10
Im Frühling 1961 wurde Gugu wegen des Zwischenfalls mit Wang Xiaoti entlastet und durfte wieder in der frauenärztlichen Abteilung der Kommunekrankenstation arbeiten. Aber in den beiden Jahren darauf kam in den zweiundvierzig zur Kommune gehörenden Dörfern kein einziges Kind zur Welt. Grund war natürlich die große Hungersnot. Deswegen bekamen die Frauen ihre Regel nicht mehr, wegen des Hungers hatten die Männer das Interesse am Sex verloren. In der Abteilung für Frauenkrankheiten und Geburtshilfe der Kommunekrankenstation arbeiteten nur meine Tante und eine Ärztin mittleren Alters mit Nachnamen Huang. Sie hatte ihr Examen an einer sehr berühmten Universität gemacht, war aber wegen ihres schlechten familiären Hintergrunds und weil sie noch dazu Rechtsabweichlerin war, degradiert und aufs Land versetzt worden. Wenn Gugu auf sie zu sprechen kam, machte sie jedes Mal einen völlig entmutigten Eindruck, verquere Launen habe sie, spreche manchmal den ganzen Tag kein Wort, ergehe sich dann wieder in Gehässigkeiten und sei richtig gemein. Selbst einen Spucknapf kanzelte sie endlos ab.
Nachdem meine Großtante gestorben war, kam Gugu nur noch selten zu uns. Aber Mutter vergaß sie nie. Jedes Mal, wenn es bei uns etwas Gutes zu essen gab, schickte sie meine große Schwester mit einer Portion zu ihr ins Wohnheim. Einmal fand mein Vater draußen auf dem Feld einen halben toten Hasen, wahrscheinlich den Rest eines Habichtfangs, den meine Mutter zusammen mit Wildgemüse kochte, wovon sie draußen einen halben Korb voll gesammelt hatte. Sie füllte eine Schale davon ab, wickelte sie in ein Tuch und trug meiner Schwester auf, das Essen hinüberzutragen. Meine Schwester wollte nicht, ich bot mich an. Mutter meinte: »Nun gut, aber unterwegs nicht naschen und gut darauf achten, wo du hintrittst, denn du darfst mir die Schale nicht fallenlassen.«
Es sind fünf Kilometer Fußweg von uns zu Hause bis zur Krankenstation der Kommune. Anfangs rannte ich im Dauerlauf. Noch warm sollte das Hasenfleisch sein, wenn ich ankam. Aber nach einer Weile wurden mir die Beine schwer, knurrte mir laut der Magen, lief mir kalter Schweiß den Rücken hinunter, und mir wurde schwarz vor Augen. Die zwei Schalen dünne Reissuppe mit Wildgemüse vom Frühstück waren längst verdaut, und ich hatte argen Hunger. Dabei stieg mir gleichzeitig der Duft des Hasenfleischs durch das Einschlagtuch in die Nase. Welch widerstreitende Gefühle in meiner Brust: Mein eines Ich redete mir zu: »Koste ein Stück. Ein Stückchen weniger macht nichts aus.« Mein zweites unterbrach: »Nein! Du willst ein ehrliches Kind bleiben und auf deine Mutter hören.« Zum soundsovielten Mal hatte ich meine Hand schon am Knoten des Einschlagtuchs gehabt, um das Bündel zu öffnen, aber jedes Mal erschien mir das Gesicht meiner Mutter vor Augen. Zu beiden Seiten des Wegs von unserem Dorf bis zur Krankenstation standen Maulbeerbäume. Sie waren kahl, denn die hungernden Menschen hatten das Laub längst abgepflückt. Ich knickte mir einen Zweig ab und begann daran zu kauen. Der Saft hatte den bitteren Geschmack der Gerbsäure, ich konnte ihn nicht hinunterschlucken. Da bemerkte ich am Baumstamm eine Seidenraupe, die gerade frisch geschlüpft war, von der Farbe heller Eierschalen, die