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»Die Liebe ist eine schwere Krankheit gewesen«, hatte Wang Leber gesagt. Wie wahr ist doch die Lehre, die er damals, als ihm die Sinnlosigkeit seines Liebeskummers bewusst wurde, aus der Erfahrung gezogen hat. Denkt man an ihn und die Ausmaße seiner Verliebtheit während dieser langen Jahre zurück, kann man sich schwer vorstellen, dass er weiterleben wollte, nachdem Kleiner Löwe mich geheiratet hatte.
Schließt man von ihm auf Qin Strom, ist wohl klar, dass die Liebestollheit, mit der jener Gugu verfallen war, ebenfalls krankhafte Züge hatte.
Als Gugu Hao Große Hand heiratete, sprang aber auch Qin Strom weder in den Fluss, noch erhängte er sich. Er transformierte seinen Kummer in Kunst. Gugus Heirat machte aus ihm einen überragenden Volkskünstler, als wäre dem Schlamm ein Neugeborenes entsprungen.
Wang Leber hielt mir die Freundschaft und besuchte uns oft. Manchmal kam er von sich aus auf seine langjährige »Krankheit« zu sprechen. Dabei witzelte er, als spräche er von jemand anderem. Mich machte es froh, wie er damit umging. Das schlechte Gewissen, das mir viele Jahre keine Ruhe gelassen hatte, rumorte weniger. Es machte ihn mir vertrauter, er erwarb sich bei mir großen Respekt.
Sugitani san, teurer Freund, Sie werden vielleicht nicht glauben, was ich Ihnen jetzt über Wang Leber schreibe: Er erzählte uns einmal, Kleiner Löwe sei barfuß am Flussufer unterwegs gewesen, und da habe er ihre Fußabdrücke im Sand gefunden. Er sei ihnen wie ein Hund auf allen Vieren schnüffelnd gefolgt. Dabei habe er den Geruch durch die Nase eingesogen, während ihm die Tränen über das Gesicht liefen.
»Erzähl weiter solche Märchen«, sagte Kleiner Löwe damals mit rotem Kopf.
»Aber es ist wahr!«, beharrte Leber mit Inbrunst: »Wenn daran auch nur ein Wort gelogen ist, sollen mir auf der Stelle Furunkel aus den Haarspitzen wachsen!«
»Hört, hört!«, rief Shizi und dann, zu mir gewandt: »Dass ich nicht lache, wie sollen aus den Haarspitzen Furunkel wachsen? Da kann er ja gleich wetten, dass sein Schatten sich eine Grippe holt.«
Ich merkte natürlich sofort an: »Welch ein schönes Detail! Das nehm ich in mein Theaterstück auf.«
»Besten Dank«, konterte Leber. »Schreib diesen Bockmist, den der Narr namens Wang Leber so getrieben hat, ruhig auf. Ich hab hier noch Material in Hülle und Fülle.«
»Wenn du das tust«, drohte Kleiner Löwe prompt, »werfe ich dein Manuskript ins Feuer.«
»Auf Papier Geschriebenes kannst du verbrennen. Verse, die ich im Kopf habe, kriegst du nicht verbrannt.«
»Ich merk schon, du bist wieder eifersüchtig.«
Dann wandte sie sich Wang Leber zu: »Leber! Wenn ich’s mir recht überlege, hätte ich damals wohl besser dich geheiratet. Du hast doch wenigstens über meinen Fußabdrücken geweint.«
»Werte Gattin meines Freundes! Reiß hier bitte keine exotischen Witze! Du und Renner passen wie der Topf zu seinem Deckel.«
»Das kannst du wohl sagen. Topf und Deckel! Der Deckel kam drauf, aber der Topf blieb leer! Kein Kind, kein gar nix!«
»Themawechsel, bitte! Jetzt reden wir mal von deinen Heiratsplänen, Leber! Hast du dir schon eine ausgeguckt?«
»Seit ich von meiner Krankheit genesen bin, hab ich festgestellt, dass ich mich gar nicht in Frauen verlieben kann.«
»Bist du homosexuell?«, fragte Kleiner Löwe spöttisch.
