7
Ich bin wirklich ein in jeder Hinsicht willensschwacher Mann.
Ursprünglich dachte ich, dass ich es Renmei schuldig sei, in meiner und Shizis Hochzeitsnacht bis zum Morgengrauen meditierend vor einer roten Kerze zu sitzen. Weil ich ihr nur so meine ehrliche Reumütigkeit und Sehnsucht zeigen könnte. Aber ich habe vor mich hinbrütend nur bis Mitternacht durchgehalten, dann bin ich schwach geworden und habe Arm in Arm mit Shizi im Bett gelegen.
Als ich Renmei heiratete, goss es in Strömen, in meiner Hochzeitsnacht mit Shizi goss es in Strömen und es ging ein Sturm. Es war eine Gewitternacht, Blitze zuckten unablässig vom Himmel, grell blauweißes Licht blendete, gefolgt von ohrenbetäubendem Donnern, und der Regen prasselte wie aus Kübeln nieder. Von überall her dröhnte das Klatschen und Prasseln der Wassermassen in unseren Ohren, der feuchte Wind mit dem Geruch von nasser Erde und verfaulten Pfirsichen drang durch die Ritzen der alten Holzfenster ins Hochzeitszimmer.
Die rote Kerze war fast heruntergebrannt und flackerte, bis sie verglimmt war. Ich begann mich zu fürchten. Die Blitze zuckten alle paar Sekunden vom Himmel, im zittrigen Lichtschein des Blitzes sah ich Shizis weit geöffnete Augen aufblinken. Ihr Gesicht leuchtete golden auf. Dann folgte der Donner, so nah, als wäre es bei uns auf dem Hof, brenzliger Geruch stach uns in die Nase. Shizi schrie auf, ich nahm sie schnell in die Arme.
Ich hatte befürchtet, sie wäre ein Brett, nicht erwartet, dass sie eine Papaya war. Eine fleischige, üppige Papaya, die bei der leisesten Berührung vor Saft triefte. Ihr Fleisch war reifes Papayafleisch und duftete genauso.
Es ist schäbig, wenn ein Mann seine erste Frau mit der zweiten vergleicht. Ich zwang mich, keine derart blöden Gedanken zuzulassen, aber mein Kopf gehorchte mir nicht.
Als unsere beiden Körper sich vereinten und ich in ihr und sie um mich war, waren auch unsere Herzen vereint.
Ich sagte den schamlosen Satz: »Kleiner Löwe, ich finde, wir zwei sind noch mehr Mann und Frau, als ich es mit Renmei war.«
Sie schloss mir sofort mit ihrer Hand den Mund: »Es gibt Dinge, die sollten einem nicht über die Lippen kommen.«
»Leber hat mir aufgetragen, dir und Gugu etwas zu sagen. Er hat Galle bereits nach Kiautschou gebracht. Sie hat den Überlandbus nach Yantai genommen und ist von dort in die Mandschurei gereist.«
Kleiner Löwe drehte sich um und setzte sich auf. Es blitzte wieder, und der Lichtschein flackerte über ihren Körper. Ihr Gesicht, soeben noch voller Leidenschaft, war streng und frostig geworden. Sie legte sich wieder hin und kroch in meine Arme, dann flüsterte sie mir ins Ohr: »Lügt er weiter so, bin ich mir erst recht sicher, dass Galle noch hier ist.«
»Und wollt ihr sie«, fragte ich, »jetzt laufen lassen?«
»Dazu kann ich nichts sagen. Das hängt von deiner Tante ab.«
»Würde Gugu das tun?«
»Unmöglich. Wenn sie sie laufen lässt, dann ist sie nicht mehr sie selbst.«
»Warum seht ihr tatenlos zu? Worauf wartet ihr? Wisst ihr denn nicht, dass sie schon fast im achten Monat ist?«
»Es stimmt nicht, dass Gugu tatenlos zusieht, sie hat viele Spitzel, die für sie im Verborgenen Nachforschungen anstellen.«
»Habt ihr es herausbekommen?«
»Was das angeht ...« Sie zögerte einen Augenblick und fuhr dann fort: »Ich brauche ja wohl keine Geheimnisse vor dir zu haben. Sie halten sie bei Yanyans Oma versteckt. Sie befindet sich in dem Erdloch, in dem sie auch Renmei versteckt hatten.«
»Und was wollt ihr jetzt machen?«
»Ich höre auf Gugu.«
»Was will Gugu denn tun? Dasselbe wie beim letzten Mal?«
»Nein, so dumm ist sie nicht.«
»Was dann?«
»Gugu hat bereits jemanden zu Chen Nase geschickt, um ihm ausrichten zu lassen, dass wir wissen, wo Galle sich versteckt hält. Und dass er den Wangs bestellen soll, wenn sie Galle nicht herausgeben, kommen wir mit dem Kettentrecker und planieren ihr Gehöft und die Gehöfte ihrer vier Nachbarn.«
»Yanyans Großvater und Großmutter werden sich stur stellen. Ihr wollt doch nicht wirklich die Häuser der Leute niederreißen und planieren?«
»Gugu geht nicht davon aus, dass die Wangs Galle ausliefern. Sie will, dass Nase sie aus eigenem Antrieb dort wegholt. Sie hat Nase versprochen, dass er sein gesamtes Geld zurückbekommt, sobald er Galle zu ihr bringt und sie das Kind wegmachen lässt. Achtunddreißigtausend Yuan – ich bin überzeugt, dass wir ihn mit diesem Angebot weich klopfen können.«
Ich seufzte tief: »Warum wollt ihr das Leben des Kindes vernichten, es ausmerzen ... Renmei habt ihr schon getötet. Reicht euch das nicht?«
»Wang Renmei war selbst schuld, es war doch nur gerecht«, sagte Kleiner Löwe ungerührt.
