5

Wang Leber war in unerwiderter Liebe für Shizi entbrannt und stellte die verrücktesten Dinge an, die ihn im ganzen Dorf zum Gespött machten. Er war Thema Nummer Eins unseres Dorftratsches. Ich verspottete ihn nicht, denn ich konnte es ihm nachfühlen. Ich achtete ihn hoch, denn ich fand, dass diesem Genie in Sachen Liebe das gute Schicksal bisher verwehrt geblieben war. Er war zur falschen Zeit am falschen Ort. Er war streng monogam, denn er liebte nur die eine, wahre ..., ein gefühlsstarker Romantiker, der, wäre das Glück ihm hold gewesen, ewig gültige Liebeslieder geschrieben und gesungen hätte.

Als wir noch Kinder waren, noch nichts von der Liebe zwischen Mann und Frau wussten, keimte seine erste Liebe auf. Damals verliebte er sich in Shizi. Ich erinnere mich wie heute an seinen vor vielen Jahren ausgesprochenen Stoßseufzer: »Kleiner Löwe ist aber hübsch!« Objektiv betrachtet ist Kleiner Löwe überhaupt nicht hübsch, man könnte sogar sagen, sie sieht nicht mal annehmbar aus. Meine Tante hat sie mir antragen wollen. Ich habe sie ausgeschlagen, mit der Ausrede, dass sie doch Wang Lebers Traumfrau sei und ich sie deswegen nicht wolle. Um ehrlich zu sein: Ich fand sie nicht hübsch genug. Für Leber jedoch war sie die schönste Frau auf Erden. Es gibt einen Ausdruck, der es genau trifft: Vor Liebe blind.

Nachdem er den ersten Liebesbrief an sie in den Kasten geworfen hatte, war er so ergriffen, dass er mich zum Flussufer schleifte und mich den ganzen Weg über mit seinen Gefühlen vollquatschte. Es war der Sommer 1970, wir hatten gerade unseren Abschluss an der Landwirtschaftlichen Mittelschule gemacht. Es gab Hochwasser, das Wasser brodelte, Getreidestroh, Tierkadaver trieben flussabwärts, darüber flog eine einsame Möwe dahin. Am Ufer, wo das Wasser ruhiger floss, saß Renmeis Vater beim Angeln. Unser Mitschüler Li Hand, der Sohn unserer Lehrerin, hockte neben ihm und sah ihm zu.

»Soll ich es Li Hand auch sagen?«

»Der ist doch noch klein. Er versteht das nicht.«

Wir kletterten auf die alte Weide, die auf halber Höhe an der Böschung des Deichs wuchs, und setzten uns auf einen Ast, der über das Wasser ragte. Die Zweige des Astes hingen ins Wasser und rührten immerfort viele kleine Wellenschnüre auf.

»Was gibt’s denn? Nun sag schon!«

»Du musst mir zuerst schwören, dass du das Geheimnis niemandem weitersagst.«

»Gut. Ich schwöre: Wenn ich Wang Lebers Geheimnis ausplaudere, will ich in den Fluss fallen und ertrinken.«

»Ich habe ... heute ... den Brief, den ich ihr geschrieben habe, eingeworfen«, sagte er mit kreideweißem Gesicht und bibbernden Lippen.

»Welchen Brief an wen? Was ist das überhaupt für ein feierlich ernster Ton? Hast du an den Vorsitzenden Mao geschrieben, oder was?«

»Wo denkst du hin? Was habe ich mit dem Vorsitzenden Mao zu schaffen? Ich habe ihr geschrieben. Ihr

»Ihr? Wen meinst du?« Ich wurde ungeduldig.

»Du hast geschworen, dass du nie und nimmer mein Geheimnis preisgibst.«

»Nie und nimmer.«

»Wozu in die Ferne schweifen, sieh das Gute liegt so nah!«

»Hör auf, mich auf die Folter zu spannen!«

»Es ist ...«, Lebers Augen hatten seltsam zu leuchten begonnen. Wie von einem fernen Stern sprach er zu mir: »... meine Shizi ...«

»Warum schreibst du ihr? Willst du sie heiraten?«

»Wie kannst du nur so berechnend denken?«, erklärte Wang Leber voll Inbrunst. »Kleiner Löwe, meine Allerliebste! Dir will ich meine Jugend, meine ganze Lebenskraft in heißer Liebe zu Füßen legen. Meine Geliebte! Meine engste Vertraute! Nimm mir bitte nicht übel, dass ich wohl hundert Mal deinen geschriebenen Namen küsste ...«

Ich bekam eine Gänsehaut, mir lief es kalt den Rücken herunter. Wang Leber rezitierte augenscheinlich seinen Liebesbrief. Er hielt mit beiden Armen den Baumstamm umfangen, Tränen glitzerten in seinen Augen, als er sein Gesicht gegen die raue Rinde presste.

»Seit ich dich bei Renner zu Hause zum ersten Mal sah, hast du mich nicht mehr losgelassen. Von jenem Augenblick an bis jetzt und bis in alle Ewigkeit schlägt mein Herz nur für dich. Wenn du mein Herz willst, gebe ich es dir. Selbst wenn du es essen wolltest, risse ich es mir ohne Zögern aus dem Leibe. So verliebt bin ich in deine geröteten Wangen und die quirlige Nasenspitze, deine samtweichen Lippen, dein wuscheliges Haar und deine strahlenden Augen. Ich bin vernarrt in deine Stimme, deinen Geruch, dein Lächeln. Und wenn du lächelst, will mir schwindlig werden, verschwimmt mir alles vor Augen. Dann will ich dir zu Füßen knien, deine Beine umfassen und dein Lächeln anschauen.«

Der Koch Wang riss die Angel schwungvoll hoch und mit einem Ruck nach hinten. Von der blitzenden Schnur spritzten die Wassertropfen wie Perlen. Sie glitzerten im Sonnenlicht. Die teeschalengroße, sandfarbene kleine Weichschildkröte am Angelhaken knallte heftig auf die Uferböschung. Durch den Aufprall war sie benommen. Niedlich und erbärmlich zugleich sah sie aus, wie sie auf dem Rücken lag, ihren weißen Bauch zeigte und alle viere gen Himmel streckte.

