Fünfter Aufzug
Nachts zu später Stunde. Das Licht fällt schräg auf die Bühne, die golden leuchtet.
An einer Ecke des Niangniang-Tempels, am Fuße einer mächtigen Säule, sieht man Chen Nase zusammengekrümmt mit seinem Hund sitzen (den Hund kann ein Mensch spielen). Vor Nase steht ein verbeulter Blechnapf, in dem sich ein paar Geldscheine und einige Münzen befinden. Nases Krücken stehen neben ihm.
Chen Augenbraue trägt den üblichen langen schwarzen Mantel, ihr Gesicht ist schwarz verhüllt, wie ein Spukgespenst erscheint sie auf der Bühne.
Zwei Männer in schwarzer Kleidung und mit schwarz verhüllten Gesichtern folgen ihr auf die Bühne.
AUGENBRAUE: (wehklagend)
Kind ... mein Kleines ... wo bist du ... mein Kind ... wo bist du ...
(die beiden schwarz vermummten Männer kommen auf Augenbraue zu)
AUGENBRAUE: Wer seid ihr? Warum habt ihr euch wie ich ganz schwarz vermummt? O, ich verstehe, ihr gehört wie ich zu den Schwerbrandopfern von Dongli.
VERMUMMTER 1: Richtig, wir gehören auch dazu.
AUGENBRAUE: (mit wachem, klarem Geist)
Das kann nicht sein. Die Opfer des Brandes in Dongli waren ausschließlich Frauen, ihr aber seid Männer. Da besteht kein Zweifel.
VERMUMMTER 2: Wir sind Opfer eines Brandes in einer anderen Fabrik.
AUGENBRAUE: Wie ich euch bedauere!
VERMUMMTER 1: Richtig, wir sind sehr zu bedauern.
AUGENBRAUE: Ihr habt so zu leiden ...
VERMUMMTER 2: Richtig, wir haben sehr zu leiden.
AUGENBRAUE: Habt ihr eine Hauttransplantation bekommen?
VERMUMMTER 1: (versteht nicht)
Transplantation? Welche Haut?
AUGENBRAUE: Von deinem Hintern, deinem Oberschenkel, von den nicht brandverletzten Stellen wird gute Haut abgeschält und auf die verbrannten Stellen übertragen.
Habt ihr etwa keine Transplantation bekommen?
VERMUMMTER 2: Doch, die Haut von unseren Pobacken hat der Arzt runtergeschält und sie auf unser Gesicht gepflanzt.
AUGENBRAUE: Haben sie euch Augenbrauen gemacht?
VERMUMMTER 1: Haben sie.
AUGENBRAUE: Haben sie euer Kopfhaar oder euer Schamhaar benutzt?
VERMUMMTER 2: Was sagst du da? Schamhaare können auch zu Augenbrauen werden?
AUGENBRAUE: Wenn die Kopfhaut restlos verbrannt ist, dann werden die Schamhaare benutzt. Schamhaare sind besser als gar keine Haare. Wenn auch die Schamhaare komplett weg sind, dann muss es ohne gehen. Dann bleibt das Gesicht nackt wie bei einem Frosch.
VERMUMMTER 1: Richtig, wir haben überhaupt keine Haare. Wir sind splitternackt und sehen aus wie Frösche.
AUGENBRAUE: Habt ihr euch mal im Spiegel angeschaut?
VERMUMMTER 2: Wir schauen nie in den Spiegel.
AUGENBRAUE: Wir Verbrennungskranken fürchten und hassen nichts mehr als Spiegel.
VERMUMMTER 1: Richtig. Wir zertrümmern Spiegel.
AUGENBRAUE: Es ist doch zwecklos, dass ihr Spiegel zerstört, aber die Schaufenster der Geschäfte ganz lasst, die Marmorwände nicht anrührt, auch nicht das Wasser und die Augen, in denen wir uns ebenso spiegeln. Die Leute schreien entsetzt auf, wenn sie uns sehen, laufen fort. Die Kinder weinen vor Schreck. Sie beschimpfen uns als Dämonen, Hexen. In ihren Augen erblicken wir unser Spiegelbild. Die beste Methode ist immer noch, das eigene Gesicht zu verstecken.
VERMUMMTER 2: Richtig! Deswegen haben wir unsere Gesichter schwarz verschleiert.