Flügel noch feucht. Ich freute mich, schmiss den Zweig fort, sammelte die Raupe ab und steckte sie, ohne nachzudenken, in den Mund. Seidenraupen gehören zu den erlesenen Zutaten einer feinen Küche, sehr nahrhaft sind sie obendrein. Sie werden frittiert oder pfannengerührt. Da ich sie roh und bei lebendigem Leibe aß, sparte ich das Feuer für den Ofen und die Zeit obendrein. Sie schmeckte so frisch und fein. Ich bin mir sicher, dass eine Raupe roh mehr Nährstoffe enthält als in gekochtem Zustand. Beim Gehen suchte ich mit den Augen die Baumstämme am Wegrand ab. Seidenraupen entdeckte ich keine mehr, dafür ein bunt und teuer bedrucktes, hochglänzendes Flugblatt, das ich vom Boden aufklaubte. Auf dem Papier war ein blendend aussehender junger Mann zu sehen, der eine hübsche, elfengleiche Frau im Arm hielt. Darunter stand zu lesen:
Der Jetpilot der kommunistischen Banditen, Wang Xiaoti, bricht mit der verbrecherischen Bande und wählt den lichten Weg. In den Dienstrang eines Majors erhoben, dient er in der Luftwaffe als Staffelkapitän. Er bekam als Auszeichnung eine Prämie von187,5 kg Gold und die berühmte Schlagersängerin Tao Lili zur Frau.
Ich vergaß den Hunger, es befiel mich eine solche Aufregung, dass ich am liebsten laut losgeschrien hätte. In der Schule hatte ich davon gehört, dass die Kuomintang mit Luftballons reaktionäre Flugblätter zu uns sandte. Ich hätte nicht gedacht, dass ich so etwas auflesen würde. Nie im Leben! Ich hätte mir nicht träumen lassen, dass sie so feines, wunderschönes Papier verwendeten. Und die junge Frau auf dem Foto war um einiges anziehender als meine Tante!
Als ich in der Krankenstation ankam, war die Tante gerade in einen Streit mit dieser Huang verwickelt. Huang mit der Riesenhakennase trug eine schwarze Hornbrille. Lippen hatte sie – dünn wie ein Strich. Beim Sprechen konnte man ihren blutergussfarbenen Rachen sehen. – Später ermahnte uns meine Tante immer: »Kinder, heiratet niemals eine, deren Rachen beim Sprechen zu sehen ist! Dann bleibt ihr lieber unverheiratet. So eine nehmt bloß nicht!« – Die Huang schaute so finster drein, dass es mir eiskalt den Rücken hinunterlief. Ich hörte, wie sie zu meiner Tante sagte: »Wie kommst du dummes Ding dazu, mich anzuweisen? Mich, die ich, als du noch Windeln getragen hast, bereits an der altehrwürdigen Fachhochschule für Medizin in Peking ausgebildet wurde?«
Aber Tante ließ das nicht auf sich sitzen und konterte: »Weiß Bescheid, du eingebildetes Kapitalistenfräulein. Und natürlich warst du als hübscheste Studentin bei euch bekannt und hast die Fahne hochgehalten, als die Japsen eure Schule besuchen kamen! Wahrscheinlich bist du noch mit den Offizieren der Japsen schwofen gewesen? Aber während du mit denen das Tanzbein schwangst, habe ich mich in Pingdu im Kampf gegen den japanischen Armeekommandanten Sugitani tapfer geschlagen.«
Huang lachte nur kalt: »Wer will das gesehen haben? Gab’s da wen, der zusah, wie du mit vollem Einsatz gegen den japanischen Armeekommandanten gekämpft hast?«
Gugu parierte: »Ist alles Geschichte, unser Vaterland ist mein Zeuge.«
Und in diesem Moment gab ich Hornochse, nie, nie, niemals hätte das passieren dürfen – niemand ist so dumm! –, meiner Tante diesen bunten Zettel in die Hand.
