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Ich hatte immer den Eindruck, dass Gugu über grenzenlosen Mut verfügt, dass es auf dieser Welt nichts und niemanden gibt, vor dem sie sich fürchtet. Dennoch haben ich und Kleiner Löwe mit eigenen Augen beobachtet, wie sie beim Anblick eines Frosches so in Panik geriet, dass sie krampfte, ihr der weiße Schaum vor dem Mund stand und sie bewusstlos zu Boden sank.

Es geschah an einem Vormittag im April, ich war mit meiner Frau einer Einladung Chen Backes und meines Cousins Jin Xiu in die Froschzuchtstation gefolgt, die die beiden gemeinschaftlich eröffnet hatten.

Es hat kaum ein paar Jahre gedauert, da hatte sich unser rückständiges, abgelegenes Nordost-Gaomiland völlig verändert. Beide Ufer unseres großen Flusses hatte man mit weißen, soliden Mauern befestigt. Auf die Grünstreifen an den Ufern hatte man alle möglichen seltenen Blumen und Büsche gepflanzt. Außerdem waren zu beiden Seiten des Flusses an die fünfzehn neue Viertel entstanden. Vielstöckige Plattenbauten wechselten sich ab mit Einzelhäusern im europäischen Stil. Diese Viertel am Flussufer waren inzwischen bis an die Kreisstadt herangewachsen.

Bis zum Flugplatz von Tsingtao waren es nur vierzig Autominuten. Koreanische und japanische Handelsreisende kamen in Scharen, um bei uns in den Bau von Fabriken zu investieren. Der Großteil des Ackerlandes war inzwischen zu Rasen geworden, der zum Golfplatz der Metropolregion Weifang Kiautschou gehörte.

Obwohl man unser Nordost-Gaomi inzwischen in Bezirk Chaoyang umbenannt hat, habe ich die alte Gewohnheit, meine Heimat Nordost-Gaomi zu nennen, nicht abgelegt.

Von dem Viertel, in dem wir nun wohnen, bis zur Froschzuchtfarm sind es zweieinhalb Kilometer. Mein Cousin wollte uns mit dem Auto abholen, aber das schlugen wir aus. Wir nahmen den Fußweg am Flussufer. Als wir dort entlanggingen, begegneten uns ab und an junge Frauen, die ihren Säugling im Kinderwagen spazieren fuhren. Wir gingen unmittelbar aneinander vorüber, denn der Fußweg war schmal. Diese jungen Frauen hatten, eine wie die andere, mit Feuchtigkeitscreme gepflegte Gesichter, einen reservierten Blick, und ihnen entströmte der edle Duft teurer Parfums. Die Babys in den Kinderwagen saugten brav am Schnuller, manche schliefen fest, andere schauten mit ihren schwarzen Knopfäuglein aus dem Wagen. Alle Babys hatten diesen feinen, süßen Babygeruch.

Immer, wenn ein Kinderwagen auf uns zukam, hielt Kleiner Löwe die Leute an, beugte sich mit ihrem üppigen Körper in den Wagen hinunter, streckte ihre Hand nach dem Säugling aus und streichelte die kleinen Patschhändchen und die weichen Gesichtchen. Ihr Gesichtsausdruck zeigte deutlich, dass sie sich mit jeder Faser ihres Herzens an den Babys erfreute.

Eine blonde, blauäugige Ausländerin schob einen Zwillingskinderwagen mit zwei kleinen eurasischen Babys auf uns zu. Die entzückenden Kleinen trugen Seersuckersonnenhütchen und waren niedlich wie zwei Barbiepüppchen. Kleiner Löwe streichelte beide abwechselnd, murmelte leise Worte, ihre Augen wurden feucht.