Ich spürte, dass ihr Körper plötzlich kühl geworden war.
8
Der Himmel war ständig bewölkt, es regnete ununterbrochen. Die Straßen waren überschwemmt und der Fluss führte Hochwasser. Die Lastwagen, die sonst aus den angrenzenden Provinzen kamen, um uns die großen Pfirsiche abzukaufen, die wir in Gaomi anbauen, kamen nicht.
Alle hatten ihre Pfirsichernte eingebracht. Die vollen Körbe hatte man wie kleine Hügel übereinander gestapelt und zum Schutz vor dem Regen mit Folie abgedeckt. Andere Pfirsiche lagen unordentlich aufgetürmt in den Pfützen im Hof herum und litten unter dem prasselnden Dauerregen. Chinesische Saftpfirsiche lassen sich nicht gut lagern, deshalb war im letzten Jahr der Lastwagen des Händlers, der uns die Pfirsiche abkauft, direkt zu uns an die Plantage herangefahren. Wir pflückten, wogen gleich vor dem Auto und luden auf. Die Fahrer scheuten keine Mühen und fuhren die Fracht über Nacht zum Verkauf in fünfhundert Kilometer und noch entfernter gelegene Städte. In diesem Jahr wollte uns der Himmel nach Jahren reichen Pfirsichglücks offensichtlich eine Strafe erteilen. Seit die Pfirsiche reif waren, gab es keinen einzigen Tag mehr mit blauem Himmel. Nur noch Regenwetter, mal regnete es Bindfäden, mal nieselte es. Hätten wir die Pfirsiche nicht gepflückt, wären sie am Baum verrottet. Aber wenn wir sie schon gepflückt bereithielten, blieb uns der leise Hoffnungsschimmer: Sobald die Wolken aufreißen, rauf mit ihnen auf den Laster und ab in die Stadt! Aber jener Tag ließ auf sich warten. Es gab keinerlei Hinweis auf einen Wetterumschwung.
Wir hatten nur noch dreißig Pfirsich- und Aprikosenbäume, weil mein Vater schon alt war, sich mit der Baumpflege nicht gut auskannte und weil der Ertrag meist gering war; doch dreitausend Kilo waren doch zusammengekommen. Wir besaßen auch nur wenige Obstkörbe, gerade mal sechszehn hatten wir gefüllt und im Seitenhaus auf den Gang gestellt. Die restlichen Früchte lagen aufgehäuft unter einer Plastikplane im Hof.
Ständig trieb es meinen Vater in den Regen hinaus, wo er die Plane hochhob und prüfend einen der Pfirsiche in die Hand nahm. Jedes Mal, wenn er sie lüftete, roch es faulig.
Seit ich mit Shizi verheiratet war, lebte meine Tochter bei meinem Vater. Immer wenn er durch den Regen in den Hof ging, lief meine Tochter mit einem kleinen Kinderregenschirm, der mit Tierbildern bedruckt war, hinterher.
Meine Tochter behandelte mich und meine Frau kühl, aber einigermaßen höflich. Wenn Kleiner Löwe Süßigkeiten für sie hatte, verschränkte sie beide Hände auf dem Rücken, sagte aber trotzdem: »Danke, Tante.«
Ich fiel ihr ins Wort: »Mama sollst du sagen.«
Meine Tochter warf mir einen überraschten Blick zu.