»Was ist denn los, dass du herkommst?«, fragte meine Tante übelgelaunt, »und was schleppst du da an?«
Ich sagte total aufgeregt, mit zitternder Stimme: »Ein reaktionäres Flugblatt! Ein reaktionäres Flugblatt von der Kuomintang!«
Zuerst ließ sie nur flüchtig den Blick drüber gleiten. Dann sah ich, wie ihr ganzer Körper heftig zusammenzuckte, als hätte sie einen Stromschlag bekommen. Alle Farbe wich aus ihrem Gesicht, kreidebleich mit aufgerissenen Augen starrte sie darauf. Als schmetterte sie eine sie anfallende Schlange, nein, mehr noch, als schmetterte sie eine giftige Unke ins Gebüsch, entledigte sie sich dieses Flugblatts!
Als sie sich dessen gewahr wurde und das Papier schnell wieder aufheben wollte, war es bereits zu spät.
Huang Qiuya hob das Papier auf und warf einen Blick darauf. Dann blickte sie zu Gugu hoch, um sofort wieder hinunter auf den Zettel zu starren. Ihre beiden hinter dicken Brillengläsern versteckten Augen spritzten Gift und Galle. Ihr Mund ließ ein eiskaltes Lachen hören. Mit einem Hechtsprung stürzte Gugu vor, um das Flugblatt wieder zu ergattern, aber Huang Qiuya drehte sich weg und wich ihr aus. Gugu kriegte sie aber noch am Kittel zu fassen und schrie schrill: »Gib es mir zurück!«
Huang Qiuya machte nur eine einzige Bewegung nach vorn, sssst, riss der Kittel entzwei und gab den Blick frei auf die Haut des Rückens, die weiß wie der Bauch eines Frosches war.
»Gib es zurück!«
Huang dreht sich um, das Flugblatt fest in ihren Händen hinter dem Rücken, am ganzen Leib zitternd und Schritt für Schritt rückwärts zur Tür weichend. Dabei sprach sie böse, aber triumphierend: »Es dir zurückgeben? Ha! Dir, einer hündischen Spionin! Einer Landesverräterin! Ausgespielt das Spielchen, du Drecksfott! Ach, dir wird jetzt bange? Deinen Ruf als Märtyrerwaisenkind nimmt man dir nicht mehr ab?«
Wie eine Wahnsinnige stürzte sich Tante auf Huang Qiuya. Die rannte auf den Flur und rief schrill: »Fasst die Spionin!«
Gugu, ihr auf den Fersen, streckte die Hand aus, kriegte ihr Haar zu fassen. Huang Qiuyas Hals machte einen Ruck rückwärts, aber das Blatt fest in der Hand, gellende Schreie ausstoßend, drängte sie mit allen Kräften nach vorn. Damals bestand das Gebäude der Krankenstation nur aus zwei Zimmerreihen zu beiden Seiten eines Flurs, vorn die Behandlungszimmer, dahinter die Verwaltung. Alle hörten die Schreie und kamen sofort hinaus auf den Flur, wo meine Tante Huang Qiuya inzwischen auf den Boden geworfen hatte und rittlings auf ihr sitzend versuchte, das Flugblatt zu ergattern.
Der Stationsleiter kam herbeigerannt. Glatzköpfig, mit schmalen Augen, dicken Tränensäcken und den Mund voller übertrieben weißer dritter Zähne.
»Was soll das hier? Aufhören! Hände weg!«, schrie er nur.
Gugu schien den Anschnauzer ihres Leiters nicht gehört zu haben, sie quetschte Huangs Hand immer heftiger. Deren Stimme war nicht mehr schrill, sie schrie auch nicht mehr, sie heulte nur noch.
