2
Draußen vor dem großen Tor der Froschzuchtfarm stand ein schwergewichtiger junger Mann Wache. Er gehörte zum Sicherheitsdienst der Farm. Dem sich nähernden Wagen meines Cousins entbot er eilfertig einen militärischen Gruß. Sodann öffnete sich das ferngesteuerte Tor und Jin Jinxiu ließ seinen VW-Passat langsam durch die Einfahrt auf den Hof des Firmengeländes rollen.
Yuan Backe, früher unser Wahrsager und nebenberuflicher Kurpfuscher, war zum Geschäftsführer Yuan avanciert und leitete das Mutterunternehmen und den Hauptsitz der Firma für Froschzucht, die die beiden zusammen gegründet hatten. Er stand neben einer lackschwarzen, monumentalen Plastik im Eingangsbereich seiner Firma und erwartete uns bereits.
Die Plastik stellte einen schwarzen Frosch dar. Von weitem betrachtet meinte man, ein gepanzertes Militärfahrzeug zu erkennen. Auf dem marmornen Sockel der Statue waren die Worte eingraviert:
Amerikanischer Ochsenfrosch (Rana catesbeiana) Amphibium, Froschlurch, echter Frosch. Sein Ruf ist laut und durchdringend und ähnelt dem Muhen eines Ochsen.
»Schnell ein Foto!« Yuan Backe war eifrig um uns bemüht. »Erst das Foto, dann die Besichtigung, danach das Essen.«
Ich musterte dieses Exemplar von einem Riesenfrosch. Mir wurde zugegebenermaßen etwas mulmig.
Nur der Rücken war lackschwarz, das Maul war grasgrün, und um die Augen herum hatte er goldene Ringe. Sein Bauch dagegen war gesprenkelt und wies pickelige Unebenheiten auf, so wie es manche Seegemüse haben. Sein durchdringender, finsterer Blick aus den zwei großen vorstehenden Augen schien mir Signale aus archaischen Zeiten zu senden.
»Xiaobi! Hol mal den Fotoapparat her!«, rief mein Cousin laut.
Eine schlanke Schöne mit einer roten Brille und einem knöchellangen Streifenrock kam angelaufen und brachte eine schwere Kamera.
»Darf ich vorstellen? Xiaobi, Meisterschülerin des Departments Freie Künste der Ost-Shandong-Universität. Wir haben sie als unsere Büroleiterin engagiert«, stellte uns mein Cousin die Schöne vor.
»Aber Xiaobi ist nicht nur eine Schönheit! Sie ist besonders begabt, singt und tanzt exzellent, fotografiert und bildhauert, und da sie vom Fach ist, hat sie professionelle Erfahrung. Dazu ist sie auch noch trinkfest!«
»Chef, das war zu viel des Lobes.« Xiaobi war bis über beide Ohren rot geworden.
»Xiaobi, das ist mein alter Schulkamerad Wan Fuß. Er ist eine berühmte Persönlichkeit! Als er noch klein war, dachten wir alle, er würde bestimmt einmal einen Weltmeistertitel im Laufen holen. Aber keiner hätte erwartet, dass aus ihm ein herausragender Theaterschriftsteller werden würde. Sein Nachname lautet Wan, sein Vorname Fuß, als Kind hatte er den Spitznamen Kleiner Renner. Jetzt nennt er sich Kaulquappe.«
»Kaulquappe ist nur mein Schriftstellername«, fiel ich ein.
»Das ist Lehrer Kaulquappes Gattin«, stellte mein Cousin meine Frau vor und machte eine entsprechende Handbewegung, »Xiao Shizi mit Namen. Spezialistin im Fach Gynäkologie.«
Kleiner Löwe hielt ihr Tonkind auf dem Arm. Sie nickte nur geistesabwesend.
»Von den Geschäftsführern Jin und Yuan habe ich schon von Anfang an viel über dich gehört«, sagte Xiaobi.
»Wirklich Weltklasse hat diese Froschplastik!«, sagte Yuan Backe sichtlich zufrieden. »Das ist eine Bildhauerarbeit von Xiaobi«, ergänzte mein Cousin.
Ich lobte die Plastik mit einem Seufzer der Bewunderung.
»Lehrer Kaulquappe, ich bin begierig danach, Ihr kritisches Urteil zu hören.«
Wir umkreisten alle zusammen die Riesenfroschstatue. Einerlei, von welcher Seite man sich ihr näherte, immer hatte man das Gefühl, dass die dunklen schwarzen Froschaugen einem tief in die Seele blickten. Sie starrten einen an, egal in welchem Winkel zur Plastik man sich befand.
Nachdem wir uns gegenseitig davor fotografiert hatten, machten wir in Begleitung Yuan Backes und meines Cousins einen Rundgang durch die Farm: an den Aufzuchtbecken vorbei, dem Kaulquappenbecken, dem Becken für die Metamorphose zum Froschlurch und dem Becken mit den kleinen Fröschen. Schließlich besichtigten wir noch die Futteraufbereitung und die Herstellung der Froschprodukte.