Ich sah das höflich lächelnde Gesicht der jungen Ausländerin und wie sie dann den Arm ausstreckte und Shizi an der Bluse zupfte: »Passen Sie auf, dass meine Kinder nicht Ihre Spucke aufs Gesicht bekommen!«

Shizi seufzte: »Wie kommt es wohl, dass wir uns früher gar nicht für die Kleinen interessiert haben und sie nun plötzlich so niedlich finden? Das zeigt wohl, dass wir alt geworden sind!«

»Nicht unbedingt!«, meinte die Ausländerin. »Die Kinder sind im Zuge unseres steigenden Lebensstandards auch viel hübscher als früher geworden, ihre Qualität ist sozusagen gestiegen.«

Auf dem Weg trafen wir auch ein paar alte Bekannte von früher. Man schüttelte sich die Hände, redete ein paar Brocken miteinander, pure Höflichkeitsfloskeln, sonst nichts, und beendete diese Kurzgespräche immer mit einem gemeinsamen Seufzer und zwei Sätzen wie: »Alt sind wir geworden!« – »Richtig, die Zeit vergeht wie im Fluge, kaum versieht man sich’s, und es sind wieder zehn Jahre vergangen!«

Auf dem Fluss sahen wir ein buntes Kreuzfahrtschiff gemächlich vorbeiziehen, wie ein sich vorbeischiebendes Ehrentor15. Der Wind trug besinnliche Musik an unser Ohr, im Inneren des Schiffes konnten wir Musikerinnen in historischen Kostümen chinesische Zither und Hsiao-Flöte spielen sehen, ein Bild wie von einer altchinesischen Seidenmalerei. Ab und an sauste ein Motorboot vorbei, der Bug bäumte sich über dem Wasser auf, so dass die weißen Möwen sich vor den hochspritzenden Wellen erschreckten.

Wir hielten uns an den Händen. Von außen betrachtet, hinterließen wir einen sehr vertrauten Eindruck. Aber jeder von uns war mit seinen eigenen Sorgen beschäftigt. Kleiner Löwe mochte vielleicht an die niedlichen Kinder denken, mir tauchten vor dem geistigen Auge die zwanzig Jahre alten Bilder von der furchtbaren Verfolgungsjagd auf, die mir immer noch Herzklopfen verursachten.

Wir gingen auf dem Bürgersteig der brandneuen, gerade fertiggestellten großartigen Schrägseilbrücke und überquerten den breiten Kiaulai. Es gab unter den Autos, die die Brücke passierten, viele BMWs oder Mercedes Benz, stromlinienförmig geschnittene Limousinen, wie große Möwen, die ihre Flügel ausbreiten und abheben. Auf der anderen Seite der Brücke sahen wir rechter Hand den Metropol-Golfplatz, linker Hand den Niangniang-Tempel der großen Himmelsmutter Tianhou16.

Nach dem Mondkalender war es der 18. des vierten Monats, Buddhas Geburtstag, und man feierte das traditionelle Fest im Niangniang-Tempel. Im Viertel rund um den Tempel fand man keinen einzigen freien Parkplatz mehr. An den Nummernschildern konnten wir sehen, dass die Autos größtenteils aus den umliegenden Kreisstädten gekommen waren, aber sogar aus angrenzenden Provinzen waren Gläubige mit dem Auto da.

Das Viertel war früher ein Dorf gewesen, das sich rund um den Tempel entwickelt hatte. Der Tempel hatte dem Dorf seinen Namen gegeben. Schon als Kind war ich mit meiner Mutter hierhergekommen, um Räucherwerk zu verbrennen. Obwohl es wirklich viele Jahre her war, obwohl in der Zwischenzeit so viel geschehen war, konnte ich mich noch gut daran erinnern.

Während der Kulturrevolution hatten sie den Tempel dem Erdboden gleichgemacht. Der wieder aufgebaute Tempel war noch imposanter als der alte, er besaß eine majestätische Halle und purpurne Mauern mit glasierten gelben Veluriyam-Ziegeln, wie ein chinesischer Palast.

Entlang den zwei Wegen zum Tempel drängten sich Räucherwerk- und Kerzenverkäufer und zahlreiche Stände mit Niwawa-Püppchen, hinter denen die Standbesitzer mit lauter Stimme ihre Tonkinder anpriesen:

Tonkinder für eure roten Wunschbändchen!