Li Hand rief fröhlich: »Eine Schildkröte!«

»Liebste, ich bin nur ein Bauernsohn, habe eine schlechte Herkunft. Du bist Frauenärztin, ernährst dich von gekauftem Getreide. Das gesellschaftliche Ansehen von uns beiden ist sehr unterschiedlich. Vielleicht würdigst du mich keines Blickes. Vielleicht ertönt nur ein abschätziges Lachen aus deinem hübschen kleinen Mund, wenn du meinen Brief zu Ende gelesen hast. Und dann zerreißt du ihn. Oder du liest ihn gar nicht erst und wirfst ihn sofort in den Papierkorb. Aber ich möchte dir, Liebste, meine Allerallerliebste, sagen: Wenn du meine Liebe erhörst, werde ich wie der wilde Tiger sein, dem Flügel gewachsen sind, wie das edle Ross, das seinen Sattel gefunden hat: Ich werde unbändige Kräfte besitzen. Wie wenn man eine Spritze Hühnerblut bekommt, werde ich vor Energie strotzen. Dann werde ich auch Brot und Milch haben! Ich werde mit deiner Unterstützung auch zu einem werden, der Lebensmittel im Laden einkauft. Ich werde meinen gesellschaftlichen Status ändern, wenn ich nur mit dir zusammen sein kann.«

»Heh! Was macht ihr beide da auf dem Baum? Lest ihr euch Romane vor?« Li Hand hatte mich entdeckt und fragte in lautem Ton.

»... Liebste, wenn du mich nicht erhörst, werde ich mich nicht zurückziehen, werde nicht aufgeben. Ich werde dir folgen. Still. Wohin du auch gehst. Ich werde am Boden knien und deine Fußspuren küssen. Ich werde an deinem Fenster stehen und auf den Lichtschein im Zimmer schauen; wenn das Licht angeknipst wird, werde ich da sein, bis es gelöscht ist. Ich werde wie eine Kerze für dich brennen. Bis ich heruntergebrannt bin. Du meine Liebste! Wenn ich für dich an Bluthusten sterbe und du mir gnädig bist, an mein Grab kommst und nach mir schaust, so will ich’s zufrieden sein. Wenn du für mich eine Träne vergießt, sterbe ich ohne Reue. Denn deine Tränen, du meine einzig Liebste, sind die wunderbare Medizin, die mich von den Toten wiederauferstehen und ins Leben zurückkehren lässt.«

Die Gänsehaut auf meinen Armen verschwand allmählich. Seine liebestollen Rezitationen rührten mich. Ich hatte nicht erwartet, dass seine große Verliebtheit in Shizi aus ihm einen Trunkenen, Tollen machen würde, nicht erwartet, dass er eine so blumige Sprache schreiben konnte, nicht erwartet, dass dieser Liebesbrief in eine tränenreiche Klage münden würde. Im selben Augenblick spürte ich, dass Wang Leber mir den Weg zeigte, dass er mir die Tür von der Kinderzeit in die Teenagerzeit weit aufstieß. Obwohl ich damals von der Liebe nichts wusste, war ich von diesem hellen Strahlen so gefangengenommen, dass ich ihm todesmutig entgegenstürzte, wie eine Motte, die ins lichterloh brennende Feuer fliegt.

»Wenn du sie so sehr liebst, liebt sie dich bestimmt auch.«

»Glaubst du wirklich?« Ganz fest drückte er meine Hand und seine Augen begannen wieder so magisch zu strahlen: »Glaubst du wirklich, dass sie mich lieben wird?«

Ich gab ihm einen festen Händedruck: »Auf jeden Fall! Und wenn es nicht klappt, dann sage ich meiner Tante Bescheid, damit sie vermittelt. Kleiner Löwe hört immer auf meine Tante.«

»Nein, das will ich nicht! Ich will mir nicht von anderen dabei helfen lassen. Gewaltsam gepflückte Melonen sind nicht süß. Ich möchte ihr Herz mit Ausdauer und Beharrlichkeit erobern.«

Li Hand schaute zu uns nach oben in den Baum: »Was treibt ihr da für einen Schabernack?«

Der Koch Wang griff einen Batzen Matsche und bewarf uns damit: »Hört auf, da herumzukrakeelen! Ihr verscheucht mir die Fische!«

Flussaufwärts kam ein rotblau gestrichenes, mit einem Dieselmotor betriebenes Patrouillenboot aus Stahlblech auf uns zugefahren, der Außenborder ratterte. Alle befiel eine heftige Unruhe. Reißend stürzten die Wassermassen flussabwärts, während das Boot langsam gegen die Strömung fuhr. Am Bug schlugen schäumend die Wellen hoch und teilten sich wie Feldraine zu beiden Seiten des Schiffkörpers in zwei Wellensäume, die auseinanderdrifteten und allmählich wieder zusammenliefen. Aus dem hellblauen Nebel, der über dem Fluss schwebte, stieg ein Geruch von verbranntem Diesel auf und verteilte sich bis zu unseren Nasen. Wohl zwanzig graue Möwen folgten dem kleinen Boot.

