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Vater erzählte mir, dass sich nach Schwiegermutters Scherenstich die Wunde an Gugus Bein entzündet und sie hohes Fieber bekommen habe. Trotz des Fiebers sei sie mit ihrer Truppe unterwegs gewesen, um Wang Galle festzunehmen.

Eigentlich gehört der Begriff »Festnahme« zum Vokabular der Polizei und ist nicht ganz passend, aber im Grunde handelte es sich doch um eine Festnahme wie bei einem Verbrecher.

Bei Galle zu Hause war alles fest verrammelt, kein Hahn, kein Hund muckste sich. Gugu ließ das Tor aufbrechen und verschaffte sich gewaltsam Zutritt.

»Irgendjemand muss es deiner Tante gesteckt haben«, sagte mein Vater.

Sie humpelte zu den Wangs ins Haus hinein, ging zum Herd und lüftete den Deckel des Wok. Es war noch Reissuppe darin. Sie prüfte die Temperatur mit dem Finger.

»Aha, noch warm!« Gugu ließ ihr eisiges Lachen hören und brüllte: »Chen Nase! Wang Galle! Kommt ihr freiwillig raus? Oder soll ich euch wie Flöhe aus eurem Loch rauspicken?«

Kein Ton. Im Haus hätte man eine Stecknadel fallen hören. Gugu deutete auf den Wandschrank in der Ecke des Raums. Ein paar alte Kleider, sonst nichts. Sie wies ihre Leute an, alles hinauszuwerfen, so dass der Schrankboden sichtbar wurde. Dann griff sie sich ein Nudelholz und hämmerte damit auf den Boden ein. Ein paar Schläge und sie hatte ein Loch hineingehauen.

Sie brüllte wieder: »Kommt raus da, ihr Partisanen! Oder soll ich Wasser einfüllen?«

Zuerst kam die kleine Chen Ohr hervorgekrabbelt. Sie war kalkweiß im Gesicht, wie eine kleine Tempelschamanin. Sie weinte nicht, sondern lachte glucksend. Als Zweiter stieg Chen Nase aus dem Erdloch heraus. Sein Gesicht war voller Bartstoppeln, sein krauses Haar wirr, angezogen war er nur mit einem Schweißhemd, aus dem das Brusthaar hervorlugte. Er sah richtig heruntergekommen aus. Der Riesenkerl von einem Mann fiel plumpsend vor Gugu auf die Knie und schlug in einem Fort mit dem Kopf auf den Boden. Während er unablässig vor ihr Kotau machte, schluchzte er so markerschütternd, dass das ganze Dorf erzitterte.

»Tante, Gugu, meine liebste Gugu, sieh es so: Ich bin das erste Kind, das du auf die Welt gezogen hast! Bitte denk auch daran, dass Galle nur eine halbe Portion ist. Lass Gnade walten! Gib nur ein Zeichen mit deiner teuren Hand und verschone uns! Tante, meine Familie wird es dir in alle Ewigkeit mit Dankbarkeit vergelten, dir deinen Großmut und deine Tugend danken!«

Vater erzählte, dass alle, die dabei gestanden hatten, später berichteten, Gugu habe mit Tränen in den Augen geantwortet: »Chen Nase, mein lieber Nase, diese Angelegenheit hat mit mir persönlich nichts zu tun. Wenn ich zu entscheiden hätte, dann wär’s ja keine Frage. Wenn du meine Hand wolltest: Abhacken würde ich sie für dich! Und ich würde sie dir geben!«

»Tante, lass Gnade walten!«

Die kleine Ohr war ein kluges Persönchen. Sofort machte sie ihren Papa nach und kniete nieder, um vor Gugu Kotau zu machen. Sie wiederholte immer nur den einen Satz:

»Lass Gnade walten! Lass Gnade walten!«

Dann, fuhr mein Vater fort, sei da aber dieses Heer von schaulustigen Gaffern gewesen, allen voran Wuguan. Der habe mit seiner Schmalzstimme noch einen draufgesetzt, als er begonnen habe, das Titellied aus dem Film Tunnelkrieg zu schmettern:

Tunnelkrieg! He! Tunnelkrieg!

Hunderttausend tapfre Soldaten im Hinterhalt.

In der grenzenlosen Ebene

wird Tunnelkrieg geführt.

Die japanischen Teufel werden vertrieben,

damit sie ein für alle Mal ausgemerzt sind.

Und dann habe er ein weiteres Lied aus der Mitte des Films angefügt:

Vergiss die Worte

deines Führers Mao Tse-tung nicht

und bewahre sie in deinem Herzen!«

Gugu wischte sich übers Gesicht und sagte mit versteinerter Miene:

»Es reicht, Nase. Mach schon, und hol Galle da raus!«

Er rutschte auf Knien zur Tante und umklammerte ihr Bein, seine Kleine tat es ihm nach und umklammerte Gugus anderes Bein.