»Ich bin gar nichts von alledem, ich liebe nur mich. Ich liebe meine Arme, meine Beine, meine Hände, meinen Kopf, Augen, Ohren, Nase, Mund, meine Eingeweide und inneren Organe, sogar meinen Schatten liebe ich. Mit ihm unterhalte ich mich übrigens regelmäßig.«
»Dich hat’s wohl wieder erwischt? Ist eine neue Krankheit im Anmarsch?«
»Liebt man einen anderen Menschen, so ist der Preis hoch. Liebt man sich selbst, zahlt man nicht dafür. Wie und wie viel ich mich liebe, ist meine Sache. Ich entscheide. Ich bin mein eigener Herr ...«
Leber nahm mich und meine Frau mit zu dem Quartier, das er gemeinsam mit Qin Strom bewohnte.
Über der Eingangstür hing ein hölzernes Türschild mit den Schriftzeichen für »Meisteratelier«:
大師工作坊
Zur Zeit der Volkskommunen hatte man hier Zugtiere und anderes Vieh gehalten. Ich war oft zum Spielen hierher hergekommen. Ich erinnere mich noch immer gut an den Geruch von Kuhmist und Mulidung, den ich jedes Mal in der Nase hatte.
Auf dem Hof stand neben dem Brunnen noch die große Wanne als Tränke, zu der der alte Stallknecht Fang jeden Morgen alle Tiere einzeln am Strick geführt und dort angebunden hatte.
Der junge Stallknecht Du hatte damals immer dabei gestanden und in einem fort Wasser aus dem Brunnen geschöpft, das er in die Wanne nachgoss.
Der Stall war groß und luftig gewesen, mit einer Abflussrinne in der Mitte und zwanzig Steintrögen. Die zwei großen ganz vorne hatten den Mulis gehört, die hinteren den Rindern.
Als wir den Hof betraten, sah ich, dass die zwanzig Anbinder der Mulis und Rinder noch da waren, auch die Parolen an der Wand konnte man noch entziffern, ja sogar der Geruch war geblieben.
»Die wollten das hier alles schon abreißen«, sagte Wang Leber. »Aber dann wurde bekannt, dass von oben eine Inspektion angeordnet worden sei. Man wollte ein Dorf aus der Zeit der Volkskommunen als Ausflugsziel für die Städter erhalten. So kam es, dass der Stall blieb.«
»Will man hier in Zukunft noch mal Rinder und Pferde halten?«, fragte Kleiner Löwe.
»Ich schätze eher nicht.« Leber rief laut: »Qin Strom! Lehrer Qin! Meister! Gäste sind da!«
Es blieb still. Wir folgten Leber und traten ein. An den Wänden waren noch immer die Rillen von den Tritten der Mulis und der angetrocknete Kuhmist zu sehen.
Der große Wok, worin das Futter für die Pferde und Rinder gekocht worden war, stand noch unverändert an Ort und Stelle. Der Kang, auf dem die Fangs mit ihren sechs Söhnen geschlafen hatten, war auch noch da.
Früher hatte ich ein paar Nächte auf diesem Kang verbracht. Es war im Januar kurz vor Neujahr gewesen, in der kältesten Jahreszeit, in der das Wasser sogar noch beim Heruntertropfen gefriert. Die Fangs waren arm. Sie hatten keine Steppdecken besessen. Damit ich nicht frieren musste, hatte der alte Fang die ganze Nacht über den Kang befeuert. Davon war dieser heiß wie eine Bratpfanne geworden. Seine Jungs waren das gewohnt gewesen, sie hatten wunderbar geschlafen, nur ich hatte die ganze Nacht über kein Auge zugetan.
Jetzt lagen auf dem Kang zwei gefaltete Steppdecken. Darüber klebten an der Wand zwei Neujahrsbilder. Auf dem einen stand:
Das chinesische Einhorn bringt Babys,
und auf dem zweiten:
Der Zhuangyuan, der Prüfling, der in Peking bei Hofe den ersten Platz belegt, macht einen Stadtbummel.
Wir entdeckten eine dicke Platte aus Holz, die über zwei Steintrögen lag, darauf matschige Erde und Werkzeug. Dahinter stand eine Holzbank, auf der unser guter alter Qin Strom saß.
Er trug einen langen blauen chinesischen Übermantel, die Ärmel und der Brustlatz waren mit Farbklecksen übersät. Sein Haar war schlohweiß, immer noch in der Mitte gescheitelt, sein Gesicht mit den großen, melancholisch dreinblickenden Augen glich dem eines Fohlens.