Es handelte sich um das Patrouillenboot des Kommunekomitees zur Geburtenplanung. Meine Tante Gugu benutzte das Boot als Fortbewegungsmittel. Klar, dass auch ihre Assistentin Kleiner Löwe mitfuhr. Der Kreis hatte das Boot zur Verfügung gestellt, weil man verhindern wollte, dass, wenn die Brücke während der Hochwassersaison überschwemmt war, am anderen Ufer Ordnungsverstöße ungeahndet blieben. Denn wer wusste, was dann in Sachen unerlaubte Schwangerschaften dort passieren würde? Um während der Hochwasserzeit an der Front der Geburtenplanung die knallrote Fahne hochzuhalten, damit es in unserer Kommune nicht zu überzähligen Kindern jenseits der Plansolls kam, dafür war dieses Boot unterwegs. Auf dem Boot gab es eine winzige Kajüte, in der man sich auf zwei Reihen mit Skyleder bezogener Sitzbänke niederlassen konnte. Am Heck befand sich ein mit Diesel betriebener 12-PS-Außenbordmotor, am Bug waren zwei Hochfrequenzlautsprecher befestigt, aus denen eine Mao-Hymne schallte. Es war eine Volksweise aus Hunan, eine liebliche, angenehme Melodie. Der Bug schwenkte um, und das Boot fuhr auf unser Dorf zu. Jemand hatte die Musik abgestellt. In der plötzlichen Stille stach das Rattern des Dieselmotors richtig ins Ohr. Jetzt ertönte auch Gugus heisere Stimme: »Unser großartiger Führer, der Vorsitzende Mao, heißt uns zu beherzigen, dass die Menschheit sich bescheiden soll und nur noch planvoll wachsen darf ...«

Als Gugus Boot in Sichtweite kam, verstummte Wang Leber augenblicklich. Ich sah, wie sein Körper zitterte, wie er mit halb geöffnetem Mund, mit tränenfeuchten Augen auf das Boot starrte. Als es die Flussmitte überquerte und Schräglage bekam, stieß er einen Schrei aus. Er fuhr zusammen, als wolle er in den Fluss springen. Das Boot kam nun in schnellem Tempo mit gleichmäßig tuckerndem Motor auf uns zu gefahren. Meine Tante und Kleiner Löwe kamen!

Bootsführer war der uns allen vertraute Qin Strom. Sein großer Bruder war nach der Kulturrevolution rehabilitiert worden und nun wieder Parteisekretär. Als Funktionär fühlte er sich durch seinen kleinen Bruder kompromittiert, wenn dieser auf dem Markt bettelte. Daran änderten auch dessen feine Umgangsformen nichts. Er versuchte, mit ihm zu verhandeln.

Qin Strom stellte eine ungewöhnliche Bedingung: »Besorg mir eine Arbeit in der Abteilung für Frauenmedizin der Kommunekrankenstation!«

»Du bist ein Mann. Wie willst du da auf der gynäkologischen Station arbeiten?«

»Es gibt doch viele männliche Frauenärzte!«

»Du verstehst aber nichts von Medizin!«

»Warum muss ich Mediziner sein, um dort zu arbeiten?«

»Nun gut!«

So wurde er zum Berufsbootsführer des Stationsboots der Abteilung für Geburtenplanung und arbeitete von da an mit meiner Tante zusammen. Wenn gefahren werden musste, fuhr er, wenn nicht gefahren wurde, saß er im Boot und döste.

Er trug sein Haar immer noch in der Mitte gescheitelt wie die Studenten der Bewegung des Vierten Mai, die man aus dem Fernsehen kennt. Auch im Hochsommer trug er seine dicke Schüleruniform aus Gabardine, in der Brusttasche steckten immer noch seine beiden Stifte – der Füller und der Zweifarben-Kuli –, aber seine Gesichtsfarbe hatte sich verändert. Er war sonnengebräunt. Mit beiden Händen hielt er das Steuerrad und manövrierte das Boot nahe an die Uferböschung auf den alten Weidenbaum zu. Er drosselte den Motor, dafür schallten die Hochfrequenzlautsprecher in so trommelfellerschütternder Lautstärke, dass uns die Ohren summten.

Links neben der schiefnackigen alten Weide war auf Geheiß der Kommune vorübergehend eine Anlegestelle für das Patrouillenboot errichtet worden. Vier mächtige Baumstämme hatte man in den Grund des Flusses getrieben, mit Draht Querhölzer daran festgemacht und darauf Bretter für den Bootssteg gelegt. Qin Strom machte das Boot fest und stellte sich vorn am Bug auf. Das Motorengeräusch erstarb, der Krach aus den Lautsprechern auch. Wir konnten nun wieder das Kreischen der Möwen und die klatschenden Wellen hören.

Gugu kam als erste aus der Kajüte. Als das Boot schwankte, verlor sie das Gleichgewicht, aber Qin Strom streckte ihr sofort eine Hand entgegen, um sie zu stützen. Sie wehrte ihn jedoch ab und sprang mit einem Satz auf den Steg. Trotz ihrer Wohlstandsspeckrollen hatte sie nichts von ihrem Elan verloren. Ich bemerkte einen blendend weißen Mullverband, den sie um die Stirn trug.

Als zweite verließ Kleiner Löwe die Kajüte. Kleinwüchsig und pummelig, wie sie war, sah sie mit dem großen Arzttornister auf dem Rücken winzig aus. Sie war wesentlich jünger als meine Tante, aber behäbiger. Ausgerechnet ihretwegen klammerte Wang Leber sich jetzt mit leichenblassem Gesicht und tränenvollen Augen an den Stamm der alten Weide.

