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Ich glaubte damals, Gugu wäre nur mit unseren Hochzeitsvorbereitungen beschäftigt und hätte Wang Galle längst vergessen, glaubte, sie hätte doch Mitleid bekommen und meine Hochzeitsangelegenheiten absichtlich zum Anlass genommen, die Sache auf sich beruhen zu lassen, damit Galle in der Zwischenzeit ihr Kind bekommen konnte.

Später erst begriff ich, dass die Tante nicht nur pflichtbewusst, sondern regelrecht pflichtbesessen war. Sie machte ihren Job nicht nur nach Treu und Glauben gut, sondern befand sich im Wahn der Pflichterfüllung. Sie war nicht nur mutig. Sie war Strategin und Machtmensch, der bei allem die Fäden stets in der Hand behielt.

Man soll ihre edlen Absichten nicht anzweifeln, ihr nichts unterstellen, als sie mich mit Shizi verkuppelte. Sie glaubte wirklich, dass wir beiden gut zusammenpassten. Aber als sie überall laut hinausposaunte, dass sie jetzt unsere Hochzeit vorbereite, als sie Chen Nase und seine kleine Tochter Ohr aus dem Polizeiarrest freiließ, als sie verkünden ließ, dass die Dörfler nun nicht mehr verpflichtet seien, nach Wang Galle auf die Suche zu gehen, tat sie es in Wirklichkeit, um Galle in Sicherheit zu wiegen und deren Familie zu täuschen, damit sie weniger wachsam wäre.

Sie hüllte ihre wahren Absichten in dichten Nebel. Dabei schoss sie mit einem Bogen zwei Pfeile zugleich ab und schlug zwei Fliegen mit einer Klappe, denn sie hatte sich zum Ziel gesetzt: Dass ihr geliebtes Lehrmädchen, die ihr wie eine eigene Tochter war, endlich bei ihrem Neffen Heim, Herd und Familie fand, während sie Wang Galle aufspüren, hinterrücks verhaften und den illegalen Bastard in deren Leib vernichten könnte, bevor er noch »durchs Ofenrohr« rutschte. – So eine Ausdrucksweise erscheint unpassend, um Gugus Arbeit zu beschreiben. Aber mir fallen keine passenderen Wörter dafür ein.

Am letzten Vormittag vor der Hochzeit ging ich zum Grab meiner Mutter und verbrannte dort Freudengeld für sie. Es ist ein besonderes Totengeld nur für solche Anlässe, so ist es bei uns seit alters her Brauch. Wahrscheinlich tut man das, um so die Seele der Verblichenen von dem freudigen Ereignis in Kenntnis zu setzen und sie zur Hochzeit einzuladen.

Als ich das Totengeld angezündet hatte, wirbelte plötzlich ein leichter Wind die Asche auf. Sie wirbelte vor dem Grab meiner Mutter in der Luft. Ich weiß ja, dass man so etwas physikalisch erklären kann, aber ich war trotzdem entsetzt. Im Geiste sah ich die Gestalt meiner Mutter, wie sie zittrig, schwankend auf mich zukam, im Ohr klangen mir wieder ihre weisen, schlichten und dabei so tiefsinnigen Worte nach. Mir liefen die Tränen in Strömen die Wangen hinunter. Wenn sie mir jetzt noch einen Rat geben könnte? Welche Meinung hätte sie zu dieser Heirat?

Der kleine Aschewirbel kreiste eine Weile über dem Grab meiner Mutter. Dann änderte er plötzlich die Richtung und flog zu Renmeis frisch begrüntem Grab hinüber. Ein Pirol ließ seinen traurigen Ruf vom Ast eines Pfirsichbaums ertönen. Mir wollte es das Herz zerreißen.

In unserem großen Pfirsichhain waren gerade die Früchte reif, Mutter und Renmei hatten wir ja dort beerdigt. Ich pflückte zwei große, rosenrote und spitz nach oben zulaufende Pfirsiche vom Baum und legte einen meiner Mutter aufs Grab, den anderen trug ich zum Grab meiner verstorbenen Frau Renmei.

Bevor ich zu den Gräbern gegangen war, hatte mir Vater noch aufgetragen: »Wenn du das Totengeld verbrennst, vergiss nicht, auch vor Renmeis Grab ein wenig zu verbrennen.«

»Renmei, ich bin noch nicht dazu gekommen«, begann ich im Geiste zu beten. »Renmei, verzeih mir, ich werde dich niemals vergessen, nie werde ich die Wohltaten vergessen, die ich durch dich erfahren habe. Kleiner Löwe ist bestimmt ein guter Mensch. Sie wird lieb zu unserer kleinen Yanyan sein. Wenn nicht, werde ich nicht mit ihr zusammenbleiben. Das verspreche ich dir.«

Ich verbrannte Totengeld vor ihrem Grab und kletterte dann hinauf, um ein neues Schutz-Papier13 anzubringen.