»Wan Herz, gib nach!« Der Leiter war nun richtig wütend, die Umstehenden herrschte er an: »Ihr Pfeifen seid doch nicht blind! Trennt ihr sie wohl voneinander!«
Ein paar Ärzte zerrten Gugu gemeinsam unter Einsatz ihrer gesamten Kräfte von Huang Qiuya herunter. Ein paar Ärztinnen halfen Huang vom Boden auf. Ihre Brille war verschwunden, aus den Zahnzwischenräumen floss ihr Blut vom Mund am Kinn herunter, und Tränen rannen in trüben Rinnsalen aus ihren tiefliegenden Augen. Ihre Hand umkrallte immer noch das Flugblatt, während sie weinend flehte: »Stationsleiter, sagen Sie mir, was ich tun soll ...«
Gugus Kleidung war völlig verrutscht, alle Farbe war ihr aus dem Gesicht gewichen. Von den Wangen tropfte aus Kratzwunden Blut, die – ganz klar – von Huangs Fingernägeln stammten.
»Was ist passiert, Wan Herz?«, fragte der Stationsleiter. Meine Tante lachte düster, dabei schossen ihr die Tränen in die Augen. Sie schmiss ein paar Papierschnitzel des Flugblatts auf den Boden. Keinen Ton sagte sie, als sie sich schwankend in die Station für Geburtshilfe zurückzog.
Huang Qiuya dagegen reichte dem Stationsleiter wie eine Heldin, die Kampfesstrapazen ausgestanden und große Erfolge errungen hat, den in ihrer Hand zu einem Knäuel zerknüllten Zettel, um sodann auf den Knien über den Boden zu rutschen und nach ihrer Brille zu suchen. Die gefundene Brille, von der ein Bügel abgebrochen war, setzte sie wieder auf die Nase und stützte sie mit einer Hand. Noch auf Knien entdeckte sie die von Gugu auf dem Boden verstreuten Papierschnitzel, die sie hastig aufklaubte. Als hätte sie einen Schatz ausgegraben, kam sie damit auf die Beine.
»Was hat das zu bedeuten?«, fragte der Stationsleiter, derweil er das Papierknäuel entfaltete.
»Ein reaktionäres Flugblatt! Hier ist der Rest davon.« Damit übergab Huang die restlichen Papierschnitzel. »Der Republikflüchtling Wang Xiaoti hat es Wan Herz aus Taiwan geschickt!«
Die umstehenden Ärzte und Schwestern raunten vor Erstaunen. Der Stationsleiter war altersweitsichtig, er hielt den Handzettel weit von sich und bemühte sich, den richtigen Abstand zu finden. Wie ein Bienenschwarm drängten sich alle um dieses Flugblatt.
»Was guckt ihr? Als wenn’s da was zu sehen gäbe! Macht, dass ihr wieder an die Arbeit kommt! Ärztin Huang«, er packte den Handzettel sorgfältig weg, »komm mal mit in mein Büro!«
Während sie in seinem Büro verschwand, standen die Ärzte und Schwestern zu zweit, zu dritt zusammen und ergingen sich in Mutmaßungen. Als nun noch Gugus lautes Wehklagen aus der frauenärztlichen Station drang, kam mir bitter zu Bewusstsein, dass ich großes Unglück angerichtet hatte. Ich machte mich klein, aber ich drückte doch die Tür auf und trat zu meiner Tante in das Behandlungszimmer. Sie saß weinend am Tisch, mit dem Kopf auf der Tischplatte und hämmerte mit geballten Fäusten zu beiden Seiten ihres Kopfes auf den Tisch.
Ich sagte: »Tante, Mama schickt dir Hasenfleisch.«
Sie reagierte nicht, weinte immer nur weiter.
»Wein bitte nicht, Tante, probier das Hasenfleisch!«
Ich stellte das mitgebrachte Bündel auf den Tisch und öffnete das Tuch, um die Schüssel mit dem Fleisch neben Tantes Kopf zu stellen. Gugu wischte die Schüssel mit Schwung vom Tisch, die Schale zerbrach am Boden. Sie hob den Kopf und schrie mich gellend an:
»Geh mir aus den Augen! Geh weg! Ich will dich nicht sehen! Du Vieh!«