Die dritte Person, die aus der Bootskajüte hervorkam, war Huang Qiuya. In den paar Jahren, in denen ich sie nicht gesehen hatte, hatte sie einen krummen Rücken, krumme Beine und eine noch höhere Stirn bekommen. Sie bewegte sich nur noch langsam. Schwankend stand sie im Boot, mit beiden Armen rudernd, als könnte sie jeden Augenblick umfallen. Offensichtlich wollte sie auch an Land, nur schienen die Beine ihr nicht zu gehorchen. Den entscheidenden Schritt aus dem Boot hinaus auf den Bootssteg schaffte sie nicht. Qin Strom schaute ihr ungerührt zu, er half ihr nicht. Als sie sich bückte und wie ein Gorilla mit beiden Händen die Kante des Bootsstegs packte, rief ihr Gugu in scharfem Befehlston zu: »Huang Qiuya, du bleibst an Bord.« Meine Tante blickte nicht zurück, während sie anordnete: »Aufpassen, dass sie sich nicht davonmacht!«

Das hatte wohl beiden, Qin Strom und Huang Qiuya, gegolten. Qin Strom hatte sich sofort gebückt und im Boot nachgeschaut. Aus dem Innern des Bootes hörte ich das Schluchzen einer Frau.

Meine Tante ging mit Riesenschritten nach rechts an der Uferböschung entlang. Kleiner Löwe folgte ihr rennend, anders konnte sie nicht Schritt halten. Ich bemerkte, dass der Mullverband an Gugus Stirn Blutflecken aufwies und dass sie ein angespanntes Gesicht und einen harten Blick hatte. Ihr Gesicht zeigte unerschütterliche Entschlossenheit. Leber hatte meine Tante natürlich gar nicht wahrgenommen, weil er nur Augen für Shizi hatte. Seine Zähne klapperten furchtbar, seine Lippen bewegten sich unentwegt, er schien irgendetwas vor sich herzubeten. Ich bedauerte ihn, doch noch mehr beeindruckte er mich. Damals verstand ich nicht, dass ein Mann, wenn er sich in eine Frau verliebt, in ein komplettes Gefühlschaos geraten kann.

Erst nachträglich erfuhren wir, dass ein Kerl aus dem zanksüchtigen Dorf Dongfeng, der sich schon vor der Befreiung 1949 wie ein Bandit aufgeführt hatte, der drei Töchter besaß und dessen Frau mit dem vierten Kind schwanger war, meiner Tante mit einem Knüppel den Kopf blutig geschlagen hatte. Zhang Faust hieß er, hatte ein Paar Kulleraugen wie ein Rind, einen erstklassigen Familienhintergrund und war im ganzen Dorf bekannt als ein Kraftprotz, dessen Zorn man nicht ungestraft erregte. In Dongfeng war bei fast allen Frauen im gebärfähigen Alter, die zwei Kinder geboren hatten und bei denen eines ein Junge geworden war, die Sterilisation bereits durchgeführt worden. Diejenigen, die zwei Mädchen bekommen hatten, durften mit der Sterilisation noch warten, unter der Bedingung, dass sie sich eine Spirale einsetzen ließen. Meine Tante wollte sie nicht zwingen, erwartete aber, dass sie Rücksicht auf ihr Dorf nahmen. Wer aber schon drei Kinder hatte, der musste sich sterilisieren lassen, auch wenn es nur Mädchen waren. Die einzige Frau im Dorf, die nicht zur Sterilisation erschienen war, die keine Spirale trug und die dann auch noch schwanger geworden war, war Fausts Frau. Meine Tante ignorierte den heftigen Regen und fuhr mit dem Patrouillenboot bis nach Dongfeng, um sie dazu zu bringen, in die Krankenstation mitzukommen, um dort einen Abort einleiten zu lassen. Während sie auf dem Weg dorthin war, telefonierte der Kommuneparteisekretär Qin Shan mit Dongfengs Parteizellensekretär, Zhang Goldzahn, und gab den ausdrücklichen Befehl, alle Kräfte zu mobilisieren, um die Ehefrau Fausts in die Kommune zu bringen, damit der Abort eingeleitet würde.

Tante erzählte, dass Faust sie mit einem dornigen Aralienknüppel in der Hand und mit rotglühenden Augen laut brüllend am Hoftor erwartet habe. Zhang Goldzahn und die Dorfmilizionäre hätten ihn eingekreist, aber nur in angemessener Entfernung, denn es habe sich keiner in seine Nähe getraut. Seine drei Töchter hätten am Tor auf Knien, mit schniefenden Nasen und in Tränen aufgelöst gefleht, fast wie eingeübt habe es geklungen: »Ihr lieben großherzigen Großonkel und Großtanten, ihr lieben großherzigen Großväter und Großmütter, ihr lieben großherzigen großen Brüder und Schwestern! Bitte erbarmt euch unserer Mutter! Bitte fasst euch ein Herz! Unsere Mutter ist herzkrank, sie hat ein rheumatisches Fieber. Wenn sie eine Abtreibung machen muss, wird sie daran sterben. Wenn unsere Mutter tot ist, sind wir Halbwaisen und haben keine Mutter mehr!«

Aber sie, Gugu, habe nur entgegnet: »Regisseur Fausts miese Tricks, Mitleid zu erregen, wirken gut. Ich sehe, wie die ringsum zuschauenden Weiber schon flennen!«