Als er uns eintreten sah, schaute er auf. Sein Blick streifte uns kurz und sein Mund bewegte sich unmerklich; das war der Gruß, der uns galt. Dann stützte er sein Gesicht sofort wieder in beide Hände und starrte weiter grübelnd die Wand an.
Unwillkürlich hielten wir den Atem an und begannen zu flüstern, versuchten leise aufzutreten, weil wir fürchteten, Lärm zu machen und den Meister beim Nachdenken zu stören.
Leber führte uns zu Qin Stroms Kunstwerken, die wir alle besichtigen durften. Seine halbfertigen Figuren hatte er in den alten Steintrögen der Rinder zum Trocken aufgestellt. Die fertig durchgetrockneten standen auf ein paar langen Brettern, die er an der Nordwand wie Bänke aufgestellt hatte. Kinder in allen nur möglichen Posen grüßten uns aus den Rindertrögen. Obwohl sie noch nicht bemalt worden waren, wirkten sie beseelt.
Leber flüsterte uns zu, dass der Meister dort viele Tage unbeweglich sitzend und grübelnd zubringe. Selbst nachts gehe er oft nicht schlafen. Aber wie eine Maschine mit Zeitschaltuhr fange er zu gegebener Zeit an, die Erde auf seiner Arbeitsplatte zu kneten, damit sie weich und geschmeidig bleibe. Manchmal sitze er aber auch den ganzen Tag über nur stumm und steif da, ohne einen Finger zu rühren. Kein einziges Tonkind bringe er dann zuwege. Aber wenn er einmal zu modellieren begonnen habe, dann arbeite er in rasender Geschwindigkeit.
»Ich bin zuständig für den Vertrieb seiner Tonkinder, und ich führe ihm den Haushalt. Ich habe endlich die Arbeit gefunden, die mir wirklich liegt. Genau wie der Meister, der nun seine Bestimmung gefunden hat. Er stellt keinerlei Ansprüche ans tägliche Leben. Was ihm vorgesetzt wird, das isst er. Natürlich kaufe ich ihm die nahrhaftesten, gesündesten Lebensmittel, schließlich ist er Nordost-Gaomis ganzer Stolz, er ist der Stolz unseres ganzen Kreises.«
Leber erzählte weiter: »Eines Nachts bemerkte ich plötzlich, dass er verschwunden war, denn er schlief nicht mehr auf dem Kang. Ich ging hastig los, um ihn zu suchen. Im Hof war er auch nicht. Wo konnte er hin sein? Ich war vor Angst schweißgebadet. Wenn ihm nun tatsächlich etwas zugestoßen sein sollte ... Dann würde man im Kreisamt sagen: Welch ein Verlust für unser Gaomiland! War doch der Kreisvorsteher mit dem leitenden Kader des Kulturamts und mit dem leitenden Kader des Büros für Touristik schon dreimal bei uns gewesen!
Wisst ihr eigentlich, wer jetzt unser Kreisvorsteher ist? Der Sohn unseres alten Kreisparteisekretärs Yang Lin, dem bei uns in Gaomi so furchtbar mitgespielt wurde und der zu Gugu diese undurchsichtige Beziehung hatte. Er heißt Yang Stattlich, nämlich Yang Xiong, ein super Typ mit elektrisierenden Augen und schneeweißen Zähnen, dazu verbreitet er den intensiven Duft von Markenzigaretten. Man erzählt sich, er habe in Deutschland seinen Universitätsabschluss gemacht. Er ist es auch, der zum einen beschloss, den Viehstall nicht abzureißen, und der zum anderen den Meister zu einem Kreisbankett einlud. Der Meister folgte der Einladung zwar nicht, weil er sich nicht traute, ganz wie unser Sprichwort sagt: Er kam mit dem Halfter in der Hand, denn allein wäre er nicht hingegangen. Darin ähnelt er unseren Männern, die sich von Gugu nicht sterilisieren lassen wollten. Und drittens brachte Kreisvorsteher Yang Stattlich dem Künstler Qin Strom eine Plakette und eine Urkunde, eine Art Meisterbrief, auf dem geschrieben steht, dass er ein Großmeister im Kunstgewerbe und der Bildenden Kunst ist.«
Wang Leber fischte die vergoldete Kupferplakette und den dazugehörigen blau-samtenen Meisterbrief aus einem der Tröge heraus.
