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Zwei Jahre nach meiner Hochzeit wurde meine Tochter am Fest des Herdgottes geboren, nach dem Mondkalender war es der 23. 12. Mein Cousin Wuguan transportierte uns mit dem Einachstrecker von der Kommunekrankenstation wieder nach Hause.

Als wir uns auf den Weg machten, sagte mir meine Tante: »Ich habe deiner Frau gleich eine Spirale eingesetzt.« Renmei hob das Tuch hoch, das wir ihr um den Kopf geschlungen hatten, und fragte Gugu grollend: »Warum setzt du mir ohne mein Einverständnis eine Spirale ein?«

Tante deckte sie mit dem Tuch wieder zu: »Schwiegertochter, behalte das Tuch schön um den Kopf, damit du dich nicht erkältest. Das Komitee zur Geburtenplanung hat den unumstößlichen Befehl erteilt, dass gleich nach der Geburt eines Kindes jeder Frau eine Spirale eingesetzt werden soll. Wenn du einen Bauern geheiratet hättest und das erste Kind ein Mädchen geworden wäre, könntest du dir nach acht Jahren die Spirale herausnehmen lassen und ein zweites Kind zur Welt bringen. Du hast aber meinen Neffen geheiratet. Er ist Armeeoffizier. Die Bestimmungen in der Truppe sind noch viel strenger als die auf Kreisebene. Bei einem überzähligen Kind muss man richtig Federn lassen. Sie schicken denjenigen sofort zurück aufs Land an seinen Heimatort, wo er wieder Feldarbeit verrichten muss. Deswegen ist für dich das Kinderkriegen in diesem Leben vorbei. Mach dir da keine Hoffnungen. Die Frau eines Soldaten zu sein, hat seinen Preis.«

Renmei begann nun herzzerreißend zu weinen.

Ich hielt das fest in einen Mantel eingepackte Kind auf dem Arm, sprang auf den Trecker und rief Wuguan zu: »Es kann losgehen!«

Der Trecker spuckte schwarzen Qualm und ratterte über den holprigen Sandweg. Renmei lag eingerollt in eine Bettdecke im Wagen. Der Hänger hopste gefährlich, ihr Weinen brach ab, sprang wieder an, der Ton hüpfte wie der Karren hin und her. »Wer gibt ihnen das Recht, mir ohne mein Einverständnis, ohne mich zu fragen, eine Spirale einzusetzen ... Wer gibt ihnen das Recht, mir vorzuschreiben, dass ich nur ein einziges Kind bekommen darf? Wer gibt ihnen das Recht, mir zu verbieten, jemals wieder ein Kind ...«

»Hör auf zu heulen«, sagte ich genervt. »Das ist die Politik unseres Staates!« Sie weinte noch heftiger und streckte den Kopf zur Bettdecke heraus. Leichenblass war ihr Gesicht, blau angelaufen waren die Lippen. Im Haar steckten ihr ein paar Strohhalme. »Von wegen Staatspolitik. Das ist die Bauernpolitik deiner Tante. Im Kreis Kiautschou handhaben sie das nicht so streng. Deine Tante will doch nur eigene Verdienste anhäufen und befördert werden. Kein Wunder, dass die Leute auf sie schimpfen ...«

»Halt den Mund!«, fuhr ich sie an. »Falls du was zu sagen hast, dann mach das, wenn wir zu Hause sind. Hast du keine Angst, dass die Leute dich auslachen, wenn du den ganzen Weg über so brüllst?«

Mit Wucht schlug sie die Bettdecke weg, setzte sich auf und starrte mich mit Riesenaugen an: »Wer wagt es, sich über mich lustig zu machen?«

Auf dem Weg kamen uns ständig Fahrradfahrer entgegen und fuhren an uns vorbei. Steif blies ein eiskalter Nordwind. Weit und breit war alles mit Raureif überzogen, während eben die rote Sonne aufging. Der warme Atem aus den Mündern der Menschen erstarrte auf den Augenbrauen und auf den Wimpern sofort zu weißem Raureif.