Ich betete zu ihr: »Renmei, ich weiß zwar, dass es dich nicht erfreut, aber ich lade dich von ganzem Herzen ein, mein Gast zu sein. Bitte komm mit Mutter zusammen nach Hause und sei mein Gast auf meiner Hochzeit. Ich werde im Wohnzimmer auf dem Hausaltar bei den Ahnentafeln vier frisch gedämpfte Hefenudeln bereitstellen und etliche Gemüse und auch von den süchtig machenden Schokoladenschnapsbohnen, die du immer so gerne mochtest, du weißt, die, die zuerst wie Medizin schmecken, dann aber nach Schokolade. Den Toten das Beste! Ihr sollt fröhlich speisen.«

Auf dem Rückweg nahm ich den Weg durch die Plantage am Feldrain entlang. Das Gras zu beiden Seiten des Rains war kniehoch gewachsen, und das Regenwasser in den Bewässerungsgräben stand hoch bis an den Rand und gurgelte schnell dahin. Die Pfirsichplantage erstreckte sich nach Süden bis hin zum Moshui-Fluss, nach Norden bis an den Kiaolai. Die Obstbauern waren dabei, Pfirsiche zu pflücken. In der Ferne sah man auf dem breiten Weg ein paar Dreirad-Trecker herumsausen.

Wang Leber stand plötzlich vor mir, als wäre er eben aus dem Erdboden, aus irgendeiner Erdader hervorgeschnellt, und versperrte mir den Weg. Er trug, wie mir gleich auffiel, eine noch ziemlich neue Uniform, die ich ihm im Jahr zuvor geschenkt hatte. Auch hatte er sich einen frischen Fünf-Millimeter-Bürstenhaarschnitt zugelegt und war tipp topp rasiert. Er war immer noch schmächtig, sah aber angenehm wach und energiegeladen aus. Alles Lasche und Niedergeschlagene von früher war wie weggepustet. Wie beruhigend war es für mich, ihn so zu sehen. Dennoch spürte ich, wie mir das Herz in die Hose sackte, so peinlich war es mir, ihm zu begegnen.

»Leber, du, im Grunde ...«

Leber winkte lachend ab und zeigte mir seine zwei Reihen gelber Zähne: »Renner, du musst mir nichts erklären. Ich kann es nachvollziehen. Ich verstehe es, weißt du? Ich wünsche euch beiden Glück.«

»Mensch, Freund ...!« Meine Ohren sausten, gequält streckte ich den Arm vor und versuchte, ihm die Hand zu schütteln.

Er wich zurück: »Du, ich erwache gerade aus einem langen Traum. Meine sogenannte Liebe ist eine schwere Krankheit gewesen. Jetzt werde ich langsam gesund.«

»Das ist ja prima. Ich denke, dass es zwischen euch auch nicht gepasst hätte. Wenn du dich zusammenreißt, kannst du immer noch Großes bewegen. Dann kannst du dir unter noch viel feineren Mädchen das beste aussuchen.«

»Ich bin wertlos geworden, Ausschuss sozusagen. Gekommen bin ich, dich um Verzeihung zu bitten. Hast du nicht bemerkt, dass vor Renmeis Grab Asche liegt? Ich verbrenne dort immer Totengeld für sie. Weil ich sie verraten habe, wurde Backe in Handschellen abgeführt und kam ins Gefängnis. Deswegen mussten sie und das Kind unter ihrem Herzen sterben. Du, ich bin ein Mörder.«

»Das ist nicht dir anzulasten!«, entgegnete ich sofort.

»Renner, ich habe auch lange Zeit jede Menge Rechtfertigungen gesucht, um mich zu beruhigen. Solchen Quatsch wie: Jemanden wegen verbotener Schwangerschaften anzuzeigen, ist eine Bürgerpflicht.

Oder noch schlimmer: Es ist richtig, die gerechten Ziele der Politik über die der eigenen Familie stellen.

Aber trotzdem lässt es mir keine Ruhe. Ich hatte auch keine hehren Ziele, die mich dazu bewogen hätten. Es waren niedere Beweggründe, heimliche Begierden trieben mich, ich wollte Shizi gefallen. Seitdem leide ich unter einer schweren Schlafstörung. Immer wenn ich die Augen schließe, sehe ich Renmei, die mir mit ihren zwei bluttriefenden Händen das Herz aus dem Leibe reißen will ... Jedes Mal bekomme ich mehr Angst, dass ich nur noch wenige Tage zu leben habe.«

»Leber, du grübelst zu viel. Du hast doch nichts Böses getan. Sei nicht abergläubisch. Sie ist bestimmt kein Rachegeist geworden. Wenn ein Mensch stirbt, ist es wie das Davonfliegen von Asche, als ob sich Qualm auflöst. Auch wenn die Totengeister bei den Menschen bleiben, wird Renmei bestimmt Ruhe geben. Sie war ein guter Mensch mit einem unschuldigen Herzen.«