Natürlich hatte Hao Große Hand auch eine Plakette und einen Meisterbrief bekommen. Auch er war zu diesem Bankett eingeladen gewesen. Er war natürlich auch nicht hingegangen. Wäre er sonst Große Hand gewesen?
»Dass die beiden sich rar machten, ließ sie in den Augen Yang Stattlichs noch mal in einem ganz anderen Licht erscheinen: vollendete Respektspersonen!«
Leber holte aus seiner Hosentasche ein Bündel Visitenkarten hervor, dem er drei Karten entnahm: »Schaut euch die an! Jedes Mal, wenn Yang Stattlich hier war, hat er mir seine Visitenkarte gegeben. Immer mit den Worten: ›Unser Gaomi gehört noch zu den wundersamen Orten, an denen sich Drachen und Tiger im Verborgenen aufhalten. Leber, du gehörst auch zu diesen Talenten und Helden!‹
Ich habe erwidert, ich sähe doch immer schäbig und abgerissen aus, hätte so viele Schwachstellen, außer dass ich mal so eine Schau mit meiner Liebestollheit abgezogen hätte, sei ja nichts gewesen, und jetzt sei ich Marktschreier und trüge Tonkinder zu Markte.
Was denkt ihr wohl, was er geantwortet hat? Er hat gesagt, jemand, der den Mumm habe, ein halbes Menschenleben lang für seine große Liebe zu kämpfen, der sei ja wohl ein außergewöhnlicher Mann. Und: ›Unser Nordost-Gaomi hat schon viele wertvolle und wundersame Menschen hervorgebracht. Ich finde, du bist einer von ihnen.‹
Dieser Typ ist durch und durch ein Kader der neuen Generation. Keiner der Regierungsbeamten, die mir bis heute begegnet sind, ist wie er. Bei der nächsten Gelegenheit werde ich euch mit ihm bekannt machen. Er hat mir die Aufgabe übertragen, mich um den Meister zu kümmern, um alles, was er zum täglichen Leben braucht, und um seine Sicherheit. Deshalb lief mir sofort eiskalt der Schweiß über den Rücken, als ich mitten in der Nacht bemerkte, dass der Meister nicht in seinem Bett lag. Was, wenn ihm etwas zugestoßen wäre? Wie sollte ich das dem Kreisvorsteher jemals beibringen?
Ich saß vor dem Herd und starrte ins Leere. Wie Wasser floss das Mondlicht durch Fenster und Türritzen herein. Im Schummerlicht des Herdfeuers zirpten zwei Grillen; sie erzählten mir von Traurigkeit und Einsamkeit. Da hörte ich aus dem Pferdetrog ein bitteres Lachen. Ich schnellte hoch und schaute hinüber. Da lag der Meister doch mit dem Gesicht himmelwärts im Trog. Weil der zu kurz war, hielt er seine Beine im Schneidersitz überkreuz und hatte die Arme über der Brust verschränkt. Er machte einen friedvollen und gelassenen Eindruck. Auf seinem Antlitz lag ein ruhiges Lächeln. Wenn man genau hinschaute, sah man, dass er schlief. Er musste wohl im Traum so bitter gelacht haben.
Ihr wisst vielleicht, dass wir in Nordost-Gaomi ein paar Genies haben, die unter schweren Schlafstörungen leiden, der mit Namen Leber ist zwar kein echtes Genie, hat aber diese Krankheit auch. Leidet ihr beiden eigentlich auch an einer Schlafstörung?«
Ich und Kleiner Löwe schauten einander an. Wir schüttelten den Kopf: »Wir haben so was nicht. Sobald der Kopf das Kissen berührt, beginnen unsere Nasen mit den typischen Schlafgeräuschen, und wir sind im Reich der Träume. Wir sind keine Genies.«
»Es ist nicht so, dass die Schlaflosen alle Genies wären. Aber umgekehrt leiden die Genies hier fast alle unter dieser Krankheit«, meinte Leber.
Gugus Schlafstörung war berühmt im ganzen Dorf: Nach Mitternacht, wenn alles schlief, konnte man weit draußen im Freien eine rauchige Stimme singen hören. Gugus Gesang. Während sie des Nachts stundenlang umherstreifte, knetete Große Hand Niwawa-Kinder. Die Schlafstörung der beiden war zyklisch und verschlimmerte oder verbesserte sich mit den Mondphasen. Bei Vollmond war gar nicht an Schlafen zu denken, bei Neumond fanden sie Ruhe.
