Der Titel dieses Romans zitiert einen Liedvers eines Ci-Gedichts von Xin Qiji, das den Titel Nächtliche Reise im Huangsha Gebirge zur Melodie Weststrom Mond (Xijiang Yue) trägt. Dieses Song-zeitliche Gedicht kenne ich seit meinen Kindertagen; ich bin mit ihm so vertraut, es hat sich so sehr in mein Herz eingebrannt, dass ich es nie und nimmer vergessen werde.
Wieso haftet es mir so im Gedächtnis?
Es ist wegen eines Verses, der lautet:
Überall Fröschequaken ohne Ende.
Der Froschgesang ist aus meinen Kindheitserinnerungen nicht wegzudenken. Leute, die meine Bücher gelesen haben, wissen nur zu gut, dass ich das Fröschequaken darin oft beschrieben habe, aber mein Leser weiß nicht unbedingt, dass ich eine gewisse Froschphobie habe.
Vor Giftschlangen und Raubtieren fürchten sich die Leute aus gutem Grund.
Aber warum sich vor diesen nützlichen, deswegen sogar beliebten Froschlurchen fürchten? Deren Fleisch eine nahrhafte Stärkung bei körperlicher Schwäche verspricht?
Ich verspüre trotzdem furchtbare Angst vor Fröschen.
Kommen sie mir in den Sinn – allein die Glupschaugen und die feuchte Haut – beim bloßen Darandenken sträuben sich mir die Haare und ich bekomme Gänsehaut.
Wovor fürchte ich mich bei diesen Kreaturen?
Ich weiß es nicht. Aber wahrscheinlich ist es mit ein Grund, warum ich meinen Roman Frösche genannt habe.
Im Buch erzählte ich bereits davon, dass ich eine Tante habe, die wir Gugu nennen und die auf eine besonders lange frauenärztliche Tätigkeit zurückblickt. Die vielen tausend Säuglinge bei uns in Nordost-Gaomi haben alle mit Gugus Hilfe das Licht der Welt erblickt. Das entsprach den Erwartungen, es war gut. Aber durch ihre Hand starben auch viele! Viele Babys verloren ihr Leben, noch ehe sie auf die Welt gekommen waren, und kamen ins Fegefeuer.
Sie durften nicht leben.
Natürlich sind die Gugu aus meinem Buch und die real existierende verschiedene Personen, meine Tante war nur Quell meiner Inspiration. Sie ist der Prototyp meiner literarischen Gugu.
Meine Tante lebt nach wie vor bei uns in Gaomi auf dem Land und verbringt einen friedsamen Lebensabend im Kreise ihrer zahlreichen Enkelkinder.
Als 2002, zur Zeit des chinesischen Neujahrsfests, der japanische Schriftsteller Kenzaburō Ōe zu mir nach Gaomi kam, besuchten wir beide sie zu Hause. Damals fragte ich Ōe: Soll ich über meine Tante schreiben? Einen langen Roman mit ihr als Hauptfigur? Einen Roman über eine Landärztin, wie sie es war?
Ōe fand die Idee sofort interessant. Oft fragte er nach, wie weit ich denn sei.
Im Sommer 2002 habe ich dann tatsächlich ein Manuskript mit dem Titel Kaulquappenpillen geschrieben. Darauf gekommen bin ich, als ich in einer alten Zeitung aus dem Jahr 1958 einen Bericht darüber las, dass Frauen und Männer, bevor sie miteinander schliefen, zur Schwangerschaftsverhütung vierzehn Kaulquappen schlucken sollten.
Wer über ein wenig Allgemeinbildung verfügt, wird den Wahrheitsgehalt dieses Berichts sicherlich anzweifeln, aber damals bediente man sich dieser Methode, sie war eine Zeit lang sogar außerordentlich beliebt. Die Kaulquappenverhüter waren hochmodern, genauso beliebt wie die in ganz China in den Achtzigern beliebten Frischblutkuren, per Transfusion übertragenes frisches Blut einjähriger Hähnchen, oder die Trinkkuren mit Kombucha, diesem gerne genossenen Teepilzgetränk.
Ich schrieb 150000 Zeichen, ein im Deutschen vielleicht dreihundert Seiten starkes Buch, vor dem Hintergrund der Kaulquappengeschichte. Mich überkam plötzlich das Gefühl, dass ich unbewusst wieder einmal damit begonnen hatte, eine wilde Geschichte aufzuschreiben, die sich vor allem im Magischen und Absurden bewegte. So, wie ich es ja immer mache. Dazu hatte ich einen besonderen Aufbau für diesen Roman ersonnen: Ein Bühnenschriftsteller erlebt in einem Schauspielhaus die Aufführung seines eigenen Schauspiels, und die Erinnerungen bestürmen ihn, während das Stück auf der Bühne abläuft. Ich war übertrieben bemüht, war argwöhnisch mir selbst gegenüber, deswegen legte ich das Manuskript zur Seite und schrieb zunächst den Überdruss.
Bis 2007 dauerte das an. Dann war ich wieder Feuer und Flamme für mein Kaulquappenbuch, denn ich hatte mir überlegt, den Aufbau umzugestalten und einen Briefroman daraus zu machen; und ich hatte einen neuen Titel, ich nannte mein Buch nun Frösche.
Natürlich würde ich auch in diesem Buch nicht nur geradeheraus und ohne jeden Schnörkel eine Geschichte erzählen. Deswegen gab ich das Bühnenstück nicht auf, hängte es in einem fünften Buch an das Hauptbuch an und ließ beide Teile voneinander profitieren, sich ergänzen. Das Genre des Stücks versprach durch seine Theatralik eine farbenprächtige, geistreiche Handlung. Ich hoffte, dass mein Leser durch den Gattungswechsel schlüssiger begriff, worauf ich hinauswollte.