Kleiner Löwe sagte sofort: »Nicht nötig. Du brauchst mich nicht so zu nennen! Die anderen nennen mich Kleiner Löwe.« Sie zeigte auf einen kleinen Löwen auf dem bunten Regenschirm. »Nenn du mich Großer Löwe.«
»Frisst du Kinder?«, fragte meine Tochter.
»Ich fresse keine Kinder. Mein Beruf ist es, Kinder zu beschützen.«
Vater kam wieder zur Tür herein, seinen Bambusstrohhut hatte er mit angefaulten Pfirsichen gefüllt. Während er sie mit einem rostigen Messer schälte, seufzte er in einem fort.
»Wenn wir schon welche essen, können wir doch die guten nehmen«, sagte ich.
»Die sind bares Geld!«, erwiderte Vater: »Heutzutage fühlt sich keiner mehr dem Volk verpflichtet.«
»Vater!« Kleiner Löwe tat sich noch etwas schwer mit dieser Anrede, es klang aufgesetzt. »Die Regierung wird sich in jedem Fall darum kümmern, man wird bestimmt größten Einsatz zeigen.«
»Ach was, die Regierung ist mit der Geburtenplanung beschäftigt, was anderes kümmert die doch gar nicht«, erwiderte Vater ausgesprochen vorwurfsvoll.
Da ertönte aus den Lautsprechern der Dorfparteizentrale in schrillen Tönen eine Nachricht. Vater, in Sorge, dass er etwas verpassen könnte, eilte sofort hinaus auf den Hof und horchte.
Es war eine Lautsprecherdurchsage, dass die Kommune mit den Städten Qingdao und Yantai die Abnahme der Pfirsiche geregelt habe und dass diese Lastwagenkonvois zu dem fünfundzwanzig Kilometer entfernten Fähranleger in Wujiaqiao schicken würden, um dort die Pfirsiche aus dem Nordosten Gaomis anzukaufen. Die Kommune rufe alle dazu auf, die Pfirsiche zu Wasser wie zu Lande nach Wujiaqiao zu befördern. Der Abnahmepreis betrage zwar nur die Hälfte des Vorjahrespreises, das sei aber immer noch besser, als alle Pfirsiche verderben zu lassen.
Die Durchsage war kaum zu Ende, da brodelte es im gesamten Dorf. Ein geschäftiges Treiben begann, ich wusste, dass diese Geschäftigkeit nun alle Dörfer in ganz Nordost-Gaomiland erfassen würde.
Obwohl wir hier am Fluss leben, besaßen wir nur wenige Boote. Ursprünglich hatte zwar jede Produktionsbrigade ihr eigenes kleines Holzboot gehabt, aber als die familienverantwortlichen Ablieferungsquoten eingeführt wurden, verschwanden die Boote schnell.
In jedem Menschen schlummert eine schier unermessliche Schöpferkraft. Dieser Ausspruch stimmt haargenau.
Vater ging ins Seitenhaus und holte vom Gebälk vier Kalebassen herunter, dann schleppte er vier Bretter herbei, besorgte auch noch einen Strick und band alle Teile zu einem Floß zusammen. Ich zog meine Jacke aus und half ihm in Hose und Unterhemd bei der Arbeit. Kleiner Löwe hielt mit dem aufgespannten Schirm den Regen von mir ab. Meine Tochter hatte ihren kleinen Kinderschirm ebenfalls aufgespannt und rannte im Hof hin und her. Ich forderte meine Frau auf, den Schirm über meinen Vater zu halten, um lieber ihn vor dem Regen zu schützen, aber er wehrte ab. Er hatte sich eine Plastikplane um die Schultern gebunden, sein Kopf war dem Regen ungeschützt ausgesetzt. Schweiß und Wasser mischten sich und liefen in Rinnsalen über sein Gesicht.
So ein alter Bauer wie mein Vater ist bei der Arbeit immer voller Konzentration, packt immer gezielt und kraftvoll zu, tut keinen einzigen überflüssigen Handgriff. Das Floß war schnell zusammengebunden.
Als wir es hinaustrugen, herrschte am Flussdeich schon Hochbetrieb. Die verschwundenen Holzboote waren plötzlich alle wieder aufgetaucht. Außer ihnen wurden rund dreißig Flöße zu Wasser gelassen. Man hatte Kalebassen, prall gefüllte Autoreifen und Kunststoff unter die Flöße gebunden. Und ein Holzbottich schaukelte auch auf dem Wasser. Wer den wohl zu Wasser gelassen hatte? Die Schiffe und Flöße waren alle an dem alten Weidenbaum am Ufer vertäut. Aus den Gassen kamen die Bauern mit ihren Körben voller Pfirsiche eilig gelaufen.