Wieder hörte man Wuguan im Hof dieses Tunnelkrieg-Lied plärren:

In der grenzenlosen Ebene

wird Tunnelkrieg geführt.

Trauen sich die Invasoren her,

schlagen wir sie schnell zurück.

Dass die Köpfe nur so fliegen,

dass es die Pferde niedermäht!

Denn das ganze Volk macht mit,

denn das ganze Volk wird sterilisiert,

denn das ganze Volk verhütet gründlich

jede Schwangerschaft!

Die Tante wollte sich befreien, konnte aber die Umklammerung nicht lösen. So befahl sie schließlich ihren Leuten: »Steigt in das Erdloch runter!«

Ein Milizionär kletterte, die Taschenlampe im Mund, in den unterirdischen Gang. Der nächste stieg hinab. Sie brüllten aus dem Loch herauf: »Keiner drin!«

Gugu packte so der Zorn, dass sie das Gleichgewicht verlor und ohnmächtig zu Boden sank.

Vater sagte: »Chen Nase hat sie wirklich ausgetrickst. Du weißt doch, dass er hinter dem Haus einen Gemüsegarten hat? Dort gibt es einen Brunnen mit einer Seilwinde. Der unterirdische Gang führte bis dicht an den Brunnenschacht. Wie die kleine Galle es wohl geschafft hat, durch den langen Gang zu kriechen, sich dann durchzugraben – wo sie die viele Erde wohl hingetan hat? –, sich am Seil hochzuhangeln und aus dem Brunnen herauszuklettern, während Nase und Ohr die Tante umklammert hielten. Wirklich ein schweres Stück Arbeit! Dass so ein kleines Persönchen das schafft, noch dazu im hochschwangeren Zustand.«

Als man die Tante stützte und zum Brunnen hinführte, stampfte sie laut mit den Füßen auf, so wütend war sie: »Wie konnte ich nur so dumm sein! Als hätte ich Schippkohlen vor den Augen! Dabei hatte doch schon mein Vater seinen Leuten im Xihai-Untergrund-Militärkrankenhaus befohlen, einen Tunnel zu graben!«

Dann wurde sie wieder ohnmächtig. Die Milizionäre brachten sie ins nächste Krankenhaus. Deine Tante hatte sich dieselbe Krankheit zugezogen wie Henry Norman Bethune. Bethune starb an der Sepsis, Gugu wäre fast daran gestorben. Sie war der Partei treu ergeben – notfalls bis in den Tod –, und die Partei dankte es ihr, indem sie sie rettete. Es sprach sich rum, dass sie die teuerste Medizin bekam.

Einen halben Monat wurde sie im Krankenhaus behandelt. Ihre Wunde war noch nicht verheilt, da hielt sie es dort nicht mehr aus und verließ das Krankenhaus früher, als es die Ärzte erlaubt hatten. Sie erklärte, solange sie bei Galle die Abtreibung nicht vorgenommen hätte, bekäme sie keinen Bissen mehr hinunter und täte kein Auge mehr zu. So sehr liege die Sache ihr am Herzen.

»Da sieh einer an, so verantwortungsvoll ist sie! Was denkst du, ist sie überhaupt noch ein Mensch? Sie ist ein Dämon! Ein Teufel!« Mein Vater seufzte.

Chen Nase und seine kleine Tochter Ohr wurden in der Kommune eingesperrt.

Man erzählt sich, dass man die beiden an den Armen aufgehängt und ausgepeitscht habe, damit sie Galles Versteck verrieten.

Aber das sind Gerüchte.

Der Dorfkader sei dort gewesen und habe anschließend berichtet, sie seien in einem Raum eingesperrt gewesen, eine Pritsche mit Matratze, eine Thermoskanne und zwei Becher hätten sie gehabt, Essen und Wasser seien ihnen auch gebracht worden. Die hätten das Gleiche zu essen bekommen wie die Kommunekader: Hefenudeln aus hellem Mehl, Hirsereisbrei und dazu immer Gemüse. Die beiden hätte man dort weiß und rund gefüttert. Natürlich hätten sie das Essen nicht umsonst bekommen! Das hätten sie bezahlen müssen. Chen Nase sei schließlich ein reicher Geschäftsmann gewesen. Die Kommune sei mit der Bank übereingekommen, dass alles Geld, was er auf der Bank hatte, abgehoben und gepfändet werden konnte. Es seien achtunddreißigtausend Yuan gewesen.

Während deine Tante im Krankenhaus lag, schickte die Kommune eine Arbeitsgruppe ins Dorf. Man hielt eine Vollversammlung ab und gab einen politischen Beschluss bekannt.