AUGENBRAUE: Habt ihr daran gedacht, euch umzubringen?
VERMUMMTER 2: Wir ...
AUGENBRAUE: Soviel ich weiß, haben sich von uns Mädchen, die als Schwerbrandopfer überlebten, schon fünf das Leben genommen. Nachdem sie in den Spiegel geschaut hatten, haben sie ihrem Leben ein Ende gemacht.
VERMUMMTER 1: Daran sind die Spiegel schuld.
VERMUMMTER 2: Deswegen zertrümmern wir Spiegel.
AUGENBRAUE: Ich wollte mich ursprünglich auch umbringen, aber dann wollte ich doch am Leben bleiben.
VERMUMMTER 1: Am Leben bleiben ist besser. Ein guter Tod wiegt ein qualvolles Leben nicht auf.
AUGENBRAUE: Seit ich schwanger war, seit ich spürte, dass da ein kleines Wesen in meinem Bauch rumorte, seit diesem Augenblick wollte ich leben und nicht sterben. Ich fühlte mich wie eine hässliche Hülle, aus der ein hübsches Leben schlüpfen sollte. Danach würde ich als leere Puppenhülse zurückbleiben.
VERMUMMTER 2: Das hast du schön gesagt.
AUGENBRAUE: Als ich mein Kind geboren hatte, war ich wider Erwarten keine leere Puppe geblieben und nicht von selbst langsam abgestorben. Ich war keineswegs vertrocknet und auch nicht verschrumpelt. Ich bin saftig geworden wie ein Pfirsich, die stramme Haut auf meinem Gesicht fühlt sich nun fast zart an. Meine Brüste laufen von Milch über ... Die Schwangerschaft hat mir ein neues Leben geschenkt. Aber sie haben mir mein Kind weggenommen.
VERMUMMTER 1: Komm mit uns. Wir wissen, wo dein Kind steckt.
AUGENBRAUE: Ihr wisst, wo mein Kleines ist?
VERMUMMTER 2: Wir sind hier, weil wir dich zu deinem Kind bringen wollen, damit du es sehen kannst.
AUGENBRAUE: (aufgeregt)
Dem Himmel sei Dank! Bringt mich schnell zu ihm! Schnell!
Die schwarz Vermummten ergreifen sie, haken sie fest von beiden Seiten unter. Chen Nases Hund springt pfeilschnell den schwarz vermummten Mann Nr. 1 an und beißt ihn ins linke Bein. Nase springt auf und hüpft auf beiden Krücken herbei. Auf eine Krücke gestützt, versetzt er mit der anderen Hand dem Vermummten Nr. 2 einen Stoß und rammt ihn wiederholt. Die beiden Vermummten reißen sich vom Hund und von Nase los und weichen auf eine Seite der Bühne zurück. In ihrer Hand blitzt ein Dolch oder eine ähnlich scharfe Waffe auf. Nase und sein Hund stehen nebeneinander. Augenbraue befindet sich vorn auf der Bühne. Die beiden Maskierten, Nase und Augenbraue bilden so ein Dreieck.
CHEN NASE: (wütend brüllend)
Lasst meine Tochter los!
VERMUMMTER 1: Du Halbtoter, Säufer, Pennbruder, du Bettler, du wagst es, jemanden deine Tochter zu nennen?
VERMUMMTER 2: Ruf sie mal beim Namen, deine Tochter. Wollen mal sehen, ob sie dich überhaupt kennt.
CHEN NASE: Augenbraue, mein armes, armes Kind.
AUGENBRAUE: (kalt)
Hier liegt eine Verwechslung vor. Du hast dich getäuscht.
CHEN NASE: (zerknirscht)
Augenbraue, ich weiß, dass du mich hasst. Ich habe dich und deine Schwester um Verzeihung zu bitten. Auch deine Mutter. Ich habe euer Leben zerstört, ich bin ein Verbrecher, ein Stück Müll, jemand, der lebt, aber nicht leben will. Ich bin wie ein Toter, der noch am Leben ist.
VERMUMMTER 1: Das nennst du deine Verbrechen bereuen? Gibt es hier in der Nähe eine Kirche?
VERMUMMTER 2: Rechts hinunter den Fluss entlang kommt nach zehn Kilometern eine seit kurzem fertiggestellte katholische Kirche.
