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Lieber Yoshito Sugitani san,

wissen Sie, bei uns ist es Brauch, den Kindern Namen von Körperteilen zu geben. Zum Beispiel Chen Nase, Wu Dickdarm, Sun Schulter ... Wie sich dieser Brauch entwickelte, weiß ich nicht. Ein Grund ist wahrscheinlich, dass man glaubte, ein Kind mit schlichtem Namen sei besser vor bösen Geistern und schlechtem Karma geschützt. Oder aber, dass die Mutter ihr Kind für ihr eigen Fleisch und Blut hielt und glaubte, dass es einem Körperteil von ihr entstamme. Heutzutage ist dieser Brauch aus der Mode gekommen. Die jungen Eltern wehren sich dagegen, den eigenen Kindern solch merkwürdige Namen zu geben. Sie bevorzugen die ungewöhnlichen und vornehmen Vornamen der Figuren aus den hongkong-chinesischen, taiwanischen und sogar japanischen und koreanischen Fernsehserien. Die ehemals nach Körperteilen Benannten haben fast alle neue Namen bekommen. Natürlich gibt es auch welche, deren Namen so geblieben sind – Chen Ohr und Chen Augenbraue zum Beispiel.

Der Vater der beiden ist Chen Nase, mein Klassenkamerad aus der Grundschule und mein bester Freund aus Kindertagen. Es war in der Zeit der großen Hungersnot, im Herbst 1960, als wir in die Dayanlan-Grundschule kamen. Alles, an das ich mich aus jenen Jahren erinnere, hat mit Essen zu tun. Auch die Geschichte vom Kohlenessen gehört dazu. Viele Leute meinen, ich würde irgendwelche Geschichten erfinden. Aber ich schwöre bei dem guten Namen meiner Tante, dass ich nicht lüge. Alles hat sich nachweislich so zugetragen.

Da gab es damals eine Tonne erstklassiger Kohlen aus dem Longkou-Kohlebergwerk. In ihren Bruchflächen konnte man sich spiegeln, so glänzten die. Ich habe nie wieder so glänzende Kohlen gesehen. Der Dorfkutscher Wang Bein kutschierte sie mit dem Pferdefuhrwerk aus der Kreisstadt ins Dorf. Er besaß ein eckiges Gesicht, einen breiten Nacken, und er stotterte. Jedes Mal, wenn er den Mund aufmachte, wurde er puterrot im Gesicht und bekam Stielaugen. Seine Kinder, Sohn Wang Leber und Tochter Wang Galle, gingen mit mir in eine Klasse. Sie waren Zwillinge, der Junge mit einem hünenhaften Körper, das Mädchen ein zierliches Püppchen. Wäre man gehässig gewesen, hätte man sie eine Zwergin genannt. Alle sagten, dass der Bruder im Mutterleib alle Nährstoffe alleine aufgesogen hätte, für die Schwester wäre nichts übriggeblieben, deswegen wäre sie so klein geblieben.

Es war Nachmittag, wir hatten gerade Schulschluss, als es ans Abladen der Kohlen ging. Alle Kinder standen mit den Schultaschen auf dem Rücken drum herum und schauten zu. Wang Bein stand mit einer Riesenschaufel auf dem Hänger und schaufelte die Kohlen herunter, die prasselnd übereinanderfielen. Als er sein um die Hüften geknotetes blaues Tuch losband, um sich damit den Schweiß vom Hals zu wischen, bemerkte er seine beiden Kinder. Er brüllte sie sofort an: »Ab nach Haus mit euch zum Heumachen!« Wang Galle rannte auf der Stelle los – ihr Körper schwankte, ihr fehlte das Gleichgewicht. Süß! Wie ein Kleinkind, das gerade laufen lernt. Wang Leber dagegen lief nicht, er wich zurück, duckte sich. Er war stolz auf den Beruf seines Vaters. Kein Grundschüler von heute kann das erhebende Gefühl von Wang Leber nachempfinden, selbst dann nicht, wenn der Vater Pilot ist und Jumbos fliegt.

Wenn die Pferde im schnellen Trab gingen, fuhr das große Fuhrwerk mit Getöse rasant daher, dass der Staub nur so aufflog. Vor der Deichsel hatte der Vater ein ausgemustertes Artilleriearmeepferd angeschirrt, das in der Truppe die schweren Geschütze gezogen hatte. Es hieß, dass es erfolgreiche Schlachten bestritten habe. Auf der Kruppe hatte es ein Brandzeichen. Als Riemenpferd ging vor dem Deichselpferd ein aufbrausender, störrischer Mulihengst, der sich auskannte mit Ausschlagen und Beißen. Trotz seines störrischen Wesens war das Muli erstaunlich stark und außergewöhnlich flink. Niemand sonst hätte dieses durchgedrehte Tier zu zügeln gewusst.