»Alle Dorfbewohner, die in der Lage sind, zu Fuß zu gehen, haben Wang Galle zu suchen. Dafür werden jedem zusätzlich fünf Yuan täglich ausbezahlt. Bezahlt wird dieses Geld von den achtunddreißigtausend Yuan, die Chen Nase auf der Bank hat.«

Die Dörfler wollten eigentlich nicht kommen, um sich das Geld auszahlen zu lassen, denn sie fanden, dass es unredlich verdientes Geld sei. Aber es musste sein, denn wer sich verweigerte, dem wurden fünf Yuan vom Lohn abgezogen. Also gingen alle hin. Über siebenhundert Leute gab es im Dorf. Am ersten Tag kamen mehr als dreihundert. Abends bekam man den »Zuschuss« ausbezahlt, auf einen Schlag wurden Chen Nase tausendachthundert Yuan abgezogen.

Die Kommune gab noch bekannt, dass demjenigen, der Galle aufspürte und zurückbrächte, eine Belohnung von zweihundert Yuan ausbezahlt werde. Wichtige Hinweise auf ihren Aufenthaltsort würden mit hundert Yuan belohnt.

Im Dorf entstand ein Durcheinander wie in einem Bienenkorb. Wie die Verrückten spuckten die einen in die Hände und legten fröhlich los. Andere grämten sich im Geheimen darüber.

Vater sagte, es habe tatsächlich welche gegeben, die sich gerne die zweihundert oder hundert Yuan Belohnung verdient hätten. Die meisten aber hätten nicht richtig gesucht, nur draußen auf dem Feld zwei, drei Runden gedreht und kurz nach Wang Galle gerufen:

»Galle, komm raus! Wenn du nicht rauskommst, haben die euer Geld bald bis auf den letzten Rest an die Leute verteilt!«

So hätten sie ein paar Mal gerufen und seien dann nach Hause verschwunden, um an ihre Arbeit zu gehen. Abends hätten sie natürlich den Zuschuss abholen müssen, denn sonst hätte man ja Strafe zahlen müssen.

»Ist Galle noch nicht gefunden worden?« fragte ich.

»Wo soll man denn suchen? Ich schätze mal, sie ist über alle Berge. Doch wohin soll ein so kleines Persönchen laufen? Ein Schritt gerade mal zwei kleine Spannen lang, dazu ist sie noch hochschwanger.«

Ich sagte: »Ich schätze, sie wird irgendwo im Dorf versteckt.« Nun flüsterte ich: »Vielleicht ist sie ja doch bei ihrer Mutter.«

»Und darauf musst jetzt ausgerechnet du aufmerksam machen, oder wie? Die Leute in der Kommune«, so mein Vater, »sind so durchtrieben. Die würden am liebsten den gesamten Boden unter Wang Beins Haus einen Meter tief umpflügen und auch noch den Kang auseinanderreißen, um nachzusehen, ob er sie darin verborgen hält. Ich schätze mal, keiner wagt es, sie zu verstecken. Darauf steht eine Strafe von dreitausend Yuan.«

»Ob sie auch nicht auf dumme Gedanken kommt? Sollte man mal im Brunnen oder am Fluss schauen, ob sie sich was angetan hat?«

Vater widersprach: »Da unterschätzt du dieses kleine Persönchen gehörig! Da kannst du die gesamten Dörfler bei uns zusammennehmen, die reichen nicht an sie heran. Großherzig, duldsam und klug ist sie. Ihre Intelligenz übertrifft die eines Zweimetermannes um Längen.«

Mein Vater hatte Recht, ich erinnerte mich an Galles lebhaftes kleines Gesicht. An ihren manchmal listigen Blick, ihre Verbissenheit und ihre starken Nerven. Besorgt sagte ich: »Sie ist wohl schon im siebten Monat?«

»Deswegen dreht deine Tante ja so durch. Sie sagt immer, ist es noch nicht durch die Ofentür, so ist es nur ein Stück Fleisch, und da wird auf Teufel komm raus küretiert und ohne Wenn und Aber abgetrieben. Doch ist es erst durch die Ofentür, zählt es als Mensch. Dann macht es auch nichts, wenn ein Arm oder ein Bein fehlt. Ist es ein Mensch, genießt es den Schutz des Gesetzes.«

Mir erschien im Geiste Galles Gestalt, nicht einmal einen Meter groß, mit dem riesengroßen Bauch einer Hochschwangeren, das kleine, scharfsinnige Köpfchen hoch erhoben. Auf ihren kurzen, zarten Beinchen trippelt sie schnell mit einem großen Bündel unter den Armen durch dorniges Gestrüpp entlang der öden Straße. Abgehetzt, auf der Flucht. Sehe vor mir, wie sie strauchelt, weiterrennt, sich umschaut, doch stürzt, sich aufrappelt, weiterrennt ... Oder wie sie in einem großen Fass sitzt, so einem, in dem die Bauern bei uns Sojabohnenpaste machen, schwer keuchend, während sie der brodelnde Fluss hin und her schaukelnd mit sich führt ...

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