Diejenigen, die Maultiere oder Esel besaßen, hatten die Tragkörbe ihrer Lasttiere schon zu beiden Seiten mit Pfirsichen beladen. Dreißig oder vierzig standen in einer Reihe am Flussdeich bereit.
Ein Kommunekader, der durch den Fluss hergeschwommen war, stand in Regenkleidung, mit aufgekrempelten Hosenbeinen und Sandalen in der Hand triefend am Flussdeich und rief lauthals irgendetwas.
Ich bemerkte direkt vor dem unseren ein prächtiges Floß. Vier Spießtannenstämme waren mit Rindslederriemen zu einem viereckigen Rahmen zusammengefügt. Den Raum innerhalb des Rahmens füllten akkurat nebeneinandergelegte Rundhölzer aus. Unter das Floßholz waren vier prall gefüllte Reifen eines Pferdewagens gebunden. Obwohl auf dem Floß bereits mehr als zehn Körbe standen, tauchte es kaum ins Wasser ein. Durch die vier Reifen erfuhr es einen gewaltigen Auftrieb. In der Mitte und in jeder der vier Ecken hatte man noch fünf senkrecht stehende Hölzer aufgebunden, über die eine hellblaue Plastikplane gespannt war, die vor Sonne und Regen schützte. Ein solches Floß war nicht innerhalb eines Vormittags schnell zusammengezimmert worden! Wang Bein trug sein Palmstrohcape und seinen Bambushut und hockte vorn auf dem Floß: fast wie ein Fischer beim Angeln.
Unser Floß hatte nur sechs Körbe Pfirsiche geladen und tauchte schon gefährlich tief ins Wasser ein. Aber Vater bestand darauf, noch zwei weitere aufzuladen.
Ich sagte: »Wenn du noch zwei auflädst, kommst du besser nicht mit. Ich stake allein.«
Ich vermutete, dass mein Vater unbedingt selbst das Floß führen wollte, weil ich gerade erst geheiratet hatte. Darum sagte ich: »Ach, komm schon, Vater, schau dir all diese Leute auf dem Fluss an. Kein einziger in deinem Alter ist dabei.«
Vater gab nach: »Dann sei aber vorsichtig, mein Sohn!«
»Sei beruhigt, Vater. Und wenn ich was kann, dann schwimmen!«
»Falls Wind aufkommt und die Wellen höher schlagen, schmeiß die Pfirsiche ins Wasser«, meinte Vater.
»Sei ganz beruhigt«, sagte ich noch und winkte Shizi zu, die mit meiner Tochter an der Hand am Ufer stand. Sie winkte zurück.
Vater machte den Strick vom Baum los und warf ihn mir aufs Floß zu. Ich fing ihn, wickelte ihn auf, nahm den Staken und stieß mich vom Ufer ab. Ich stakte mit aller Kraft vorwärts; das schwere Floß kam langsam in Fahrt.
»Sei vorsichtig!«
»Verlass dich auf mich!«
Ich blieb in Ufernähe.
Die Mulis und Esel am Ufer kamen im gleichen maßvollen Tempo voran wie wir Flößer. Mit den schweren Tragkörben konnten die Tiere nur mühsam Schritt vor Schritt setzen. Einige der Bauern hatten es sich nicht nehmen lassen, ihren Lasttieren bimmelnde Glocken um den Hals zu hängen. Die Alten und die Kinder begleiteten die Karawane ein Stück zum Dorf hinaus. Dann kehrten sie um.
Der große Fluss macht am Dorfausgang eine scharfe Biegung. Hier müssen Boote und Flöße die Stromschnellen überwinden. Wang Bein, der die ganze Zeit über vor mir stakte, verließ unseren Konvoi und wendete sein Floß flussabwärts, um in das ruhige Wasser der Flussbiegung zu gelangen.
Dort am Ufer wächst dichtes, grünes Gebüsch. Unmengen von Zikaden sitzen laut zirpend in den Zweigen.
Schon vom ersten Augenblick an, als mir dieses Luxusfloß der Wangs aufgefallen war, hatte ich die Vorahnung, dass etwas passieren würde. Und wirklich: Wang Bein warf die Pfirsichkörbe ins Wasser. Sie trieben auf der Wasseroberfläche. Es war offensichtlich, dass er keine Pfirsiche darin gehabt hatte. Er stocherte mit dem Staken im Gebüsch. Da sah ich den riesigen Chen Nase mit seiner schwangeren Frau Galle auf dem Arm auf das Floß springen. Hinter ihm stand Wang Leber mit der kleinen Ohr auf dem Arm; auch er sprang auf das Floß.
