gehen. Er wird zu einem Leben gezwungen, das nur noch eine Qual ist, in dem er leidet wie ein Fisch auf dem Grill und wieder und wieder auf dem Rost gewendet wird, in dem er wie bittere TCM-Medizin Stunde um Stunde in siedendem Wasser kocht. Er muss durchhalten, seine Schuld sühnen, damit er, wenn er sie gesühnt hat, erleichtert sterben darf.

Von der Decke der Bühne baumelt eine große schwarze Schlinge aus dickem Seil. Gugu hat ihren Kopf bereits in die Schlinge gesteckt und tritt mit dem Fuß den Stuhl um, auf dem sie steht. Hao Große Hand und Qin Strom kneten ihre Niwawa-Tonpuppen.

Kaulquappe hat ein Messer in der einen Hand und stützt sich mit der anderen auf dem Stuhl ab, während er draufklettert. Er schneidet das Seil durch. Gugu fällt zu Boden.

KAULQUAPPE: (hilft Gugu hoch)

Gugu!

GUGU: Bin ich tot?

KAULQUAPPE: Könnte man meinen, aber jemand wie du ist nicht so leicht totzukriegen.

GUGU: Wie, du meinst, ich bin wiedergeboren?

KAULQUAPPE: Könnte man sagen.

GUGU: Ist mit euch alles in Ordnung?

KAULQUAPPE: Wir sind okay.

GUGU: Und das Goldkind?

KAULQUAPPE: Dem geht’s prächtig.

GUGU: Hat Kleiner Löwe jetzt Milch?

KAULQUAPPE: Der Milchfluss ist in Gang gekommen.

GUGU: Hat sie viel oder wenig?

KAULQUAPPE: Mehr als genug.

GUGU: Wie viel genau?

KAULQUAPPE: Wie ein Springbrunnen.

Ende des neunten Aufzugs

(Ende des Schauspiels)

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