»Das ist nur zu wahr! Aber gerade weil sie so ein guter Mensch war, habe ich ein unerträglich schlechtes Gewissen. Renner, du brauchst mich nicht zu bemitleiden, du musst mir nicht verzeihen. Ich habe heute hier auf dich gewartet, weil ich dich um etwas bitten möchte.«

»Schieß los, Freund.«

»Bitte sag Shizi, sie soll deiner Gugu Folgendes erzählen: Galle kam am bewussten Tag direkt zu mir nach Hause gelaufen, nachdem sie aus dem Brunnen herausgeklettert war. Ihr Anblick hat mich gerührt, jeden Stein hätte er erweicht, und sie ist schließlich meine leibliche Schwester. Wie sie da ankam, so klein und im siebten Monat schwanger, und mich angefleht hat, ihr Leben und das ihres Kindes zu retten. Ich habe sie in einen Jauchetragkorb gesteckt, mit einer dicken Lage Stroh zugedeckt und dann noch einen Sack drübergelegt. Den Jauchetragkorb habe ich auf dem Gepäckträger meines Fahrrads festgebunden und bin zum Dorf hinausgefahren. Am Ortseingang bin ich auf Qin Strom gestoßen, der mich gleich unter die Lupe genommen hat. Qin Strom wird von der Tante als Spion eingesetzt, der die Leute verpfeifen soll. – Deine Tante ist wirklich in der falschen Epoche geboren und macht den falschen Job! Der Krieg wäre für sie ideal gewesen, und ihre ideale Aufgabe die einer Generalin, die ein Heer befehligt und gegen den Feind ins Feld führt.

Qin Strom war der Letzte, dem ich begegnen wollte. Weil er deiner Tante den Lakaien macht und wie ein abgerichteter Hund alles für sie tut. So wie ich für Shizi jeden verpfiffen hab, ohne zu überlegen, so tut er dies für deine Tante.

Er hat mich aufgehalten, hat wissen wollen, wo ich hinwollte.

Wir beide haben so oft gemeinsam vor dem Krankenhaus gewartet, aber dennoch habe ich niemals ein Wort mit ihm gewechselt. Trotzdem weiß ich, dass er mich in seinem Herzen als Freund betrachtet. Wir sind Seelenverwandte, die mit der gleichen Krankheit geschlagen sind. Ich habe ihm mal geholfen, als er vor dem Gasthaus des Genossenschaftsladens von den Bettlern Gao Men und Lu Huahua aufs Korn genommen wurde und Hiebe einstecken musste. Du kennst ja die vier berühmten Dorftrottel Gao, Lu, Qin und Wang, die in Nordost-Gaomi die Straßen belagern, immer einen Haufen Gaffer anziehen und sich mit ihrem Zirkus zum Gespött der Leute machen. Mit Qin meine ich Qin Strom und mit Wang mich selbst. Renner, mein alter Freund, du kannst dir nicht vorstellen, welche Freiheit man gewinnt, wenn die Leute einen für verrückt halten, man es aber gar nicht ist!

Ich bin also vom Fahrrad abgesprungen und habe Qin Strom fest in die Augen geschaut.

›Du bist bestimmt auf dem Weg zum Markt und willst ein Schwein verkaufen.‹

›Richtig. Ich fahre ein Schwein verkaufen.‹

›Im Grunde hab ich ja gar nichts gesehen.‹

Er hat mich laufen lassen. Zwei Narren, die sich auch ohne Worte verstanden haben.

Bitte, Renner, sag Shizi, dass ich meine kleine Schwester auf dem Gepäckträger bis nach Kiautschou gefahren habe. Dort habe ich sie in den Überlandbus nach Yantai gesteckt. Dort sollte sie ein Billet für die Schiffspassage nach Dalian kaufen und von dort den Zug weiter nach Harbin nehmen.

Du weißt ja, dass Chen Nases Mutter aus Harbin stammt. Er hat dort noch Verwandte. Galle hat genügend Geld bei sich, und ihr wisst ja auch, dass sie sehr klug und umsichtig ist. Sie hatte es schon lange geplant. Inzwischen sind gut zwei Wochen vergangen. Galle befindet sich längst an ihrem Ziel.

Deine Tante streckt ihre Hand zwar nach allem aus, aber den Himmel erreicht sie nicht. In unserer Kommune mag sie das Hausrecht haben und tun und lassen können, was ihr beliebt, in anderen Regierungsbezirken und anderen Provinzen ist das jedoch nicht der Fall.

Galle ist bereits im siebten Monat schwanger. Bis deine Tante sie gefunden hat, hat sie ihr Kind längst geboren. Deswegen richte ihr über Shizi aus, sie soll doch endlich Ruhe geben und die Sache als erledigt betrachten.«

»Wenn es so ist, warum soll ich es ihr dann überhaupt sagen?«, fragte ich.

»Damit will ich mich retten«, gab Wang Leber zur Antwort. »Das ist das Einzige, worum ich dich bitte.«

Ich sagte: »Na gut, ich mach’s.«

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