Die chinesische Geburtenplanung ist inzwischen eine dreißig Jahre lang praktizierte Politik. Die westlichen Medien kritisieren sie stark. Die Situation Chinas ist allerdings insgesamt sehr kompliziert. Man darf nicht glauben, weil man tiefere Einblicke in die chinesische Geburtenpolitik erhalten und sie begriffen hätte, habe man auch China verstanden, aber, und das ist zweifelsohne richtig, zum Verständnis Chinas gehört in jedem Fall dazu, tieferen Einblick in die chinesische Politik der Geburtenplanung zu haben. Wer diese Politik nicht verstanden hat, der wird nicht begreifen, was in China vorgeht.
In den letzten Jahren wird heftig diskutiert, ob es noch zumutbar ist, die Ein-Kind-Politik weiterzuführen.
Viele berühmte Politiker, Wissenschaftler und Vertreter der Wirtschaft schreiben kritische Aufsätze zu diesem Thema, in den Medien wird es heiß debattiert. Im Internet ist die Erörterung dieser Fragen noch lebhafter. Es ist zu beobachten, dass eine Erforschung der Fakten der Geburtenpolitik in den vergangenen dreißig Jahren, eine Aufarbeitung der Folgen, ein Hinterfragen der Vorfälle längst im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses stehen. Im Zuge der Reformpolitik, der Politik der Öffnung und mit dem Wechsel von der kollektiv geführten Wirtschaft zur Privatwirtschaft, im Zuge der nun für alle Bauern bestehenden Freiheit, sich erstens in China frei zu bewegen und zweitens seinen Arbeitsplatz frei zu wählen, sollte man klar sehen, dass die Politik der Geburtenplanung nicht mehr durchführbar ist. Die Bauern auf dem Land können den Ort frei wählen, an dem sie ein Kind zur Welt bringen lassen möchten, ob es nun die eigene Frau zur Welt bringt oder jemand anderes, sie können es auch heimlich tun, natürlich gilt das auch für die Frauen, die verheirateten oder die nicht verheirateten. Die Reichen wie auch die bestechlichen Regierungsbeamten nutzen gern die Möglichkeit, Bußgelder zu zahlen, oder sie verlassen sich bei der Vermehrung ihres Nachwuchses auf Zweit- und Drittfrauen. Unverhohlen und nach persönlichem Belieben bringen die Chinesen heutzutage überzählige Kinder zur Welt, um der Familie männliche Nachkommen zu schenken oder um einen Erben für ihr Familienunternehmen zu haben, damit das Vermögen in der Familie bleibt. Wahrscheinlich sind es nur die schlechtbezahlten kleinen Beamten, die sich noch an die Ein-Kind-Politik halten. Sie fürchten den Verlust des Arbeitsplatzes, und sie haben Schwierigkeiten, das Schulgeld für mehr als ein Kind zu zahlen. Selbst wenn es legitim wäre, zwei Kinder zu haben, würden sie es sich nicht zutrauen.
Meine Frösche schildern dreißig und mehr Jahre unserer chinesischen Geburtenpolitik vor dem Hintergrund der Lebens- und Arbeitsumstände der Ärztin Gugu.
Ich habe kein Blatt vor den Mund genommen und nichts verschleiert, auch wenn ich chaotische Zustände geschildert habe.
Es ist immer mein Ziel, mit meiner Literatur heikle Themen anzusprechen, denn ich finde, dass die Literatur und der menschliche Geist sich mit den Problemen der Menschen, ihren Leiden und ihrem Schicksal befassen sollten. Die Erörterung heikler Themen führt zumeist am schnellsten an den Ort der menschlichen Seele, der den wahren Charakter eines Menschen zeigt.
Man braucht für heikle Fragen Mut, man braucht gute Fähigkeiten, sich schriftlich zu äußern, aber man braucht genauso das ehrliche Schriftstellergewissen.
Die Literaturszene Chinas verlangt von den Schriftstellern, heikle Themen anzusprechen. Andernfalls rügt die Szene sie, im Kielwasser der einflussreichen Funktionäre zu schwimmen und sich von ihnen kaufen zu lassen.
Aber wenn der Autor sich heiklen Fragen widmet, ist er der Kritik ausgesetzt, und man rügt ihn der Liebedienerei gegenüber dem Westen.
Eine Zeitlang habe ich mir alle Mühe gegeben, nirgendwo anzuecken, denn ich fürchtete die Peitsche der ewig Selbstgerechten. Aber in letzter Zeit wird mir immer mehr klar, dass diese mich auch, wenn ich keinen einzigen Satz mehr schriebe, nicht in Ruhe ließen. Denn meine Literatur fühlt ihnen auf den Zahn, und ich bin schon lange der Feind solcher Leute.
So habe ich nun beschlossen, sie einfach hinter mir zu lassen, sie abzuschütteln und meinen eigenen Weg zu gehen. Nur meinem Gewissen Rechenschaft schuldig, suche ich mir die Themen aus, über die ich schreiben möchte.
Meine Ansichten über die Romanästhetik entscheiden über die Form. Eine Offenheit wie auf einem Seziertisch ist gefordert, wenn ich die Seelen und die Charaktere meiner Romanfiguren in meinen Büchern lebendig werden lasse und genauso mich, mein Innerstes in meinen Büchern offenlege.
Als ich mein Buch Frösche fertiggestellt hatte, lasteten mir acht steinschwere Schriftzeichen auf dem Herzen. Sie lauten:
他人有罪,我亦有罪
Wenn andere sich eines Verbrechens schuldig machen,
bin ich mitschuldig.
22. November 2009 in Pingan, Peking