Als sie dann die hellblaue Plastikplane an den Floßmasten herunterließen, wurde daraus ein undurchsichtiger Vorhang. Wang Bein stand mit dem langen Staken in der Hand in derselben respekteinflößenden Pose auf dem Floß, wie er einst mit der Peitsche in der Hand auf dem Karren über der Deichsel gestanden und das Muli angetrieben hatte. Er war so imposant wie früher. Mit kerzengeradem Rückgrat!
Gugu hatte mit ihrer Behauptung Recht gehabt, dass das gebückte Gehen und der Buckel nur gespielt seien. Und von wegen Vater und Sohn hätten den Kontakt zueinander abgebrochen! Nun konnte man sehen, dass alles nur Gerede gewesen war und dass Vater und Sohn sofort Seite an Seite kämpften, wenn es drauf ankam.
Aber wie auch immer. Aus tiefstem Herzen wünschte ich ihnen Glück. Ich hoffte, dass sie mit Galle fliehen konnten, dass sie ihr Ziel erreichten. Sicher fand ich es auch ein bisschen schade, dass die vielen Schlachtpläne, die Gugu wegen der beiden entworfen hatte, nun vertane Zeit gewesen sein sollten.
Wang Beins Floß hatte einen gewaltigen Auftrieb. Trotz der Last lag es leicht im Wasser und hatte uns alle schnell überholt.
Aus den Dörfern zu beiden Seiten des Flusses ließen die Bauern Flöße und kleine Boote zu Wasser. Als wir am Dorf Dongfeng vorbeikamen, in dem Gugu einmal blutig geschlagen worden war, reihten sich in der Mitte des Flusses schon viele Hundert Flöße und genauso viele Boote zu einem breiten Band auf, um gemeinsam stromabwärts zu fahren.
Mein Blick folgte unablässig dem Floß der Wangs, ich wollte es nicht aus den Augen verlieren. Obwohl es uns überholt hatte, konnte ich es noch die ganze Zeit über vor mir ausmachen.
Zweifelsohne war ihr Floß an diesem Tag das stolzeste von allen. Als würde ein Hummer Predator in einem Autokonvoi zwischen lauter billigen Taxis fahren.
Es war ein stolzes Floß; dazu war es geheimnisvoll. Wer es an der Flussbiegung beobachtet hatte, wusste natürlich, welches Geheimnis dieser Plastikvorhang verbarg. Aber auch jeder, der den Vorhang auf dem Floß zum ersten Mal sah, blickte verstohlen hin und machte sich seine Gedanken.
Denn wie auch immer man es betrachtete, eines musste jedem sonnenklar sein: Dieses Floß hatte keine Pfirsiche geladen.
Wenn ich heute daran zurückdenke, wie Gugu mit ihrem zur Durchsetzung der Geburtenpolitik zur Verfügung gestellten Motorboot in voller Fahrt an unseren Flößen vorbei durchs Wasser stob, bekomme ich immer noch heftiges Herzklopfen.
Dieses Patrouillenboot war nicht mehr der alte, simple Kahn von 1970, sondern ein hellbeiges, stromlinienförmiges Schnellboot. An der Vorderseite des halb geschlossenen Führerhäuschens blinkten glasklare Acrylscheiben; der Bootsführer war derselbe, immer noch Qin Strom, aber sein Haupthaar war inzwischen schlohweiß.
Gugu und meine frischgebackene Ehefrau Shizi standen an Bord und hielten sich am Gestänge des Führerhäuschens fest. Der Fahrtwind presste ihnen die Kleidung eng an den Körper. Ich sah auf Shizis kugelrunde, volle Brüste. Tausend verworrene Gefühle bestürmten mich. Hinter ihnen auf den Bänken zu beiden Seiten saßen vier Männer. Die hochschießenden Bugwellen des dahinfliegenden Bootes bespritzten unsere Flöße. Durch den Schwall der Heckwelle gerieten sie gefährlich ins Schwanken.
Ich bin mir sicher, dass Shizi mich gesehen haben musste, als das Patrouillenboot unmittelbar an meinem Floß vorbeistob. Aber sie grüßte mich nicht einmal.
Die Shizi, die mich erst zwei Tage zuvor geheiratet hatte, war eine vollkommen andere. Traumbilder ergriffen von mir Besitz, ich fühlte, wie mir die Wirklichkeit entglitt; an alles, was geschehen war, erinnerte ich mich nur noch schemenhaft. Shizis Kälte ließ mich sofort Partei für die Verfolgten ergreifen. »Galle! Flieh, so schnell du kannst! Wang Bein, stake schneller!«
Gugus Boot schnitt unseren Konvoi und preschte auf das allen voran treibende Floß der Wangs zu.