Natürlich seien auch viele sauer gewesen und hätten sich beschwert. Die, die seit dem zweiten Kind eine Spirale tragen mussten, die, die nach dem dritten Kind sterilisiert worden waren, seien wütend über die vierte Schwangerschaft von Fausts Frau gewesen und hätten diese Ungerechtigkeit nicht hinnehmen wollen. Sie sei der Meinung, auch das Wasser in einer Schale müsse immer waagerecht bleiben. Ließe sie Faust das vierte Kind, würden ihr die anderen Weiber bei lebendigem Leibe die Haut abziehen! Wenn Faust allein seinen Willen bekäme, ginge die rote Fahne zwar nur einmal und nur kurz zu Boden, dieser Fehler wöge leicht. Aber wenn die Geburtenplanung dadurch insgesamt keine Fortschritte mache, bekäme sie schwerwiegende Probleme. Deswegen habe sie ihrer Gehilfin und Huang Qiuya einen Wink gegeben und sei auf Faust zugegangen. Ihre kleine Schülerin habe Mut und Vernunft bewiesen und unerschütterlich zu ihr gestanden. Als Faust vorgestürzt sei, habe Kleiner Löwe seine Knüppelschläge mit ihrem eigenen Körper abwehren wollen, aber sie habe sie schnell hinter sich geschoben. Die bourgeoise Intellektuelle Huang Qiuya habe sich wie immer, wenn alles auf Messers Schneide stand, rausgehalten. Sie selbst sei mit großen Schritten auf Faust zugegangen. Die Ausdrücke, mit denen er sie beschimpft habe, seien so hässlich gewesen, dass sie sie vor uns besser nicht wiederholen wolle, sie würden nur unsere Ohren und ihren Mund beschmutzen. Ihr Herz sei an diesem Tag eisenhart gewesen. An Sicherheit oder an Gefahr für den Einzelnen zu denken, sei für sie nicht in Betracht gekommen. Sie habe Faust zugebrüllt: »Nur zu mit deinen Schmähreden! Deine ehrenrührigen Beleidigungen Nutte, läufige Hündin, mordender Unterweltfürst schlucke ich, aber deine Frau wird mit mir kommen müssen.«

»Mit wohin?«, habe Faust geschrien und sie zurück: »Zur Kommunekrankenstation«.

Meine Tante blickte in Fausts grimmiges Gesicht und kam ihm dabei Schritt für Schritt näher. Die drei Mädchen warfen sich ihr laut schluchzend vor die Füße, stießen dabei aber ebenfalls zotige Beschimpfungen aus. Die kleinen ergriffen je einen ihrer Füße, das große stieß ihr den Kopf in den Bauch. Gugu wehrte sich nach Kräften, aber die drei hingen wie Blutegel an ihr. Als sie einen beißenden Schmerz am Knie spürte, war ihr klar, dass eines der Mädchen sie gebissen hatte. Wieder rammte das ältere den Kopf in Gugus Bauch, bis diese strauchelte und hintenüber auf den Rücken fiel. Kleiner Löwe packte das ältere Mädchen am Nacken und stieß es zur Seite, aber es rappelte sich sofort auf, stürzte sich auf die am Boden liegende Gugu und bearbeitete deren Bauch mit seinem Schädel. Dabei war wohl Shizis Schlüsselbund dem Mädchen an die Nase geraten. Die Nase brach, das Blut floss in Strömen. Als das Mädchen sich ins Gesicht fasste, nahm die Tragödie ihren Lauf. Denn Faust, nun doppelt in Rage, stürzte vor und prügelte auf Shizi ein, während Gugu sich pfeilschnell dazwischen warf und mit der Stirn einen Knüppelschlag abwehrte, der ihrer Gehilfin gegolten hatte. Dabei ging sie erneut zu Boden.

Kleiner Löwe schrie gellend: »Was steht ihr da wie die Salzsäulen?« Zhang Goldzahn war sofort mit seinen Milizionären zur Stelle, die Faust auf den Boden drückten und ihm die Arme auf dem Rücken fesselten. Die weiblichen Dorfkader hielten die drei sich wehrenden Mädchen fest. Kleiner Löwe und Huang Quiya öffneten den Arzttornister und verbanden Tantes Platzwunde. Sie verbrauchten einige Rollen Verbandsmull, denn das Blut quoll immer wieder hindurch, so wurde der Verband dicker und dicker. Gugu war schwindlig geworden, ihr summten die Ohren, Sternchen tanzten vor ihren Augen und sie hatte Rotsehen. Alle Gesichter wurden hahnenkammrot, sogar die Bäume und Sträucher sahen aus wie zum Himmel züngelnde Flammen. Qin Strom kam vom Ufer herbei, um zu erfahren, was los war. Als er die Tante erblickte, erstarrte er. Im nächsten Moment stieß er einen gellenden Schrei aus und spuckte. Alle kamen, um ihn zu stützen, aber er stürzte nur wie ein Trunkener vorwärts, hob den mit Tantes Blut beschmierten Knüppel auf und holte damit in Richtung von Fausts Schädel aus.

»Halt!«, brüllte meine Tante, zwang sich aufzustehen und maßregelte Qin Strom: »Warum bleibst du nicht am Anleger beim Boot, sondern kommst hierher? Du machst uns nur Umstände!«

Qin Strom fühlte sich ertappt, schmiss sofort den Knüppel hin und trollte sich.