Renmeis trocken aufgesprungene Lippen, ihr wirres Haar und ihr starrer Blick erweichten mich. Ich konnte es nicht mehr mit ansehen und tröstete sie: »Ist schon gut, keiner lacht über dich. Leg dich schnell wieder hin und deck dich zu. Mit einer Krankheit im Wochenbett ist nicht zu spaßen.«

»Ich habe keine Angst, krank zu werden! Ich bin eine Föhre vom Gipfel des Taishan! Wenn ich eisiger Kälte widerstehe, gegen den Schneesturm kämpfe, scheint die Morgensonne in meiner Brust!«

Ich lachte bitter: »Ich weiß, wozu du fähig bist. Du bist eine Heldin! Du willst doch noch ein zweites Kind? Wenn du deinen Körper erst ruiniert hast, wird daraus nichts werden.«

Ihre Augen begannen sofort zu strahlen, und aufgeregt fragte sie mich: »Erlaubst du mir, dass ich noch ein Kind bekomme? Das hast nun aber du gesagt und nicht ich! Wuguan, du hast das auch gehört, nicht wahr? Du bist mein Zeuge!«

»Okay! Ich bin dein Zeuge!«, brummelte Wuguan vorne.

Renmei legte sich fügsam wieder hin, griff sich die Steppdecke, zog sie sich über den Kopf. Ich hörte sie unter der Bettdecke reden: »Renner, du wirst mich aber nicht anlügen, sondern dein Wort halten. Wenn du dein Wort nicht hältst, kämpf ich mit dir bis aufs Blut.«

Als der Einachstrecker die Brücke am Dorfrand erreicht hatte, verstellten uns zwei Streithähne den Weg, die sich auf der Brücke gegenüberstanden und einander anbrüllten. Bei dem einen der beiden handelte es sich um meinen Grundschulklassenkameraden Yuan Backe, beim anderen um den Lehmskulpturenkünstler Hao Große Hand.

Große Hand hielt Backe am Handgelenk fest, der wand sich, tobte und schrie: »Lass mich los! Lass mich los!«

Obwohl er sich quälte, als ginge es um sein Leben, half alles nichts.

Wuguan sprang vom Trecker und ging auf die beiden zu: »Gevattern, guten Tag! Was hat denn das zu bedeuten? Am frühen Morgen hier auf der Brücke so ein Kräftemessen anzufangen?«

Yuan Backe rief gleich: »Gut, dass du kommst, Wuguan! Du musst schlichten! Onkel Hao schob seinen Karren und ging vor mir. Ich kam von hinten mit dem Rad und wollte an ihm vorbei. Er ging mit seinem Wagen auf der linken Seite, ich wollte auf der rechten Seite überholen, doch er wuchtete seinen Karren plötzlich nach rechts, genau als ich eben hinter ihm war. Glücklicherweise habe ich schnell reagiert und die Lenkstange sofort losgelassen, sonst wäre ich zusammen mit dem Rad hinab in den Fluss gestürzt. An so einem frostigen Tag wie heute wäre ich jetzt, wenn nicht tot, zumindest schwerbehindert. Aber Onkel Hao hält mich hier fest und behauptet, ich hätte seinen Karren angefahren und über die Brücke hinab in den Fluss gestoßen.«

Hao Große Hand widersprach nicht, aber er ließ Backes Handgelenk auch nicht los.

Ich sprang mit meiner Tochter im Arm vom Trecker. Kaum dass meine Füße den Boden berührten, fror ich bis auf die Knochen. An jenem Morgen war es wirklich klirrend kalt. Steif stakste ich die Brücke hoch. In deren Mitte lag ein ganzer Haufen Tonglückskinder, in Scherben zerbrochene und unversehrte durcheinander. Rechts von der Brücke lagen unten auf dem zugefrorenen Fluss das kaputte Fahrrad und eine kleine gelbe Fahne. Ich wusste, dass sie mit den drei Schriftzeichen 小半仙 für »Kleiner Heiler« bestickt war. Von klein auf hatte Yuan Backe sich mit dem I Ging, mit dem Fluss des Qi, mit Geistern, Taoismus und Göttern befasst. Nun war er erwachsen und kannte sich in der Tat gut aus. Er holte mit einem Magneten der Kuh den Nagel aus dem Magen heraus, wenn sie einen verschluckt hatte. Er konnte das Vieh kastrieren, kannte sich in Astrologie aus, mit dem Gesichtlesen, der Lehre des Li He, wahrsagte nach dem I Ging und den acht Triagrammen und verstand die Prinzipien des Fengshui. Die Leute neckten ihn, indem sie ihn den »Kleinen Heiler« nannten. Backe machte das Spiel mit – er machte es immer den anderen recht, wenn er dadurch einen Vorteil hatte. Also schnitt er eine gelbe Fahne zurecht und ließ sie mit »Kleiner Heiler« besticken. Die fertige Fahne wurde am Gepäckträger befestigt und flatterte beim Fahren laut im Wind. Auf dem Markt rammte er sie in die Erde und bot seine Dienste an. Er hatte großen Zulauf, sein Stand florierte.

