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In der zweiten Jahreshälfte 1960, kurze Zeit nach dem Kohlenessen, hörten wir, dass meine Tante den Jetpiloten nun heiraten werde. Die Großtante kam zu uns, weil sie mit meiner Mutter über die Mitgift sprechen wollte. Schließlich beschlossen sie, den großen alten Trompetenbaum vor unserem Haus zu fällen. Unseren Baumgeist! Um aus seinem Holz von unserem allerbesten Tischlermeister Fan ein handgearbeitetes Möbelstück für unsere Tante tischlern zu lassen. Ich sah meinen Vater tatsächlich den Tischlermeister Fan zum Baum begleiten, um dort Maß zu nehmen. Der Baum sah seinem Tod entgegen. Die Zweige zitterten, die Blätter rauschten, als weinte er.
Dann hörten wir nichts mehr davon, und meine Tante kam auch nicht mehr zu Besuch. Ich rannte zu meiner Großtante, weil ich von ihr wissen wollte, was los war, wurde aber mit dem Gehstock unwirsch aus dem Haus gejagt. Da merkte ich erst einmal, dass sie den bösen Wehmüttern ähnelte, von denen meine Tante immer erzählt hatte.
Als ich in jenem Jahr frühmorgens nach dem ersten Schneefall, die aufgehende Sonne stand tiefrot am Horizont, barfuß in Strohschuhen auf dem Weg zur Schule war, fror ich erbärmlich an Händen und Füßen. Auf dem Schulhof rannten wir wild umher und kreischten, damit uns warm wurde. Plötzlich war da ein Donnern, was uns panische Angst einjagte. Mit offenen Mündern starrten wir auf ein dunkelrotes riesiges Ungetüm, das eine dreckige Rauchwolke hinter sich herzog und sich mit roten Riesenaugen, gebleckten weißen Raubtierzähnen, am ganzen Leib zitternd auf uns stürzte. »O Schreck! Ein Flugzeug! Es will doch nicht auf unserem Schulhof landen?«
Wir hatten nie zuvor aus dieser Nähe ein Flugzeug gesehen. Der Wind, den die Tragflächen aufrührten, wirbelte auf dem Hof Hühnerfedern und Laub auf. »O, bitte, bitte, lande auf unserem Schulhof!« Dann könnten wir uns das Flugzeug genau anschauen und es mal befühlen. Mit etwas Glück dürften wir sogar hineinkriechen und drinnen ein bisschen Spaß haben. Vielleicht könnten wir den Piloten bitten, ein paar Geschichten vom Luftkampf zu erzählen. Der ist bestimmt mit meinem Onkel in spe befreundet. Oder auch nicht, denn die Tiger-5, die mein Onkel in spe fliegt, ist um ein Vielfaches hübscher als dieses Ungetüm. Mit einem, der so eine schwerfällige Maschine fliegt, fängt er bestimmt keine Freundschaft an. Aber man muss schon sagen, mit so einem Flieger abzuheben, muss affenscharf sein! Wer mit so einem Panzerblechklotz sicher in den Luftraum abhebt, ist ja wohl ein Held.
Ich hatte das Gesicht des Piloten nicht gesehen. Aber nach dem Unglück sagten mir eine ganze Reihe meiner Mitschüler – sie schworen bei ihrer Ehre – dass sie durch die Glasscheibe des Cockpits das Gesicht des Piloten gesehen hätten. Also, dieses Flugzeug, von dem ich angenommen hatte, dass es hundertprozentig auf unserem Schulhof landen würde, zog noch einmal, wie unfreiwillig, die Nase hoch und schwenkte ruckartig nach rechts. Mit dem Rumpf streifte es die Krone der großen Pappel am Ostrand unseres Dorfes und bohrte dann den Bug in eines der Weizenfelder. Wir hörten einen Riesenknall. Der war noch weitaus lauter als der Überschallknall beim letzten Mal. Wir spürten den Erdboden unter uns erzittern. Die Ohren summten uns. Es tanzten Sternchen vor unseren Augen. Kurz darauf schlug inmitten von dichtem Qualm eine dunkelrote Flammensäule zum Himmel empor. Die Sonne wurde für einen Augenblick purpurfarben. Ein unangenehmer Geruch, der jedem den Atem nahm, stach uns in die Nase.