Tante wehrte ihre Gehilfin ab, die sie stützen wollte, und ging zu Faust hinüber. Während sie ihn mit festem Blick fixierte, hörte man weithin Qin Stroms lautes Weinen. Die Tante würdigte ihn keines Blickes. Fausts Mund entfuhren immer noch üble Beschimpfungen, aber sein Blick ließ jetzt eine ängstliche Vorsicht erkennen. Tante fuhr den Milizionär an, der ihn am Schlafittchen hatte und am Arm festhielt: »Lass ihn los!« Er zögerte. Meine Tante wiederholte: »Lass ihn los! Gib ihm den Knüppel!«

Ein Milizionär reichte den Knüppel weiter und warf ihn zu Faust hinüber. Mit einem eiskalten Lachen sagte meine Tante: »Heb den Knüppel auf!«

Faust murmelte: »Wer sich an meinen Nachkommen vergreifen will, dem werde ich den Garaus machen!«

»Nun ja, wenn du noch Nachkommen bekämst ...«, gab Tante zu bedenken und zeigte auf ihren Kopf: »Schlag zu! Hau drauf!«

Gugu sprang zwei Schritte auf ihn zu und rief gellend: »Heute setzt Wan Herz ihr Leben aufs Spiel! Merk dir, was deine Großtante dir sagt! Nicht mal die Japsen, die mich mit dem Bajonett in die Enge trieben, hab ich gefürchtet. Dich fürchte ich schon gar nicht!«

Zhang Goldzahn trat vor und verpasste Faust eine Backpfeife: »Dass du dich mal schnell bei Leiterin Wan entschuldigst!«

»Ich brauche seine Entschuldigung nicht! Die Politik der Geburtenplanung ist ein großangelegtes Staatsvorhaben. So wahr ich Wan Herz heiße, wenn ich jetzt dafür mein Leben gebe, ist es das wert!«

Kleiner Löwe bat Zhang Goldzahn: »Ruf schnell die Polizei, damit sie jemanden herschicken!«

Goldzahn trat Faust: »Knie dich hin, Mensch! Gib deine Vergehen zu und sag ihr, dass du ihr den Schaden wiedergutmachst.«

»Nicht nötig, nur keine Umstände. Dieser Stockschlag kann dich drei Jahre hinter Gitter bringen! Aber ich habe Verständnis für deine Lage und will dich nicht anzeigen. Zweierlei Möglichkeiten hast du: Die eine, du befiehlst deiner Frau, mir brav auf die Krankenstation zu folgen und eine Abtreibung vornehmen zu lassen. Ich werde es persönlich tun und für ihre Sicherheit sorgen! Die andere, wir gehen gemeinsam zur Polizei und die verfahren dort mit dir strikt nach dem Gesetz. Am besten folgt mir deine Frau jetzt ohne Widerrede. Wenn nicht, dann ...«, Tante zeigte auf Zhang Goldzahn mit seinen Milizionären, »... könnt ihr sie mir rüberschaffen.«

Faust kniete heulend, beide Hände vor dem Gesicht, am Boden: »Lieber Himmel, seit drei Generationen trägt in unserer Familie ein einziger Sohn unseren Familiennamen weiter. Bitte lass ihn jetzt nicht mit mir aussterben! Himmel, öffne deine Pforten! Verhüte dieses Unglück!«

Zur gleichen Zeit war auch seine Frau laut weinend über den Hof herbeigekommen. Die Haare voller Stroh, denn sie hatte sich im Heuhaufen versteckt gehalten: »Leiterin Wan, verschone ihn, ich geh mit dir.«

Tante und Kleiner Löwe verschwanden rechts den Flussdeich entlang. Sie schienen auf dem Weg zum Brigadekaderbüro zu sein, wohl, um sich Hilfe und Rat bei den Kadern zu holen. Währenddessen kroch die Frau – Fausts Ehefrau – aus der Kajüte und sprang über Bord in den Fluss. Qin Strom hechtete sofort hinterher, aber er konnte nicht schwimmen und ging unter. Mit letzter Kraft bekam er den Kopf über Wasser, aber nur, um gleich wieder unterzugehen. Huang Qiuya kreischte in höchsten Tönen: »Zu Hilfe! Zu Hilfe!«

Wir sahen von unserem Baum aus, wie die Tante und Kleiner Löwe sofort umkehrten und über den Deich zum Fluss zurückrannten. Wang Leber machte nun ebenfalls einen Hechtsprung ins Wasser, elegant wie ein Fisch.

Wir waren am Fluss großgeworden und hatten schwimmen und laufen gleichzeitig gelernt. Der knorrige Weidenbaum hatte uns immer als Sprungbrett gedient, als wäre er nur zu diesem Zwecke gewachsen.

Ich hoffte so sehr, dass Kleiner Löwe Lebers eleganten Kopfsprung gesehen hatte. Ich sprang gleich nach ihm ins Wasser. Li Hand folgte vom Ufer aus. Wir wollten erst einmal die Schwangere retten, aber sie war nirgends zu sehen. Qin Strom, der arme Wurm, wippte vor mir im Fluss auf und ab, wie ein Schmalzkuchen im siedenden Öl. Koch Wang schrie aus Leibeskräften: »Ihr müsst ihn am Schopf zu fassen kriegen! Lasst ihn nicht mit den Händen an euch ran!«

Wang Leber schwamm hinter ihn, streckte die Hand aus und packte seinen Schopf.

»Was für Haar! Superhaare! Wie eine Pferdemähne!«, schwärmte er uns später vor, nachdem alles vorüber war.

Leber konnte von uns Jungen am besten schwimmen. Er schaffte es, von einem zum anderen Ufer zu schwimmen, ohne dass die Klamotten, die er über den Kopf hielt, auch nur einen Tropfen Wasser abbekamen. Und nun hatte er die Chance bekommen, seiner angebeteten Traumfrau seine Schwimmkünste zu zeigen! Li Hand und ich eskortierten ihn, einer zu seiner Linken, der andere zu seiner Rechten, bis er Qin Strom glücklich aus dem Wasser ans Ufer gezogen hatte.

Schon waren Tante und Kleiner Löwe herbeigerannt. Meine Tante grollte: »Wie kommt der Blödkopf dazu, in den Fluss zu springen?«

Qin Strom krümmte sich bäuchlings am Ufer und erbrach sich in den Fluss.