CHEN NASE: Augenbraue, du bist ihnen ins Netz gegangen. Dein Vater kennt sie. Diese Betrüger sind alte Freunde deines Vaters. Ich werde Gerechtigkeit für dich einfordern!
VERMUMMTER 1: Alter, geh aus dem Weg und halt den Mund.
VERMUMMTER 2: Mädchen, komm mit uns, wir versprechen dir, dass du dein Kind sehen wirst.
Chen Augenbraue will zu den Vermummten gehen, aber Nase und sein Hund halten sie auf.
AUGENBRAUE: (wutentbrannt)
Wer bist du, dass du es wagst, dich mir in den Weg zu stellen? Ich will jetzt zu meinem Kind, ist dir das klar? Mein Kind hat seit seiner Geburt nicht einen einzigen Schluck Milch zu trinken bekommen. Wenn ich ihm jetzt nicht zu trinken gebe, wird es verhungern, verstehst du das nicht?
CHEN NASE: Augenbraue, ich kann verstehen, dass du mich hasst. Dass du mich nicht mehr als deinen Vater anerkennst, kann ich nachvollziehen. Aber geh nicht mit ihnen mit. Sie haben dein Kind verkauft. Wenn du mit ihnen gehst, werden sie dich im Fluss ertränken, sie werden behaupten, dass du in den Fluss gesprungen bist und dich umgebracht hast. So etwas machen sie nicht zum ersten Mal.
VERMUMMTER 1: Alter, du betreibst hier Rufmord! Du scheinst wirklich genug vom Leben zu haben, wie?
VERMUMMTER 2: Was faselst du? In unserer Gesellschaft gibt es solche verächtlichen Vorfälle, wie du sie schilderst, gar nicht: Meuchelmord und andere grausige Bluttaten.
VERMUMMTER 1: Der hat zu viele Filme in den kleinen Klitschen an der Straße gesehen.
VERMUMMTER 2: Wahrscheinlich hat er Halluzinationen, ist nicht ganz richtig im Kopf.
VERMUMMTER 1: Der verwechselt Sozialismus und Kapitalismus.
VERMUMMTER 2: Richtig! Der hält die Guten für die Bösen!
VERMUMMTER 1: Richtig! Großherzigkeit hält der für ruchlose Bestialität.
CHEN NASE: Richtig! Bestien seid ihr: eine teuflische Drachenbrut, wie bluttriefende Innereien vom Rind, Rindskutteln und Blutsuppe, wie Wölfe und Katzen, wie das vom Hund Erbrochene, noch unterhalb des Abschaums unserer Gesellschaft angesiedelte, verabscheuenswerte Untermenschen.
VERMUMMTER 2: Du erdreistest dich, uns als gesellschaftlichen Abschaum zu beschimpfen? Uns Untermenschen zu nennen? Du im Müll wühlendes Dreckschwein, weißt du eigentlich, mit wem du es hier zu tun hast?
CHEN NASE: Ich weiß nur zu gut, was ihr tut und wer ihr seid. Ich weiß nicht nur, was ihr tut, ich weiß auch, was ihr getan habt.
VERMUMMTER 1: Ich sehe, wir sollten dich zum Fluss schaffen, damit du ein kühles Bad nehmen kannst.
VERMUMMTER 2: Morgen früh werden die Gläubigen, die zum Tempel kommen, um Weihrauch zu verbrennen und für ihr Tonkind ein rotes Band zu erbitten, feststellen, dass der alte Bettler am Tempeltor samt seinem humpelnden Hund verschwunden ist.
VERMUMMTER 1: Das kümmert aber keinen.
Die Vermummten Nr. 1 und Nr. 2 fechten mit Chen Nases Hund einen heftigen Kampf aus. Der Hund wird von ihnen erschlagen. Nase wird zu Fall gebracht und liegt am Boden. Als die Vermummten ihn gerade erstechen wollen, zieht Augenbraue ihren Schleier vom Kopf, zeigt ihr grimmiges, furchterregendes Antlitz und stößt den schrillen Schrei eines Dämons aus. Die maskierten Männer lassen von ihrem Vater ab und suchen zu Tode erschrocken das Weite.
Ende des fünften Aufzugs