Viele beneideten Wang Bein um seinen Beruf, aber keiner traute sich in die Nähe des Mulis. Schon von weitem hatte jeder Respekt. Zwei Kinder hatte das Muli bereits gebissen, das eine war Yuan Backe, der Sohn von Yuan Gesicht, das andere war die kleine Wang Galle. Als das Muli einmal vor dem Fuhrwerk angespannt vorm Haus stand und der Kleine dort in der Hocke saß und spielte, hatte es ihm ein Stück Fleisch aus dem Kopf gebissen. Für uns war Wang Bein die Respektsperson überhaupt! Er maß einen Meter neunzig, war stark wie ein Bulle, eine hundert Kilo schwere Steinwalze hob er mit bloßen Händen hoch und stemmte sie mit gestreckten Armen über seinem Kopf. Was wir aber am meisten bewunderten, war seine zaubermächtige Peitsche. Als das Muli den kleinen Yuan Backe in den Schädel biss, zog Wang Bein sofort die Wagenbremse an, um breitbeinig auf dem Kutschbock stehend das Muli mit der Peitsche zu verdreschen. Jeder Peitschenhieb erzeugte einen hellen Ton und hinterließ einen blutigen Striemen auf der Kruppe. Zuerst schlug das Muli noch aus, aber die Peitsche drosch unverändert weiter auf es ein, so dass es am ganzen Körper zu zittern begann. Es kniete mit den Vorderbeinen am Boden, sein Kopf hing wie leblos herunter, mit dem Maul biss es in die Erde, um mit der Kruppe die harten Hiebe zu empfangen. Es war Backes Vater, der dem Ganzen ein Ende machte und einlenkte: »Wang, lass es gut sein, verschone das Tier!« Wang Bein hielt wutschnaubend inne. Yuan war Parteizellensekretär, besaß den höchsten Beamtenposten im Dorf. Seinem Wort widersetzte man sich nicht.

Als das Muli dann die kleine Galle biss, warteten alle wieder auf ein Spektakel. Aber Wang Bein tat keinen einzigen Peitschenhieb. Er griff nur einen Batzen von dem Haufen Branntkalk am Weg, presste ihn seiner Tochter auf den Kopf und trug sie nach Haus. Das Muli war davongekommen, an seiner Stelle hatten seine Frau einen Peitschenhieb und sein Sohn einen Fußtritt einstecken müssen. Wir zeigten mit dem Finger auf das braune Muli: Es war so dürr, dass ihm die Rippen zentimeterhoch hervorstanden, in seine Augengruben hätte ein Hühnerei gepasst. Sein Blick war voll Kummer, als bräche es jeden Moment in Tränen aus. Wir fanden es unvorstellbar, dass ein so gewaltiger Sturm aus einem so klapprigen Muli hervorbrechen konnte. Als wir debattierend dem Muli immer näher kamen, hielt Wang Bein mit dem Kohlenschippen ein und schrie uns scharf an. Wir machten uns sofort davon.

Der Kohlenhaufen vor der Schulküche wuchs beständig, der auf dem Hänger wurde kleiner und kleiner. Wir schnupperten alle gleichzeitig, denn jeder von uns hatte diesen ungewöhnlichen Duft wahrgenommen. Wie ein Kiefernfeuer! Oder wie im Feuer gebackene Kartoffeln! Unser Geruchssinn lenkte unseren Blick auf den glitzernden Kohlenhaufen. Wang trieb Pferd und Muli an und fuhr vom Schulhof. Diesmal rannten wir nicht wie üblich dem Fuhrwerk nach, sprangen hinten auf und riskierten einen Peitschenhieb auf den Kopf, sondern wir starrten nur den Kohlenhaufen an, während wir uns ihm Schritt für Schritt näherten.

Der Kantinenkoch Wang kam wankend mit zwei Eimern Wasser. Seine Tochter Renmei, die auch in unsere Klasse ging, wurde später meine Frau. Sie war eines der wenigen Mädchen, die einen gut klingenden Vornamen hatten und nicht wie wir nur nach Körperteilen gerufen wurden. Der Koch war ein Mann von Bildung. Er war ursprünglich Leiter der amtlichen Veterinärdienststelle unserer Volkskommune gewesen, aber wegen einer falschen Äußerung seines Postens verwiesen und aufs Land strafversetzt worden. Jetzt beäugte er uns argwöhnisch. Ja, glaubte er denn, wir würden die Kantine stürmen und über das Essen herfallen?