Huang Qiuya weinte: »Als Fausts Frau sich in den Fluss warf, sprang er hinterher, um sie zu retten.«

Gugu wurde nun richtig böse, ihr Blick schweifte suchend über den Fluss: »Wo ist sie?«

»Sie hat sich ins Wasser gestürzt und war nicht mehr zu sehen.«

»Habe ich dir nicht befohlen, dass du sie gut bewachen sollst? Ich kann dir eins sagen«, Gugu sprang wütend an Bord, »du bist so gut wie tot. Denn du wirst es zu verantworten haben! Wir legen ab! Starte sofort den Motor!«

Kleiner Löwe mühte sich mit Händen und Füßen ab, kriegte den Motor aber nicht ans Laufen.

Gugu brüllte: »Qin Strom! Du sollst sofort den Motor starten!«

Schwankend und zitternd erhob er sich, beugte sich aber gleich wieder vornüber, um Wasser zu erbrechen, und ging in die Knie.

»Renner! Leber! Kommt schnell! Helft mir Menschenleben retten!« Die Tante schrie aus Leibeskräften: »Ich belohne euch reichlich!«

Wir ließen den Blick übers Wasser schweifen und suchten mit den Augen gründlich die Oberfläche ab. Endlose Weiten schmutzig brodelnden Wassers, auf dem Schaumhaufen, Schilf und Wasserpflanzen trieben. Da zeigte Li Hand auf das stille Wasser am Uferrand. Dort schaukelte eine Melonenschale langsam vorwärts: »Schau, dort!«

Die Melonenschale trieb mit der Strömung und hob sich ab und zu über die Wasseroberfläche, wobei sie den Blick auf den Hals und das wirre Haar einer Frau freigab.

Gugu, die es sich an der Bordwand bequem gemacht hatte, pfiff durch die Zähne und begann zu lachen.

»Die, die wir vor dem Ertrinken retten wollten, haben wir gefunden! Keine Eile!«

»Kleiner Löwe, kannst du dich über Wasser halten?«

Die schüttelte den Kopf.

»Um berufsmäßig für die Geburtenplanung im Dienst zu sein, genügt es nicht, dass man Prügel einstecken kann, man muss auch noch schwimmen können«, lachte die Tante und zeigte mit dem Finger auf die im Wasser schaukelnde Wassermelonenschale. »Sie hat sich die Tricks gemerkt, mit denen unsere Guerilla damals die Japsen überwältigt hat!«

Qin Strom machte den Rücken krumm und kletterte nun an Bord. Er triefte, sein in der Mitte gescheiteltes Haar klebte am Kopf, seine Lippen waren dunkelblau, und er war kreidebleich.

»Fahr los!«, wies ihn meine Tante an.

Qin Strom betätigte die Starterkurbel und legte sie dann wieder zur Seite. Ihm war wohl schwindlig geworden. Er schwankte, würgte und erbrach Schaum.

Wir machten für ihn das Tau am Steg los. Tante rief uns zu: »Kommt an Bord!«

Ich konnte Leber die Ergriffenheit nachfühlen, mit der er an Bord auf Tuchfühlung mit Shizi saß. Ich beobachtete, wie seine Hände, die er auf den Knien abgelegt hatte, nervös zitterten. Weil sein Hemd ihm nass auf der Haut klebte, sah ich deutlich sein aufgeregt pochendes Herz, wie das eines Wildkaninchens, das man in einen Käfig gesperrt hat und das sich gegen die Gitterstäbe drückt. Er saß stocksteif und wagte nicht, sich zu rühren. Die füllige Shizi hatte keinen Schimmer. Sie hatte nur Augen für die auf dem Wasser schaukelnde Melonenschale.

Qin Strom lenkte den Bug des Bootes vom Ufer weg und fuhr im ruhigen Wasser parallel zur Uferböschung weiter. Der Außenborder tuckerte gemütlich. Li Hand stand neben ihm und schaute ihm zu. Wie sein Lehrjunge sah er aus.

»Fahr langsam, noch langsamer! Ja!«, wies Gugu ihn an, als uns nur noch fünf Meter von der Wassermelonenschale trennten. Er drosselte den Motor so weit, dass er kurz vor dem Absaufen war. Ich sah den unter der Wassermelonenschale versteckten Schädel der Schwangeren deutlich.

»Wahrlich eine gute Schwimmerin, dass sie das im fünften Monat noch so vortrefflich kann.«

Meine Tante befahl, die Lautsprecherdurchsage in der Kajüte anzustellen. Kleiner Löwe erhob sich sofort und verschwand unter Deck. Der Platz neben Leber wurde frei. Gähnend leer war es neben ihm geworden. Sein Gesicht wirkte bekümmert und verloren. Woran er wohl gerade dachte? Ob Kleiner Löwe seinen überschwänglichen Liebesbrief wohl schon bekommen hatte?

Meine Gedanken schweiften noch ab, als die Lautsprecher losdröhnten. Obwohl ich wusste, dass die Ansage jeden Augenblick losgehen würde, blieb mir fast das Herz stehen.

Unser großartiger Führer, der Vorsitzende Mao heißt uns zu beherzigen, dass das Bevölkerungswachstum in jedem Fall kontrolliert und beschränkt werden muss.

Als die Lautsprecher zu dröhnen begannen, hatte die Schwangere die Melonenschale über ihrem Kopf gelüftet und lugte aus dem trüben Wasser heraus. Sie schaute panisch nach links und rechts, um dann mit einer vehementen Bewegung unterzutauchen.