Ich blickte auf der linken Seite von der Brücke, dort lag unten auf dem Eis ein Schubkarren auf der Seite. Einer der beiden Griffe war abgebrochen. Die Weidenkörbe links und rechts der Radumkleidung waren zerrissen, zig Tonpüppchen lagen verstreut auf dem Eis, die meisten in Scherben. Es sah aus, als hätten nur wenige den Sturz überstanden.

Große Hand war für seine seltsamen Launen bekannt, zugleich war er als Künstler eine von allen hochgeachtete Respektsperson. Denn in seinen geschickten, großen Händen entstanden aus einem Klumpen Lehm im Nu, während er sein Gegenüber genau betrachtete, scheinbar beseelte, genaueste Abbilder des Porträtierten. Selbst in den Jahren der Kulturrevolution hatte er nie aufgehört, Tonkinder zu formen. Wie sein Großvater, der ebenfalls Glückskinder aus Ton und Lehm knetete, und wie sein Vater, der dessen Werk fortführte, trug er die Familientradition weiter, und er knetete noch besser als sein Vater und Großvater. Er lebte seit jeher vom Erlös seiner verkauften Tonkinder. Bis heute. Genauer gesagt: Er ist kein Künstler, der Nippes produziert, um ihn gut zu verkaufen. Denn er hätte auch Tonhündchen, Tonäffchen, Tontiger modellieren können, Kunstgewerbe, das sich leicht herstellen und leicht verkaufen lässt. Etwas, das sich alle Kinder zum Spielen wünschen. Lehm- und Tonskulpturenkünstler machen doch gute Geschäfte mit den Kindern. Wenn diese die Figuren mögen, sind die Erwachsenen immer bereit, Geld dafür auszugeben. Aber Hao Große Hand modellierte nur Tonglückskinder. Das Anwesen seiner Familie hatte fünf Zimmer im Haupthaus und vier im Seitenhaus, auf dem Hof gab es noch einen geräumigen Schuppen, den er angebaut hatte. Alle Zimmer und der Schuppen waren mit Tonkindern vollgestellt, fertige, die schon bemalte Gesichter mit Augenbrauen und Augen hatten, und Rohlinge, die noch bemalt werden mussten. Sogar auf seinem Kang standen Tonkinder dicht an dicht, und er hatte gerade so viel Platz gelassen, wie er brauchte, um sich lang auszustrecken.

Damals war er Anfang vierzig, ein großes, rotes Gesicht hatte er, und er band sein grau meliertes Haar zu einem Pferdeschwanz zusammen. Sein Backenbart war auch grau meliert.

Im Nachbarkreis gab es auch Tonkinderkünstler, aber deren Tonfiguren wurden in Förmchen gedrückt und gestürzt. Sie sahen alle gleich aus, nicht wie die von seiner Hand modellierten, die einzigartig sind. Wiederholungen sind bei ihm ausgeschlossen. Die Leute sagten immer, die gesamten Tonglückskinder aus Nordost-Gaomiland entstammen seiner Hand. Und jeder finde unter den Niwawa-Püppchen »sich selbst« wieder und es zeige ihn, wie er als Baby ausgesehen habe. Alle sagten, dass Große Hand jedes Mal so lange mit dem Verkauf auf dem Markt warte, bis er kein einziges Korn Reis mehr im Tontopf habe. Dann erst verkaufe er mit tränenfeuchten Augen seine Tonkinder, als verkaufte er sein eigen Fleisch und Blut.

Dass nun so viele seiner Tonkinder auf dem vereisten Fluss und auf der Brücke in Scherben lagen, musste ihm das Herz brechen, nur verständlich, dass er Backes Handgelenk krampfhaft festhielt.

Ich ging mit meiner Tochter auf dem Arm zu ihm. Ich trug Uniform, denn ich fühlte mich, weil ich inzwischen schon so viele Jahre beim Militär war, in Zivilkleidung furchtbar unwohl. Deshalb hatte ich sogar jetzt, obwohl ich doch Renmei zur Entbindung ins Krankenhaus begleitet hatte, meine Uniform angezogen. Man muss schon sagen, ein junger Offizier in Uniform mit einem Neugeborenen auf dem Arm kann viel bewegen! Ich sagte: »Onkel Hao, lass doch bitte Backes Hand los. Er hat es bestimmt nicht mit Absicht getan.«

»Richtig! Onkel Hao, ich habe es wirklich nicht absichtlich getan.« Yuan Backe klang weinerlich. »Verschont mich bitte! Ich rufe einen Handwerker, der Euch den Schubkarrengriff und die Körbe wieder repariert. Für die zerbrochenen Kinder gebe ich Euch Geld.«