Nach der Besichtigung begegneten mir in meinen Träumen regelmäßig Bilder von solchen Froschbecken. Sie hatten alle eine ungefähre Größe von vierzig Quadratmetern. Die Wassertiefe des darin eingelassenen trüben Wassers betrug circa einen halben Meter. Die Froschmännchen schwammen an der Wasseroberfläche, pumpten ihre weißen Schallblasen auf und stießen ihren einem Ochsenmuhen ähnlichen dumpfen Paarungsruf aus. Die Froschweibchen streckten gelassen alle Viere von sich und ließen sich an die Wasseroberfläche treiben, um sich in aller Ruhe den Männchen zu nähern. Jede Menge andere Frösche lagen schon paarweise fest übereinander. Die Froschweibchen berührten die Männchen, sowie sie an der Wasseroberfläche durch das Becken schwammen. Dann umfasste das Froschmännchen mit seinen Vorderbeinen das Weibchen und umklammerte es, während die Hinterbeinchen unaufhörlich gegen den Unterleib des Weibchens traten. Zeitgleich mit dem Austreten der großen Klumpen des glasklaren, gallertartigen Laichs aus der Kloake des Froschweibchens spritzte das Froschmännchen seine durchsichtige Samenflüssigkeit ins Wasser. Bei den Fröschen findet die Befruchtung ja außerhalb des Leibes statt.
Wahrscheinlich hatte es mein Cousin gesagt, oder war es Backe gewesen? Jedenfalls soll ein Froschweibchen bei jedem Paarungsakt achttausend bis hunderttausend Eier ausstoßen. Es ist also um einiges tüchtiger als die Menschen!
Das ganze Becken hallte wieder von dem Fröschequaken. Die Aprilsonne hatte das Wasser in den Becken so erwärmt, dass es lauwarm war. Ein penetranter Fischgeruch, der bei ausnahmslos jedem Menschen einen starken Brechreiz hervorruft, hing über allem.
»Hier haben wir sozusagen das Liebesnest der paarungswilligen Frösche auf Partnersuche. Es ist der Ort der Fortpflanzung zur Zucht üppiger Nachkommenschaft. Um die Ovulation der Froschweibchen anzuregen, geben wir dem Futter follikelstimulierende Hormone zu, sogenannte Follitropine.« – Quak! Quak Quak! Quak Quak Quak! –
Die Ohren summten uns vom lauten Fröschequaken, die Bilder von den massenhaften Fröschen hatten wir noch vor Augen, da führte man uns in ein exklusiv ausgestattetes Luxusrestaurant.
Eine Serviererin, die eine Uniform in Rosé trug, goss Tee ein, brachte uns Hors d’œuvres und kredenzte uns einen Aperitif und Schnaps.
»Wir genießen heute ein Festessen mit Froschgerichten in allen Variationen«, erklärte Backe.
Ich nahm die Speisekarte, die auf dem Tisch lag, zur Hand und las:
Knusprige Froschschenkel frittiert; kurzgebratene Froschschenkel mit grüner Paprika; Froschhaschee mit Trockenbambussprossen; Kaulquappen Blau; Cremesuppe mit Froschlaichhäubchen; Gefüllte Eier mit Froschlaich ...
»Entschuldigt bitte. Ich esse keine Frösche«, sagte ich nur.
»Ich auch nicht«, sagte Kleiner Löwe.
»Ach? Warum denn nicht?« Backe war erstaunt. »So was Köstliches. Das verschmäht ihr?«
Ich war fleißig bemüht, die vorstehenden Augen der Frösche zu vergessen; die schleimige Haut und den strengen, fischigen Geruch, der ihnen anhaftete, aus meinem Gedächtnis zu löschen. Aber es klappt bis heute nicht. Gequält schüttelte ich den Kopf.
»Koreanische Wissenschaftler konnten kürzlich aus der Froschhaut wertvolle Peptide extrahieren, die entscheidende Funktionen im menschlichen Organismus erfüllen. Sie wirken als Antioxidantien und sind im menschlichen Körper als Radikalfänger unterwegs. Also natürliches Antiaging!«
Mein Cousin beugte sich zu mir herüber und sagte geheimnisvoll: »Natürlich hat Froschfleisch noch vielfältige andere mystische Wirkungsweisen, besonders was die Wahrscheinlichkeit von Zwillings- und Mehrlingsgeburten bei Frauen angeht. Sie wird durch unser Froschfleisch um ein Vielfaches erhöht.«
»Möchtest du nicht doch probieren?«, fragte mich Yuan Backe. »Sei mutig! Trau dich! Wer Skorpione, Ameisen, Würmer und Giftschlangen verspeist, wird sich doch trauen, einen kleinen Frosch zu essen?«
»Hast du vergessen, dass ich mit meinem Schriftstellernamen Kaulquappe heiße?«
»Du hast ja Recht, mein Guter!« Backe wies den Service an: »Räumt den ganzen Tisch wieder ab, schafft alles Essen raus und deckt neu. Alle Gerichte noch einmal, nur ohne Froschfleisch.«
Das Essen wurde frisch serviert, und der Schnaps floss reichlich, während wir uns zuprosteten.