Deswegen nannte Yang Stattlich, der gern anderen Ehrungen verschafft, die von Hao Große Hand stammenden Tonkinder Mondlichtkinder und rief sogar das regionale Fernsehen, das den Meister filmte, wie er in einer milchigweißen Vollmondnacht im Mondschein Kinder modelliert.
»Habt ihr die Sendung im Fernsehen nicht gesehen? Wenn nicht, nicht tragisch! Die Sendung lief als erste Folge der Reihe Legendäre Persönlichkeiten Nordost-Gaomis. Sie begann mit den Mondlichtkindern, damit wollte man Zuschauer für diese Reihe gewinnen. Die zweite Folge trug den Namen Der Großmeister im Pferdetrog, die dritte Das außergewöhnliche Redetalent, die vierte Die Sängerin bei den Froschkonzerten. Wenn ihr die Folgen der Reihe sehen wollt, sagt mir Bescheid, ein Anruf beim Sender genügt, und sie bringen die DVD vorbei. Die ungeschnittenen Fassungen! Ich werde ihnen empfehlen, noch eine Folge mit euch abzudrehen. Den Titel habe ich mir schon ausgedacht: Einhalt und Umkehr der Heimgekehrten.«
Ich und Kleiner Löwe blickten uns an und lachten. Wir wussten, dass mit Wang Leber mal wieder die Lust am Fabulieren durchgegangen war. Wir mussten ihn nicht entlarven. Wozu auch? Viel lieber wollten wir ihm weiter zuhören.
Leber fuhr fort: »Nach jahrelanger Schlaflosigkeit war der Großmeister nun endlich im Pferdetrog eingeschlafen, fest und tief, wie ein sorgloser Säugling. Wie das Neugeborene aus dem hölzernen Pferdetrog, den uns der Fluss vor Jahren zugeführt hatte. Ich war von Qin Stroms Anblick so ergriffen, dass mir die Tränen kamen. Nur wer selbst an Schlaflosigkeit leidet, weiß um die Qual des Wachliegens, nur wer die Schlaflosigkeit kennengelernt hat, weiß die Süße des Schlafs zu würdigen. Ich blieb neben dem Trog, hielt Wache, hielt den Atem an aus Angst, ein Geräusch zu machen und ihn womöglich wieder aus dem Schlaf zu reißen. Die Tränen verschleierten meinen Blick. Es war mir, als läge ein schmaler Weg zu meinen Füßen, zu beiden Seiten stünde das Gras hoch in der Aue, Wildblumen blühten in allen Farben und schwängerten die Luft mit ihrem süßen Duft, Schmetterlinge flatterten, Bienen summten und ein Ton würde mich locken. Es war der Gesang einer Frau mit einer tiefen, rauchigen Stimme, sie war mir so vertraut und so lieb. Ihr Gesang lockte mich immer weiter in die Aue. Ihren Oberkörper sah ich nicht, nur bis zur Taille erblickte ich sie, einen üppigen, ausladenden, ja ballonförmigen Hintern, schlanke Waden, rosige Fersen und zarte Fußabdrücke, die ihre Füße im nassen Sand hinterlassen hatten. Sie waren unfassbar deutlich. Sogar die Papillarleisten der Fußsohlen konnte man im Sand erkennen. Ich bin ihr gefolgt, immer weiter, der Pfad schien kein Ende zu nehmen ... Allmählich spürte ich, dass ich mit dem Meister zusammen unterwegs war, wann und von woher er gekommen war, blieb mir unklar. Wir folgten den rosigen Fersen durch die Aue, bis wir den Rand eines Moores erreichten. Der Wind trug aus dessen Mitte den Geruch von fauligem Gras und Matsch herüber. Zu unseren Füßen wuchsen Seggen und Riedbüschel, in einiger Entfernung sah man hohes Schilfrohr, Kalmus und Rohrkolben, viele Binsen und andere wundersame Pflanzen, deren Namen ich nicht kenne. Aus der Mitte des Moors hörte man Kinderstimmen ausgelassen lachen und lärmen. Die Frau, die nur bis zur Taille zu sehen war, rief mit ihrer betörend schönen Stimme über das Moor:
Ihr großen und kleinen
Dämonen und Geister!
In Goldner Robe mit jadenem Gürtel!
Erfuhrt ihr Güte,
gebt sie zurück und seid dankbar!