»Tu es mir zuliebe«, sagte ich. »Tu es für meine kleine Tochter, tu es für meine Frau. Gib ihn bitte frei und lass uns mit dem Trecker durchfahren.«

Renmei streckte den Kopf aus dem Wagen und rief mit durchdringender Stimme: »Onkel Hao! Bitte modelliere mir zwei Tonkinder, zwei Jungen, beide sollen sich aufs Haar gleichen.«

Die Leute in Gaomi behaupteten Folgendes: Kauft man bei Hao Große Hand ein Glückskind, bindet ihm einen roten Bindfaden um den Hals und stellt es auf den Kang am Kopfende des Bettes ehrenvoll wie eine Buddhafigur auf, dann gleicht später das Neugeborene dem Tonkind aufs Haar. Aussuchen dürfe man sich die Tonkinder bei Hao Große Hand jedoch nicht. Nicht wie im Nachbarkreis, wo sie alle auf dem Boden ausgebreitet liegen, eins neben dem anderen, eine ganze Matte voll, und jeder sich das Passende auswählen kann.

Seine Tonkinder dagegen blieben in den Tragkörben auf der Schubkarre, die Körbe waren immer mit einer kleinen Steppdecke zugedeckt. Wenn man eins von seinen Glückskindern kaufen wollte, schaute er einen scharf an, um sodann mit der Hand in den Korb zu fahren und eines herauszufischen. Dasjenige, das er hervorholte, musste man nehmen. Beschwerte man sich, dass die Figur nicht schön genug sei, tauschte er sie nicht etwa gegen eine andere ein, sondern lächelte nur bitter. Er hätte nie im Leben etwas erwidert, aber man meinte ihn dann sagen zu hören: »Wo gibt es denn Eltern, die ihre eigenen Kinder zu hässlich finden?« Deswegen war es üblich, dass man sich das von ihm erhaltene Tonkind genau anschaute und es mit der Zeit lieb gewann. Es war, als würde es nach und nach zum Leben erweckt, als besäße es eine eigene Identität. Über Geld wurde bei so einem Kauf nicht geredet und gefeilscht schon gar nicht. Hätte man ihm kein Geld gegeben, so hätte er bestimmt auch keins verlangt. Für das ihm bezahlte Geld bedankte er sich mit keinem Wort, so dass damals mit der Zeit alle annahmen, dass man mit einem bei ihm gekauften Tonkind ein wirkliches Kind bestellt hätte. Je länger man darüber spricht, desto mystischer erscheint die ganze Sache. Denn wem er ein Mädchen verkaufte, der ging und musste ein Mädchen bekommen, gab er einen Tonjungen, brachte man einen Jungen zur Welt. Und fischte er zwei aus seinem Korb, gebar man Zwillinge. Es war eine stille Übereinkunft, die, wenn sie ihre Zauberkraft behalten sollte, nicht zerredet werden durfte.

Meine Frau war so eine, die nie Vernunft annehmen wollte. Nur so eine wagt es, Hao Große Hand zuzurufen, sie wolle zwei Jungen von ihm haben.

Wir erfuhren diese mystische Geschichte über Hao Große Hand allerdings erst, als Renmei längst schwanger geworden war. Wir hätten kein Tonkind mehr kaufen können, denn der Zauber hätte nicht mehr gewirkt.

Große Hand erwies mir eine große Ehre! Er ließ Yuan Backe los, der gleich sein Handgelenk rieb und mit Trauermiene zu klagen begann: »Ich dachte heute, als ich zur Tür heraustrat, gleich, was für ein Pechtag, denn eine Hündin hielt mir den Hintern hin und strullerte mir ihre Pfütze direkt vor die Nase. Es hat sich bestätigt. Ein richtiger Pechtag ist das!«

Große Hand bückte sich, klaubte die verstreut am Boden liegenden Scherben der Tonkinder auf und steckte sie in die Brusttasche seiner Joppe. Er war zur Seite getreten, um uns den Weg frei zu machen. Den Bart weiß von Raureif, machte er ein bitterernstes Gesicht.

»Was habt ihr bekommen, Junge oder Mädchen?«, fragte uns Backe.

»Ein Mädchen!«

»Nicht tragisch, das Nächste wird ein Junge!«

»Es gibt kein Nächstes.«

»Mach dir keinen Kopf! Wenn’s so weit ist«, Backe zwinkerte mir verschwörerisch zu, »sag mir Bescheid. Ich werd dir das Kind schon schaukeln.«

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