Qin Strom drosselte den Motor und ging längsseits. Es waren kaum noch Motorengeräusche zu hören, zwischen Streifenboot und Floß gab es nur noch wenige Meter Abstand. Das Patrouillenboot näherte sich dem Floß immer mehr. Offenbar wollte Gugu es so ans Ufer drängen. Wang Bein wandte sich zur Seite und stieß sich mit dem Staken von der Breitseite des Motorboots ab. Er hatte wahrscheinlich die Falle durchschaut, aber die Wechselwirkung seiner Bewegungen führte nur dazu, dass sein Floß erst recht aus dem schnell fließenden Wasser der Flussmitte an den Rand gedrängt wurde.
Einer der Männer an Bord des Patrouillenbootes nahm eine Stange mit einem Enterhaken und angelte damit nach der Plastikplane. Er erwischte sie und zog mit kräftigem Ruck. Geräuschvoll riss sie entzwei. Er hantierte noch ein paar Mal, bis auf dem Floß alles deutlich zum Vorschein kam.
Wang Bein trommelte mit seinem Staken wild auf den Mann ein. Der parierte die Schläge mit seiner Stange. Wang Leber und Chen Nase griffen sich jeder schnell ein Ruder, setzten sich zu beiden Seiten auf den Rand des Floßes und ruderten wie von Sinnen.
Zwischen beiden saß die winzige Wang Galle, die mit dem linken Arm ihr Töchterchen Ohr schützte, das sein Gesicht unter der Achsel der Mutter vergraben hatte. Mit dem rechten Arm hielt sie ihren kugelrunden Schwangerenbauch umfasst. Zwischen dem lauten Krachen der wild aufeinanderschlagenden Staken und den platschenden, spritzenden Wassermassen ertönte Galles schrilles Kreischen: »Gugu, ich flehe dich an, lass Gnade walten! Lass uns am Leben!«
Als das Floß begann, sich Stückchen für Stückchen vom Patrouillenboot zu entfernen, sprang Kleiner Löwe entschlossen in Floßrichtung in den Fluss. Mit lautem Plumpsen fiel sie ins Wasser. Sie konnte nicht schwimmen. Sie sank, trieb, schien zu ertrinken. Gugu schrie um Hilfe, jemand solle sie retten. Chen Nase und Wang Leber nutzten die Chance und ruderten, was sie konnten. Das Floß erreichte wieder das schnell fließende Wasser in der Flussmitte.
Shizi zu Hilfe zu kommen, kostete Zeit. Einer der Männer an Bord streckte ihr den Enterhaken hin, damit sie ihn ergreifen konnte, sie griff jedoch nach seinem Bein, so dass er ebenfalls ins Wasser fiel. Auch er war so ein Exemplar von Nichtschwimmer. Den übrigen Männern blieb nichts anderes übrig, als ebenfalls von Bord in den Fluss zu springen, um den Kameraden zu retten. Der Bootsführer Qin Strom verlor zunehmend die Kontrolle über das Boot, Gugu sprang wutentbrannt darauf herum und herrschte ihre Leute an.
Keiner der Bauern auf den Flößen und in den Booten wollte Shizi retten. Aber weil sie schließlich meine Ehefrau war, stakte ich mein Floß kräftig vorwärts, um in ihre Nähe zu kommen. Von der Seite kam ein Floß quer auf mich zugeschossen, fast wäre das meine zerschellt. Ihr Kopf war immer seltener über der Wasseroberfläche zu sehen, immer weniger. Ich zauderte nicht mehr, gab den Staken und die Pfirsiche auf und sprang in die reißende Strömung. Ich kraulte meiner Frau entgegen, um sie zu retten.
In dem Moment, als Kleiner Löwe ins Wasser sprang, entstand ein großes Fragezeichen in meinem Herzen. Später berichtete sie mir – und sie tat es in einem Tonfall, als berichte sie mir von einer erfolgreich absolvierten Arbeit –, sie sei genau in dem Moment in den Fluss gesprungen, als sie frisches Blut gerochen habe. Diesen unverwechselbar heiligen, reinen Geruch des Blutes einer Gebärenden. Auch habe sie das Blut an Galles Schenkeln entdeckt. Sie sei mit voller Absicht ins Wasser gesprungen – so konnte man diesen Sprung natürlich auch erklären –, um Zeit zu gewinnen! Sie hatte ihr Leben riskiert.