Er rief uns zu: »Ihr Hasenbälger, ihr Memmen, verschwindet! Hier gibt’s für euch nichts zu knabbern! Ab nach Haus mit euch, an die Brust eurer Mutter!«

Wir hatten ihn schon verstanden, seinen Ratschlag auch in Erwägung gezogen. Jedoch wussten wir genau, dass er uns nur beschimpfen wollte. Wir wurden doch nicht mehr gestillt! Wie sollte das angehen mit sieben, acht Jahren! Und wäre es wahr gewesen, so hätten unsere ausgemergelten Mütter, denen die dünnen Brüste schmal auf den Rippen klebten, bestimmt keine Milch mehr gehabt. Aber keiner von uns beschwerte sich bei ihm, denn wir Kinder krochen wie die Hobbygeologen über die Kohlen. Wie Hunde, die im Müll nach Essbarem suchen, schnüffelten wir die Kohlen ab.

Nun ist’s an der Zeit, dass ich mich bei Chen Nase und Wang Galle bedanke. Denn es war Chen Nase, der zuerst ein Stück Kohle hochnahm, zur Nase führte und mit kraus gezogener Stirn darüber zu grübeln anfing. Nase mit seiner großen Nase, über die wir uns immer lustig machten! Er dachte angestrengt nach, dann schlug er zwei Kohlen aufeinander, ein Ton, und sie zerschellten. Sie gaben einen intensiven Duft frei. Er las ein kleines Stück vom Boden auf, auch Wang Galle hob ein Stückchen auf. Er leckte vorsichtig daran, kostete, begann mit den Augen zu rollen und blickte uns an. Sie machte es ihm nach, leckte an der Kohle und schaute zu uns herüber. Dann blickten beide einander an, lächelten und begannen, als hätten sie sich abgesprochen, mit den Schneidezähnen vorsichtig daran zu knabbern, sie kauten und schluckten. Gleich bissen sie noch ein Stück ab, kauten aufgeregt und schluckten gierig. Chen Nases große Nase war gerötet und von kleinen Schweißperlen übersät, Wang Galles kleine Nase schwarz und mit einer dicken Schicht Kohlenstaub gepudert. Gebannt schauten wir ihnen zu. Wie geräuschvoll sie die Kohlen kauten. Dass sie sie tatsächlich schluckten! Hinunterschluckten! Mit leiser Stimme raunte Nase uns zu:

»Kameraden! Die schmecken!«

Mit schriller Stimme rief die Kleine: »Esst! Schnell, esst!«

Chen Nase griff sich wieder eine Kohle und biss herzhaft hinein. Die Kleine klaubte ein großes Stück auf und gab es an ihren Bruder Leber weiter. Wir machten es ihnen nach, schlugen die Kohle in Stücke, lasen sie auf, nagten erst ein Stückchen ab, kosteten und fanden, obschon es etwas sandig war, dass es gut schmeckte. Chen Nase gab bereitwillig Auskunft, streckte eine Hand mit einem feinen Stück Kohle in die Höhe und rief uns zu: »Kameraden, esst solche Stücke! Die schmecken prima.« Er zeigte auf das fast durchscheinende, bernsteinfarbene Etwas. »Die mit dem Pinienduft, die schmecken gut!«

Wir hatten im Naturkundeunterricht schon gelernt, dass die Kohle vor vielen Erdzeitaltern aus Wäldern, die tief in der Erdkruste vergraben ruhten, entstanden war. Den Naturkundeunterricht erteilte uns unser Schulleiter Wu Jinbang. Aber geglaubt hatten wir ihm nicht, unserem Naturkundebuch hatten wir auch nicht geglaubt. Denn der Wald war doch grün, wie hätte daraus schwarze Kohle werden sollen? Schulleiter und Schulbuch hatten uns einen gewaltigen Bären aufgebunden! Aber als wir den Pinienduft der Kohlen schmeckten, begriffen wir, dass wir nicht betrogen worden waren und dass es stimmen musste. Mit Ausnahme von ein paar Mädchen waren alle 35 Schüler unserer Klasse versammelt, und alle griffen sich ein Stück Kohle und nagten, knabberten, kauten und schluckten eifrig mit dem gleichen erregten Gesichtsausdruck. Es war wie Stegreiftheater, wie ein geheimnisvolles Spiel. Xiao Unterlippe drehte sein Stück Kohle in der Hand hin und her, aß aber nicht, sondern musterte es voller Verachtung. Er aß nicht, weil er keinen Hunger verspürte. Keinen Hunger hatte er, weil sein Vater das Getreide im Getreidespeicher verwahrte.