Niwawa-Püppchen für eure roten Wunschbändchen!

Einer der Standbesitzer trug eine lange, senfgelbe Mönchstracht und hatte einen kahlgeschorenen Schädel, unschwer war zu erkennen, dass es sich bei ihm um einen Mönch handeln musste. Er schlug im richtigen Tempo und mit den richtigen Pausen den Rhythmus auf dem Holzfisch und sang dazu:

Rotes Band am Hals des Puppenkinds,

zu Hause freu’n sich alle schon aufs Kind.

Eben noch am roten Band ins Haus geholt,

vergeh’n zwei Jahr, da ruft es Papa, Mama schon.

Meine Tonkindchen sind besonders fein,

des Künstlers Hand gab’s ganze Herzblut rein.

Niwawa-Püppchen von mir sind hübsch und bunt

mit Aprikosenwangen und ’nem Kirschenmund.

Meine Tonkindchen könnt ihr sehen

in allen unsern 108 Kreisen,

weil wir Shandonger sie am meisten

wegen ihrer Zauberkraft preisen.

Hast du ein rotes Band

um eine einzige Puppe geschwungen,

hast du alsbald einen schönen Jungen entbunden.

Bei einem Niwawa-Puppenpärchen

kriegst du Buben und Mädchen

als Drachen- und Phönixpärchen.

Bei drei Bändern mit drei Niwawa-Puppen

winken dir die drei Glücksgestirnschnuppen

mit Glück, hohem Alter, Beamtenrang.

Wählst du vier Bänder und vier von den Kindern,

nennst du alsbald die vier Lokapalas17

Himmelskönige deine dir treuen Söhne.

Bei Fünfen werden dir fünf

überragende Führerpersönlichkeiten

in den Leib der Mutter wiedergeboren,

sechs auf einen Streich gebe ich dir nicht,

da fürcht’ ich,

dass deine Frau ein Schnütchen zieht ...

Die Stimme kam mir bekannt vor. Von Nahem erkannte ich ihn: Dieser falsche Mönch war doch tatsächlich Wang Leber.

Er war gerade dabei, seine Niwawa-Püppchen an ein paar Frauen – waren es Koreanerinnen oder Japanerinnen? – zu verkaufen.

Ich sinnierte noch darüber, dass es wohl besser wäre, Kleiner Löwe erst gar nicht hinzulassen, damit Leber nicht verletzt wäre, als sie – zwei Seelen, ein Gedanke, wie man so schön sagt – sich aus meiner Hand freimachte und zu Leber hinlief.

Ich blickte ihr nach. Schlagartig war mir klar, dass sie gar nicht zu Wang Leber, sondern zu seinen Niwawa-Püppchen wollte.

Leber hatte nicht zu viel versprochen. Die Tonkinder seines Standes waren von einer einzigartigen Schönheit. Links und rechts neben ihm verkaufte man auch Tonkinder, die grellbunt bemalt waren, und, ob es nun Mädchen oder Buben waren, alle gleich aussahen. Seine Tonkinder waren kräftig bunt, wirkten dabei aber natürlich; jedes einzelne war unterschiedlich. Jede Puppe war eine eigene Persönlichkeit; die eine war lebhaft, die andere ein vorwitziger Spaßmacher, die nächste bezaubernd naiv, wieder welche muffelig, und nicht zuletzt waren da die übermütigen, die laut lachend losprusteten. Ein Blick und ich wusste sofort, das mussten die Tonkinder von Hao Große Hand, dem berühmten Lehm- und Tonskulpturenkünstler aus Nordost-Gaomi sein. 1999 hatten er und meine Tante geheiratet. Er verkaufte seine Tonkinder seit vielen Jahrzehnten immer auf seine sehr eigene Art und Weise. Wie war das möglich, dass er sie Wang Leber zum Verkauf überlassen hatte?