Gugu wies Qin Strom an, den Motor noch weiter zu drosseln, und grinste: »Wollen mal sehen, wie gut diese Frau aus Dongfeng schwimmen kann!«

Kleiner Löwe krabbelte aus der Kajüte, drängte sich vorn an den Bug und hielt besorgt Ausschau. Ihr pummeliges Figürchen und Leber lehnten nun wieder aneinander. Ich spürte, wie ich neidisch wurde. Wie eng presste sich dieser dürre Spargel da an die dralle, mollige Shizi! Ich stellte mir vor, wie Leber ihr warmes, weiches Fleisch spürte, wie er mit ihr ... Mein Herz klopfte wie wild, als ich mir das vorstellte. Wie ich mich für meine schmutzigen Phantasien schämte! Pfui! Ich blickte schnell woanders hin und ließ meine Augen keine Sekunde mehr auf ihren Körpern verweilen. Die Hände vergrub ich in meinen Hosentaschen und ich kniff mir in die Oberschenkel, dass es wehtat.

»Sie ist aufgetaucht! Sie streckt den Kopf aus dem Wasser!«, schrie Kleiner Löwe aufgeregt.

Die Schwangere war in ungefähr fünfzig Metern Entfernung vor unserem Boot aufgetaucht. Noch während ihr Körper aus dem Wasser hochkam, blickte sie um sich. Dann schwamm sie in Windeseile mit ausladenden Bewegungen flussabwärts.

Gugu gab Qin Strom einen Wink. Der Dieselmotor heulte auf, mit erhöhter Geschwindigkeit fuhr das Boot zügig auf die Schwangere zu.

Meine Tante kramte ein zerknautschtes Päckchen Zigaretten aus der Hosentasche, öffnete die Packung, holte sich eine Zigarette heraus und steckte sie in den Mund. Dann fischte sie ein Feuerzeug hervor, drehte am Reibrad, bis die Flamme brannte, und steckte sie sich mit blinzelnden Augen an, um dann geräuschvoll weißen Qualm zu paffen. Es kam Wind über dem Fluss auf, schmutzige Wellen wogten.

»Wetten, dass du’s nicht schaffst, einem 12-PS-Motorboot davonzuschwimmen? Wir werden ja sehen!«

Die Hochfrequenzlautsprecher übertrugen neue Volkslieder aus Hunan zum Lobe des Vorsitzenden Mao.

In neun Flussbiegungen fließt der Liuyang fünfzig Kilometer weit, bis er in den Xiang mündet. Und wer stammt vom Liuyang? Unser Führer ...

Tante schnippte die Kippe in den Fluss. Eine Möwe erwischte sie im Sturzflug und schwang sich damit wieder in den Himmel hinauf.

Aus den Lautsprechern ertönte ein Krächzen, die Schallplatte war zu Ende. Kleiner Löwe blickte zu Tante hinüber, die sagte: »Es reicht.« Dann brüllte sie los: »Geng Xiulian, schwimmst du bis ins Ostchinesische Meer, oder was?«

Die Frau antwortete nicht, sie schwamm unter Aufbietung all ihrer Kräfte weiter, aber sie war schon langsamer geworden.

»Ich hoffe, dir ist klar, dass du jetzt brav an Bord kommen musst, damit wir mit dir zur Krankenstation fahren und die OP machen können.«

»Starrköpfigkeit wird dir nicht helfen! Wir können dir auch«, rief Kleiner Löwe wutschnaubend, »bis ins Ostchinesische Meer hinterherfahren.«

Die Frau begann nun laut zu weinen, ihre Schwimmbewegungen wurden noch langsamer. Zug um Zug.

»Na, was haben wir denn da? Machst du schlapp?«, lachte Kleiner Löwe sie aus: »Schwimm weiter, wenn du kannst! Eisvögel beherrschen das Stoßtauchen und Frösche klatschen, platsch, ins Wasser ...«

Jetzt versank die Frau, und in der Luft roch es nach Blut. Tante warf einen Blick auf die Wasseroberfläche und schrie: »Ach du Scheiße! Mach schon, überhol sie!«, kommandierte sie. Dann befahl sie uns: »Springt ins Wasser! Schnappt sie euch!«

Wang Leber sprang ins Wasser, Li Hand und ich sprangen hinter ihm her. Qin Strom drehte den Bug schräg und fuhr seitlich an der Frau vorbei. Leber und ich näherten uns ihr, ich streckte eine Hand aus, packte ihren linken Arm und zog ihn hoch, aber ihr rechter Arm kam wie der Fangarm einer Krake, umschlang mich und zog mich in die Tiefe. Ich schrie, schluckte Wasser, geriet in Panik. Es war Leber, der ihr Haar zu fassen bekam, zu einem Strang drehte und hochzerrte, so dass Li Hand ihre Schultern mit Schwung nach oben ziehen konnte, bis sie an die Wasseroberfläche kam. Mir wurde schwarz vor Augen, ich bekam einen Hustenanfall. Das Boot war vor uns. Qin Strom hatte den Motor gedrosselt, ich stieß mit der Schulter gegen das Boot, der Körper der Frau auch. Tante und die anderen an Bord streckten uns die Hände entgegen, ergriffen den Haarschopf der Frau, zerrten an ihren Armen, wir drückten von unten gegen ihren Hintern, pressten ihre Beine hoch. Es war grauenvoll, aber mit vereinten Kräften hatten wir sie schließlich ins Boot geschafft.

Wir alle hatten das Blut an ihren Beinen gesehen.

»Kommt nicht an Bord! Ihr schwimmt besser selbst ans Ufer.« Dann befahl Gugu Qin Strom brandeilig: »Schnell, wende das Boot, schnell!«

Obwohl sie alles taten und die besten medizinischen Mittel anwandten, war Geng Xiulian tot und wurde nicht wieder lebendig.

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