Der Kantinenkoch Wang war sprachlos, als er uns sah. Mit bemehlten Händen kam er aus der Küche gerannt. Himmel! Er hatte Mehl an den Händen! Gegessen haben in unserer Schulkantine damals nur unser Schuldirektor, der Drillmeister und zwei Kommunekader, die bei uns auf dem Land wohnten. Der alte Wang rief außer sich: »Kinder, was tut ihr da? Ihr esst doch nicht etwa ... Kohle? Kohle kann man doch nicht essen!«

Galle streckte ihre winzige Hand mit einem Stück Kohle hoch und rief mit feinem Stimmchen: »Onkel! Sie schmeckt so lecker! Hier, probier doch mal!«

Er schüttelte nur den Kopf: »Galle, meine Kleine! Wie ist es möglich, dass ein kleines Mädchen mit einem flegelhaften Haufen Buben solchen Blödsinn treibt?«

Die Kleine biss wieder von der Kohle ab: »Onkel, sie schmeckt wirklich lecker!«

Als sie es sagte, ging die Sonne glutrot im Westen unter. Die zwei Kader, die regelmäßig in der Schulkantine mitaßen, kamen mit dem Fahrrad auf den Schulhof gefahren und staunten nicht schlecht, als sie uns bei den Kohlen sahen. Der alte Wang ließ die Tragstange durch die Luft sausen. Er wollte uns damit vom Hof jagen, aber der Kommunekader Yan – er war ein Vizedirektor – verbot es ihm. Mit bitterböser Miene hob er Einhalt gebietend die Hand, machte auf dem Absatz kehrt und verschwand in der Kantine.

Am nächsten Tag knabberten wir beim Unterricht die ganze Zeit über Kohle. Wir saßen mit geblähten Backen, den Mund voll mit rabenschwarzer Kohle und Kohlekrümeln in den Mundwinkeln. Nicht nur die Jungs, auch die Mädchen, die nicht beim Kohlenabladen dabei gewesen waren, aßen sie unter Anleitung der kleinen Galle. Renmei, der Tochter des Kantinenkochs – meiner späteren ersten Frau – schmeckte sie am besten. Jetzt fällt mir gerade ein, dass sie damals bereits Parodontose gehabt haben muss, hatte sie doch beim Kohlenessen immer den ganzen Mund voller Blut. Unsere Lehrerin Yu schrieb ein paar Zeilen an die Tafel, wandte sich um und musterte uns eindringlich. Sie befragte zuerst ihren eigenen Sohn, unseren Klassenkameraden Li Hand: »Hand, was esst ihr da?«

»Wir essen Kohlen, Mama.«

»Lehrerin, wir essen Kohlen! Möchten Sie auch probieren?«

Das hatte Wang Galle in der ersten Reihe gerufen und die Kohle hochgehalten. Ihr lautes Rufen ähnelte dem Fiepen von Kätzchen. Lehrerin Yu kam vom Katheder herunter und nahm die ihr dargebotene Kohle, hielt sie sich unter die Nase, um daran zu riechen und sie genau zu betrachten. Es verging eine lange Zeit, in der sie keinen Ton sprach. Dann gab sie die Kohle zurück und fuhr fort:

»Liebe Kinder, heute nehmen wir Lektion sechs durch. Die Fabel vom Raben und vom Fuchs. Der Rabe hatte einen Käse gestohlen und bildete sich viel darauf ein. Er flog damit auf einen Baum. Da kam der Fuchs vorbei. Der sprach zum Raben: ›Rabe, Sie singen ja bestens! Welch wunderschöner Klang! Ertönt Ihr Gesang, sollten alle Vögel auf der Welt stille schweigen!‹ Dem Raben verdrehten die Schmeicheleien des Fuchses so den Kopf, dass er den Schnabel aufsperrte, um ... O weh! Der fette Käse fiel hinunter und landete im Rachen des Fuchses.«

Dann übte unsere Lehrerin mit uns zusammen das Lesen der Fabel im Chor. Sie las vor, dann waren wir an der Reihe, mit unseren Mündern voll rabenschwarzer Kohle.

Lehrerin Yu besaß Bildung, hatte aber ihrem Sohn, so wie es bei uns auf dem Land Brauch ist, einen traditionellen Namen gegeben. Yu Hand schaffte später die Hochschuleintrittsprüfungen, so dass er Medizin studieren konnte. Nach dem Examen kehrte er zurück aufs Land und arbeitete bei uns im Kreiskrankenhaus als Chirurg. Als Chen Nase beim Häckseln vier Finger in den Schredder bekam, konnte Yu Hand ihm drei davon retten und wieder annähen.

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