Ich fragte Backe: »Alter Fuchs, wie bist du auf die Idee gekommen, Frösche zu züchten?«
»Wenn man richtig Geld verdienen will, muss man was anfangen, worauf andere im Traum nicht kommen!« Selbstzufrieden paffte er Kringel in die Luft.
»Du bist verdammt fähig!«, sagte ich, indem ich die Stimme eines Darstellers aus einer Vorabendserie nachahmte. Etwas Ironie kam durch: »Du bist ja von klein auf was Besonderes gewesen. Ist ja nicht verkehrt, Frösche zu züchten, aber wer soll den Kühen jetzt die Nägel aus dem Magen holen? Wer auf dem Markt nach dem I Ging und den acht Triagrammen wahrsagen, wer aus den Gesichtern die Zukunft lesen? Ist es nicht schade, das alles aufzugeben?«
»Kaulquappe schlägt zu, aber nicht ins Gesicht, er rügt scharf, aber taktvoll, oder wie soll ich das jetzt verstehen?«, entgegnete Yuan Backe.
Kleiner Löwe sagte frostig: »Eins war da doch noch: den Frauen mit einem Haken die Spiralen entfernen!«
»Meine Gute, Teure! Autsch! Das tut jetzt aber weh! Wie kannst du mir so was wieder auftischen? Gefühlte tausend Jahre ist das her! Damals hatten wir alle wenig Durchblick! Damals war ich zu gutherzig. Ich konnte nicht Nein sagen, wenn mich die Frauen belagerten, wenn sie wie die Wahnsinnigen dahinterher waren, einen Stammhalter in die Welt zu setzen. Auch war es eine aus materieller Not geborene Tugend.«
»Würdest du dir das heute noch zutrauen?«, fragte ich.
»Was meinst du?« Backe schaute mich irritiert an.
»Eine Spirale rausnehmen!«
»Das fragst du mich? Ist das dein Ernst? Du weißt doch, dass ich jahrelang zur Umerziehung im Laogai-Arbeitslager war. Mensch, ich war im chinesischen Gulag! Jetzt bin ich ein anständiger Bürger, lasse mir nichts zuschulden kommen und muss mich nicht schämen. Ich gehe einer ordentlichen Arbeit nach, an der nichts zu verheimlichen ist. Alles, was gesetzlich erlaubt ist, kann ich mir als Arbeit vorstellen. Sachen, die am Gesetz vorbeigehen, da kann man mir die Pistole auf die Brust setzen, die mache ich nicht.«
»Wir halten uns diszipliniert an die Gesetze, führen ordentlich unsere Bücher und bezahlen regelmäßig alle Steuern. Wir haben eine dem städtischen Allgemeinwohl dienliche feine Firma und arbeiten mit Feuereifer«, ergänzte mein Cousin.
Auch beim Essen ließ Kleiner Löwe ihr Tonkind kein einziges Mal los.
Backe sagte: »Dieser verdammte Bastard Qin Strom ist das, was ich ein echtes Genie nenne! Er hat vorher nie etwas dergleichen gemacht. Und plötzlich, von einem auf den anderen Tag, beginnt er, Tonkinder zu modellieren, und übertrifft noch Hao Große Hand in seiner Kunst.«
Xiaobi, die bisher nur still lächelnd dabeigesessen hatte, meldete sich zu Wort: »Die Kunstwerke von Lehrer Qin Strom sind alle von seiner tiefen Liebe beseelt.«
»Braucht man denn Liebe, um Tonkinder zu kneten?«, fragte Backe.
»Aber sicher doch«, so Xiaobi. »Jedes fertiggestellte Werk ist für den Künstler wie ein leibliches Kind.«
»Dann ist dieser fette Frosch bei uns im Foyer also dein Kind?« Xiaobi errötete und schwieg von nun an.
»Cousine Shizi, du magst wohl gerne Niwawa-Tonkinder?«, fragte mein Cousin.
Yuan Backe griff sofort ein: »Das, was deine Cousine Xiao Shizi mag, sind nicht die Tonkinder. Sie wünscht sich ein echtes, eigenes Kind.«
»Na, dann lasst uns das zusammen anpacken!«, rief mein Cousin sofort ganz aufgeregt. »Und der gute Kaulquappe ist bestimmt mit von der Partie!«
»Ich soll mit euch zusammen Frösche züchten? Bestimmt nicht, ich bekomme ja beim bloßen Anschauen schon Gänsehaut.«
»Renner, wir züchten hier nicht nur Frösche, wir ...«
»Komm, lass es gut sein, Jin Jinxiu! Wir wollen deinen Cousin mal nicht in Bockshorn jagen!«, unterbrach ihn Backe. »Alter Freund, lass uns trinken! Auf ex! Weißt du noch, wie sich der Vorsitzende Mao damals durch die Landverschickung seine ›Elitejugend‹ herangezogen hat?
Grenzenlos weit ist die Welt auf dem Lande.
Da wird aus dir was,
da kannst du ins Volle greifen!