Sie erklärte mir, sie habe für die kleine Seele auf dem Fluss gebetet: ›Galle, beeil dich! Bekomm jetzt dein Baby! Jetzt! Beeil dich! Schnell, ist dein Kind erst durch die Ofentür, so zählt es als Menschenleben, so ist es ein Bürger der VR China, so wird es beschützt. Kinder schmücken unser Vaterland wie Blumen! Kinder sind die Zukunft unseres Vaterlandes!‹
»Natürlich«, fügte sie hinzu, »habe ich mir nicht eingebildet, dass ich Gugu hinters Licht führen könnte. Wenn ich nur einmal nicht gleich pariere, weiß sie sofort, dass ich was auf dem Kerbholz habe.«
Als Kleiner Löwe und die anderen über Bord gegangenen Kader der Geburtenplaner endlich wieder alle an Bord waren, hatte sich das Floß der Wangs schon mehrere Kilometer entfernt.
Qin Strom war der Bootsmotor ausgegangen, nun war er schweißüberströmt dabei, ihn neu zu starten. Gugu donnerte und tobte. Kleiner Löwe und die Kader saßen im Boot, hielten die Köpfe über den Rand und erbrachen in einem fort Wasser.
Plötzlich hielt Gugu inne.
Sie polterte nicht mehr, sondern wurde still. Über ihr Gesicht schlich ein bitteres, trostloses Grinsen. Ein Sonnenstrahl kam zwischen den Wolken hervor, huschte über ihr Antlitz und verlor sich in den wogenden Wellen auf dem Wasser. In diesem Moment sah sie aus wie ein Held, der am Ende ist und keinen Ausweg mehr sieht.
Sie sagte leise zu Qin Strom: »Hör auf, dich zu verstellen! Schluss mit dem Theater!«
Qin Strom schaute sie einen Moment lang überrascht an. Dann zündete er augenblicklich und problemlos den Motor. Das Schnellboot preschte pfeilgeschwind auf das Floß der Wangs zu.
Ich klopfte Shizi den Rücken und beobachtete verstohlen die Tante. Sie sah niedergeschlagen aus, die Augen nur einen Spaltbreit geöffnet; ab und an bleckte sie die Zähne und grinste.
An was sie wohl dachte? Mir fiel plötzlich ein: Sie ist schon siebenundvierzig! Ihre Jugend und die Blüte ihres Lebens sind vorüber und sie bewegt sich auf dem Weg jenseits ihrer Lebensmitte. In ihren leidgeprüften, lebenserfahrenen Gesichtszügen konnte man schon die Wehmut des Alters lesen.
Ich erinnerte mich an das, was meine Mutter uns zu Lebzeiten mehrfach erklärt hatte: »Wozu sind die Frauen geboren? Frauen sind zum Kinderkriegen geboren. Die Frau erwirbt durch das Kinderkriegen Stand und Rang, sie erwirbt durch das Kinderkriegen Respekt und Würde, und sie empfängt durch das Kinderkriegen im höchsten Maße Glück und Ehre. Kann eine Frau keine Kinder bekommen, so ist das eine Tragödie. Denn ohne Kinder ist sie keine richtige Frau. Das Herz einer Frau, die nie Kinder geboren hat, wird hart; und wenn sie keine Kinder geboren hat, altert sie auch besonders schnell.«
Mutter hatte damit Gugu gemeint. Aber sie hatte es nie in ihrer Anwesenheit gesagt. Hatte das gealterte Aussehen der Tante wirklich etwas damit zu tun, dass sie niemals Kinder bekommen hatte? Sie war siebenundvierzig. Wenn sie sich jetzt beeilte und heiratete? Könnte sie dann vielleicht noch welche haben? Aber woher einen passenden Mann nehmen?
Tantes Boot hatte das Floß der Wangs im Nu eingeholt. Als sie ihm näher kamen, drosselte Qin Strom die Geschwindigkeit und manövrierte das Boot sachte längsseits.
Wang Bein stand mit dem Staken in der Hand am Heck, in einer Pose, als wolle er jeden Augenblick bis aufs Blut kämpfen.
Wang Leber hatte die kleine Ohr auf dem Arm. Er saß am Bug des Floßes.
Chen Nase stand mitten auf dem Floß, hielt seine Frau umfasst, weinte und lachte und brüllte gleichzeitig: »Galle, beeil dich und bring unser Kind zur Welt! Nun mach schon, Liebes. Krieg es jetzt, dann darf es am Leben bleiben! Wenn du’s jetzt kriegst, dann trauen die sich nicht mehr, uns zu töten! Wan Herz! Kleiner Löwe! Ihr habt verloren! Ha! Ihr seid gescheitert!«
Tränen liefen diesem hünenhaften Mann über das bärtige Gesicht und rannen in Rinnsalen herab.