Ist man sie euch schuldig geblieben,
treibt eure Schulden ein!
Kaum war sie zu Ende, liefen ganze Heerscharen kleiner Nackedeis herbei, alle nur mit einem roten Lätzchen bekleidet. Manche hatten mitten auf dem Kopf einen einzelnen Zopf, der nach oben abstand, manche hatten den Kopf kahlgeschoren, manche den traditionellen Drei-Backstein-Kopf mit drei Haarzipfeln auf dem geschorenen Schädel, und alle riefen freudig durcheinander, während sie auf die Stimme zustürmten. Die Kleinen schienen nicht gerade leicht zu sein, denn die elastische Oberfläche des Moores wippte auf und ab, als sie darüberrannten. Ein wenig sahen sie aus wie eine Horde Kängurus.
Die Bübchen – natürlich auch die Mädchen – umringten mich und den Meister. Die Bübchen – natürlich auch die Mädchen – umklammerten unsere Beine, kletterten uns auf die Schultern, packten uns an den Ohren, hielten unsere Haare fest, hauchten uns an den Hals. Einige sabberten uns in die Augen. Die Bübchen – natürlich auch die Mädchen – warfen uns zu Boden und krabbelten auf uns herum. Die Bübchen – natürlich auch die Mädchen – wühlten im Matsch und machten Matschebatzen, die sie uns auf den Körper schmierten. Die Bübchen – natürlich auch die Mädchen – beschmierten sich dann selbst mit Matsche ... Und später, ich erinnere mich nicht, wie viel Zeit dazwischen vergangen sein mochte, wurden die Bübchen – natürlich auch die Mädchen – plötzlich ganz still. Sie umringten uns in einem Halbkreis. Von denen, die sich vor uns befanden, hatten sich einige auf den Bauch gelegt, andere saßen, wieder andere knieten, manche hielten das Kinn in beide Hände gestützt, manche knabberten an den Fingernägeln, manche hatten den Mund aufgesperrt. Sie sprühten vor Leben in allen nur möglichen Posen. Krass! Als stünden sie dem Meister Modell!, schoss es mir durch den Kopf. Ich bemerkte, dass der Meister längst begonnen hatte zu arbeiten. Er studierte ein Kind, und während er das tat, nahm er vom Boden einen Erdbatzen auf und begann zu kneten. Es wurde ein nach dem lebenden Abbild geschaffenes Tonkind. Als er mit dem ersten fertig war, guckte er sich ein weiteres Kind aus, und erneut nahm er einen Batzen Matsch und begann zu kneten. Wieder schuf er ein lebensechtes Tonkind ...
Der Hahn krähte. Ich erschrak bis ins Mark und war sofort wach. Ich war auf der Kante des Pferdetrogs eingeschlafen, aus meinem Mundwinkel war Spucke auf den Brustlatz des Meisters getropft.
Für jemanden wie mich, der an einer Schlafstörung leidet, ist die Erinnerung an einen Traum der einzige Weg zu erfahren, ob er geschlafen hat oder nicht. Wenn einem das, was man gerade erlebt hat, noch lebendig vor Augen steht, ist es der Beweis dafür, dass man geschlafen hat.
Ich, der jahrelang schlaflose Leber, war auf dem Rand des Pferdetrogs eingenickt. Diese Freudennachricht, die gefeiert werden musste, war wirklich einen kaiserlichen Peitschenknall wert, wie er bei den morgendlichen Sitzungen im Palast ertönt. Natürlich war die Nachricht darüber, dass der Meister eingeschlafen war, einen noch kräftigeren Peitschenknall wert.
Der Meister nieste. Er blinzelte und öffnete die Augen. Als wäre ihm gerade etwas furchtbar Wichtiges eingefallen, schnellte er aus dem Pferdetrog hoch.
Draußen graute der Morgen, und schimmernd kam erstes rosa Morgenlicht durchs Fenster. Qin Strom war bereits pfeilschnell an die Arbeitsplatte gestürzt, hatte das große Paket mit der gründlich in Frischhaltefolie eingewickelten Erde geöffnet, ein Stück davon abgerissen und war auch schon dabei zu kneten und zu modellieren.
Er knetete, und bald war ein nacktes Tonkind mit einem Lätzchen und einem kleinen senkrechten Zöpfchen auf dem Kopf entstanden.