Leber stand neben den Tonkindern seines Stands und redete mit leiser Stimme eindringlich auf die Frauen ein, die ein Figürchen kaufen wollten.

»Die Puppen da drüben sind ohne Frage kostengünstiger. Aber sie sind mit einem Model gemacht. Meine hier sind teurer, die hat der Gaomier Tonskulpturengroßmeister Qin Strom mit geschlossenen Augen aus einem Tonklumpen herausgeknetet. An diesen Tonkindern sieht man, was lebensecht heißt! Die Haut erscheint so zart, als ob sie schon die leiseste Berührung verletzten könnte!«

Leber nahm ein Tonkind mit kleinem Mündchen in die Hand, das aussah, als sei es in Wut geraten, und erklärte: »Die Wachsfiguren der französischen Madame Tussaud und die Tonkinder unseres Großmeisters Qin sind gleichrangige Kunstwerke.

›Da machte Gott der Herr den Menschen aus Erde vom Acker

und blies ihm den Odem des Lebens in seine Nase.‹

Schon mal gehört?

›Nüwa, die große Urahnin18

und Mutter des Menschengeschlechts,

greift sich einen Batzen Lehm vom Gelben Fluss

und knetet daraus einen Menschen.‹

Schon mal gehört?

Erde ist das allerwundersamste Element.

Die Erde, die unser Meister Qin verwendet, holt er aus zwei Metern Tiefe aus dem Kiaulai-Fluss herauf. Sie besteht aus dreitausend Jahre alten Sedimenten. Sie ist Schlamm vom Grund des Kiaulai. Aus ihr besteht unsere Zivilisation, unsere Geschichte, einfach alles. Diesen Flussschlamm holt er ans Tageslicht, trocknet ihn an der Sonne, setzt ihn dem Mondlicht aus, um ihn schließlich, angereichert mit der Essenz von Sonne und Mond, auf dem Mahlstein zu zerkleinern. Dann fügt er klares Wasser hinzu aus den Tiefen des Flusses, gewonnen bei der ersten Morgenröte, und Wasser vom Grund eines Brunnens, gewonnen zum Zeitpunkt des Mondaufgangs, um alles zum einer griffigen Masse zu kneten und danach mit einem Wäschebleuel zu bearbeiten, bis die Erde teigig wie ein Mehlfladen ist. Erst dann beginnt er, die Tonkinder zu formen.

Außerdem sollt ihr noch wissen, dass er jedes Mal, wenn er ein Niwawa-Kindchen fertig hat, ihm mit dem Zahnstocher oben in den Schädel, da, wo die Fontanelle ist, ein kleines Loch piekst, um, nachdem er sich mit der Nadel in die Fingerkuppe des Mittelfingers gestochen hat, einen Tropfen seines eigenen Blutes einzufüllen. Das kleine Loch schließt er vorsichtig mit der Fingerspitze.

Dann stellt er das Tonkind zum Trocknen an einen luftigen, kühlen Ort.

7 x 7 = 49 Tage

Genau die Zeit, in der die Seele des Toten in der Zwischenwelt verharrt, um dann wiedergeboren werden zu können. Dann erst wird die Niwawa bemalt. So entstehen Tonkinder, die wirklich eine kleine Seele besitzen.

Ich will euch auch nicht verschweigen – zu fürchten braucht ihr euch nicht, wenn ich es euch jetzt verrate –, dass des Meisters Tonkinder in Vollmondnächten zu tanzen beginnen, wenn sie Flötenspiel hören. Sie tanzen und klatschen in die Hände und lachen fröhlich miteinander. Gerade so laut wie der Ton, den wir aus dem Handy hören, wenn wir mit jemandem telefonieren. Nicht sehr laut, aber sehr deutlich. Glaubt ihr mir nicht, dann nehmt ein paar Tonkinder am roten Band mit nach Haus. Wenn sie keinen Zauber besitzen, bringt sie wieder und werft sie mir hier vor meinem Stand in Scherben vor die Füße.