Ich weiß nicht mehr, wie lange es dauerte, bis wir wieder bei Sinnen waren. Wir rannten jedenfalls sofort Richtung Osten zum Dorf hinaus und am Dorfrand immer die Dorfstraße entlang. Wir spürten die sengenden Hitzewellen mordenden Feuers. Das Flugzeug war durch die Detonation geborsten, überall verstreut lagen Flugzeugteile, eine Tragfläche steckte senkrecht im Feld und brannte. Wie eine Fackel! Das ganze Weizenfeld stand in Flammen, es roch nach verbranntem Leder. Schon wieder ein alles erschütternder Knall, Koch Wang, der Erfahrung hatte, brüllte schrill: »Alle auf den Bauch!«
Wir warfen uns augenblicklich zu Boden und krochen unter Wangs Anleitung wieder zurück. »Kriecht schneller, an den Flugzeugtragflächen sind Bomben festgemacht!«
Nach dem Bomberabsturz wussten wir, dass an einen Tragflügel vier Bomben gehängt werden können. An jenem Tag hatte der Bomber nur zwei. Er war mit leichter Bewaffnung geflogen. Wären es vier gewesen, wäre von uns nichts mehr übrig gewesen.
Als am dritten Tag nach dem Unglück mein Vater und die anderen Männer aus dem Dorf mit den Schubkarren aus Gaomi zurück waren – in den Karren hatten sie die Leichen- und Flugzeugteile von der Unglücksstelle zum Flugplatz von Gaomi geschoben –, kam mein Bruder völlig außer Atem angerannt. Mein Spitzensportlerbruder war ohne Pause von der ersten Kreismittelschule in Gaomi dreiunddreißig Kilometer am Stück nach Hause gerannt. Dreiunddreißig Kilometer sind ja fast Marathonlänge. Er stürzte zum Tor herein auf den Hof und sagte nur ein Wort: »Tante ...«, dann fiel er kopfüber zu Boden, spuckte weißen Schaum, verdrehte die Augen und wurde ohnmächtig.
Die ganze Familie umringte ihn, zupfte am Philtrum, kniff ihm in den Daumen-Zeigefingerspann, klopfte ihm die Brust.
»Was ist mit deiner Tante?«
»Was ist mit Tante?«
Endlich kam er doch wieder zu Bewusstsein, kniff aber nur die Lippen zusammen und fing an, laut zu weinen. Mutter schöpfte aus der Tonne eine Kelle Wasser, gab ihm davon zu trinken und schüttete ihm den Rest ins Gesicht.
»Sag schon, was ist mit der Tante?«
»Tantes Pilot ist in einem Flugzeug ... in den Westen abgehauen ...«
Mutters Porzellankelle fiel zu Boden und zerbrach.
»Wohin ist der geflohen?«, fragte Vater.
»Na, wohin schon! Nach Taiwan natürlich«, dabei wischte sich mein Bruder mit dem Ärmel übers Gesicht. Zähneknirschend sagte er: »Verräter! So ein Schuft, fliegt nach Taiwan und verkriecht sich bei Chiang Kai-shek!«
»Was ist mit deiner Tante?«, fragte Mutter.
»Von der Polizei in Gaomi abgeführt«, sagte mein großer Bruder. Meiner Mutter schossen die Tränen in die Augen. Wir sollten bloß der Großtante nichts davon sagen und auch anderswo nichts ausplaudern.
»Als wenn wir da noch was sagen müssten! Das weiß längst der ganze Kreis.«
Mutter holte einen großen Kürbis aus dem Haus und gab ihn meiner Schwester zum Tragen: »Komm, wir besuchen deine Großtante.«
Nur ein paar Minuten waren vergangen, da kam meine Schwester wieder angerannt. Noch während sie auf den Hof lief, schrie sie unserer Oma entgegen: »Oma, komm schnell! Mama sagt, du musst schnell kommen. Die Großtante ist weg!«