Mich übermannten die Gefühle, ich vermeinte die betörend schöne Stimme der Frau aus meinem Traum zu hören. Wer mochte sie sein? Natürlich niemand anderes als die gnadenreiche, an Mitleid und Barmherzigkeit reiche Niangniang!«
Als Wang Leber den Namen Niangniang aussprach, waren Lebers Augen tränenumflort, und ich bemerkte, dass auch in Shizis Augen Tränen glitzerten. Sie hatte ihm seine Geschichte wirklich geglaubt.
Leber fuhr fort: »Ich habe dann so schnell ich konnte den Fotoapparat geholt. Ich traute mich nicht, mit Blitz zu fotografieren, aber auch ohne Blitz habe ich eindrucksvolle Bilder davon geschossen, wie der Meister voller Schaffensdrang bei der Arbeit ist. Natürlich war es Quatsch, auf den Blitz zu verzichten, denn man hätte Gewehrsalven neben ihm abfeuern können, er hätte sie nicht gehört, so versunken war er in seine Arbeit. Sein Gesichtsausdruck änderte sich ständig, mal war er todernst, mal spiegelte er tiefschürfende Gedanken wider, mal war er heiter verschmitzt, dann schien er geheimnisvoll, als hecke er etwas aus. Dann wieder zeigte er wüste Verlassenheit.
Ich beobachtete, dass sein Gesicht die Gefühlslage des Tonkindes wiedergab, das er gerade modellierte. Er schlüpfte in die Haut des Kindes, das er erschuf. Er ist mit seinen Schöpfungen aufs engste verbunden. Als wären sie sein eigen Fleisch und Blut.
Die Zahl der Tonkinder auf seiner Arbeitsplatte wuchs. Er stellte die Bübchen – und natürlich auch die Mädchen – im Halbkreis vor sich auf, ihm zugewandt, so wie ich es im Traum erlebt hatte. Genauso! Ich war völlig überrascht, als ich das sah. Auf einmal wurde es mir klar! Es war also möglich, dass zwei Menschen ein und denselben Traum hatten. Konnte es anders sein?
Angeblich beschreiben die Alten mit dem Vers In meinem Herzen habe ich ein zaubermächtiges Horn20, wodurch unsere Seelen auf immer miteinander verbunden sind die Liebe zwischen Mann und Frau, aber ich finde, er passt genau auf den Meister und mich. Wir haben zwar keine gemeinsame Liebesgeschichte, aber wir haben eine gemeinsame Leidensgeschichte. Nachdem ich euch so viel über ihn erzählt habe, versteht ihr bestimmt, warum keins der von ihm geschaffenen Tonkinder dem anderen gleicht. Er betrachtet die Kinder nicht nur im realen Leben genau, er kann sich sogar noch in seinen Träumen Kinder anschauen. Ich habe nie gelernt, meine Hände zu benutzen, und kann so etwas nicht. Aber ich besitze eine überbordende Phantasie. Meine Augen haben die Fähigkeiten von Videokameras, ich kann mir das Abbild eines einzelnen Kindes genauso merken wie das von zehn, hundert oder tausend Kindern. Mit Hilfe von Träumen kann ich die in meinem Hirn gespeicherten Kinderbilder an den Meister übertragen und durch die geschickten Hände des Meisters werden daraus Kunstwerke.
Deswegen sind ich und der Meister meiner Meinung nach von Natur aus zur Zusammenarbeit geschaffen. Man kann deshalb auch behaupten, dass die Tonkinder unser Gemeinschaftswerk sind. Nicht dass ich mich erdreisten wollte, seinen Erfolg zu schmälern! Ich bin durch meine Liebesgeschichte für Karriere, Ruhm, Profit und Beamtenstatus unempfindlich geworden; derlei Dinge sind für mich bedeutungslos wie vorbeiziehende Wolken.
Ich betone nur dieses Wunder, dass nämlich Träume und Kunst miteinander verknüpft sind – ihr sollt doch wissen, dass meine unerfüllte Liebe für mich ein wertvolles Kapital darstellt. Besonders für Künstler sind eine unerfüllte Liebe, der Liebeskummer und das damit verbundene Leid eine Quelle, durch die sie die höchsten Sphären der Schöpferkraft erreichen.«
Während Lebers brandender Redefluss wie eine Endlosschleife weiterlief, verharrte der Meister regungslos, das Kinn auf beide Hände gestützt, als wäre er längst zur Skulptur geworden.