Zu gleicher Zeit ließ Galle ein mark- und beinerschütterndes Brüllen hören.
Als das Patrouillenboot und das Floß zusammenstießen, beugte sich die Tante vor und streckte eine Hand aus.
Chen Nase zog ein Messer, er schien wie von Sinnen, wie ein kaltblütiger Mörder: »Nimm deine Teufelskrallen weg!«
Gugu sagte ganz ruhig: »Das sind keine Krallen von einem Teufel. Das ist die Hand einer Frauenärztin.«
Ich bekam dieses prickelnde Gefühl in der Nase, meine Augen wurden heiß, als ich verstand, was da geschah.
Ich schrie aus Leibeskräften: »Chen Nase, lass Gugu an Bord! Hilf ihr rauf! Lass sie Galle helfen, das Kind zu bekommen!«
Ich kriegte mit dem Enterhaken den Mast des Floßes zu fassen, und Gugu konnte mit ihrem massigen Körper auf das Floß hinüberwechseln. Kleiner Löwe sprang mit dem Arzttornister in der Hand hinterher.
Als sie Galles blutdurchtränkte Hose zerschnitten, drehte ich mich zur Seite, aber meine Hand hielt mit aller Kraft den Staken fest, damit das Patrouillenboot und das Floß zusammenblieben.
Einen Augenblick lang sah ich die kleine Galle ganz deutlich vor mir: Sie lag auf dem Floß in einer riesigen Blutlache, ihr zwergenhafter Leib mit dem hoch aufragenden Bauch erinnerte an einen erschreckten Delphin.
Der Strom brodelte flussabwärts, ungerührt Tag wie Nacht.14 Die schwarzen Wolken rissen auf und plötzlich war gleißendes Sonnenlicht. Der Floßkonvoi bewegte sich flussabwärts wie eine Schlange, die mit dem Kopf wackelt und mit dem Schwanz wedelt. Mein Floß war führerlos mittendrin.
Ich war voller Erwartung, hörte Galle weiter schreien und war voller Erwartung, hörte die ans Ufer klatschenden Wellen und war voller Erwartung, hörte die Esel vom Ufer her brüllen und war voller Erwartung.
Vom Floß her ertönte der Schrei eines Neugeborenen.
Ich wandte ruckartig den Kopf und sah Gugu den zu früh geborenen Säugling in beiden Händen halten, während Kleiner Löwe ihm über dem Nabel einen Mullverband anlegte.
»Es ist wieder ein Mädchen«, sagte Gugu.
Chen Nase blickte deprimiert zu Boden, er sah aus wie ein platter Autoreifen. Mit beiden Fäusten trommelte er wild auf sein Hirn ein, verzweifelt stieß er hervor: »Es ist aus, alles ist aus! Es ist meine Schuld, dass jetzt alles aus ist. Seit fünf Generationen haben wir Chens immer wenigstens einen einzigen männlichen Erben gehabt, und nun werden die Chens mit mir aussterben.«
Gugu schnauzte ihn an: »Du Vieh!«
Obwohl Gugus Motorboot Wang Galle und ihr Neugeborenes mit Höchstgeschwindigkeit zurück zum Anleger brachte, war Galles Leben nicht zu retten.
Kleiner Löwe erzählte, dass Wang Galle kurz vor ihrem Tod noch einmal das Bewusstsein wiedererlangt habe. Sie hatte zu viel Blut verloren, ihre Gesichtshaut glich dünnem Goldpapier. Sie lächelte Gugu an und schien etwas zu murmeln. Gugu beugte sich über sie und hielt das Ohr dicht an ihren Mund. Kleiner Löwe erklärte, sie habe nicht hören können, was Galle Gugu gesagt habe, aber Gugu habe es deutlich verstanden.
Der Goldglanz wich von Galles Antlitz und es nahm eine graue Farbe an. Sie hatte die Augen weit geöffnet, aber sie strahlten nicht mehr. Ihr Körper hatte sich eingerollt und zusammengezogen wie ein zerknitterter leerer Mehlsack, wie der zurückgelassene Kokon, aus dem gerade die Motte entschlüpft ist, um in den Himmel zu fliegen. Gugu saß mit hängendem Kopf neben Galles Leichnam. Eine endlose Zeit verstrich.
Als sie sich erhob, seufzte sie schwer. Halb an Shizi gerichtet, halb ins Selbstgespräch versunken, sagte sie: »Was war das nun wieder?«
Galles Frühchen Chen Augenbraue überstand schließlich dank guter Pflege durch Gugu und Shizi die kritische Phase, in der man um sein Leben bangen musste, und überlebte.