Ich bin mir sicher, keiner von euch wird auch nur ein einziges dieser zauberhaften Kinder missen wollen. Denn ihr würdet, wenn ihr sie zu Boden werft, Blut fließen sehen, würdet ihr Weinen hören ...«

Nachdem Wang Leber so das Blaue vom Himmel heruntergeredet hatte, kaufte jede der beiden Frauen, die zum Tempelfest angereist waren, zwei Tonkinder. Leber holte vier Präsentkartons unter dem Tisch hervor und packte die Tonkinder sorgfältig ein. Erst als die beiden Reisenden zufrieden von dannen gezogen waren, grüßte er uns und winkte uns zu sich heran.

Er hatte uns vermutlich längst erkannt. Wenn nicht mich, so zumindest Shizi, in die er doch fast fünfzehn Jahre lang hoffnungslos verliebt gewesen war. Aber er tat, als hätte er uns gerade eben erst entdeckt und rief uns wie elektrisiert entgegen: »Ach ihr! Ach, ihr beide seid es!«

»Sei gegrüßt, alter Freund! Haben wir uns lange nicht gesehen!«, sagte ich.

Kleiner Löwe lächelte ihn an und murmelte irgendetwas, das ich nicht deutlich verstand.

Leber und ich schüttelten uns mit aller Kraft die Hände. Dann ließen wir los und zündeten uns sofort Zigaretten an, ich mir eine von seinen, Marke Eight Happiness, er sich eine von meinen »General-Zigaretten«.

Kleiner Löwe schaute sich in Ruhe die Niwawa-Tonkinder an.

»Ich hatte es schon läuten hören, dass ihr beide wieder nach Hause gezogen seid. In der Fremde erfährt man, was die Heimat wert ist, denn jede Stadt hat ihre besondere Art, Hühner aufzuschneiden, nicht wahr?«

»Richtig, der Fuchs steckt den Kopf in den Bau, wenn ihn der Tod ereilt, denn ohne Heimat sein heißt leiden. Und der Apfel fällt nicht weit vom Baum. Da, wo ich geboren bin, will ich auch begraben werden«, antwortete ich ihm. »Aber wir haben Glück, dass wir in dieser Epoche leben. Überleg mal, wenn wir die Zeit jetzt fünfundvierzig Jahre zurückdrehen müssten. Ich wage nicht, darüber nachzudenken.«

»In der Vergangenheit wurde der Mensch im Käfig gehalten. Und wenn er raus sollte, dann nur an der Leine, jetzt sind wir doch freier. Hast du Geld, kannst du dir eigentlich alles erlauben, solang du dich an die Gesetze hältst.«

»Was du da gerade zum Besten gegeben hast! Alle Achtung! Dass du den Leuten so einen blauen Dunst vormachst!« Und während ich mit dem Finger auf die Tonkinder zeigte: »Haben die wirklich solche Zauberkraft?«

»Du meinst, ich scher mich nicht drum und lüge, dass sich die Balken biegen?« Mit ernster Miene fuhr er fort: »Ich sage nur die Wahrheit. Das bisschen, das ich da hinzugedichtet habe, sollte ja wohl erlaubt sein. Selbst Staatsmedien gestatten Übertreibungen, solange sich das in einem vernünftigen Rahmen bewegt.«

»Ich kann rhetorisch nicht mit dir mithalten«, entgegnete ich nur. »Sag mal, sind die Tonpuppen wirklich von Qin Strom?«

»Wie kommst du darauf, dass das nicht stimmen könnte?«, fragte Leber verwundert. »Also, dass die Kinder bei Vollmond und Flötenspiel tanzen, das war übertrieben. Aber dass Qin Strom sie mit geschlossenen Augen modelliert, das ist hundertprozentig wahr. Wenn du da Zweifel hegst, dann komm mit und schau es dir an, sobald du mal ein bisschen Zeit hast.«

»Ist Qin Strom jetzt bei uns im Dorf gemeldet?«

»Heutzutage? Was heißt es da noch, eine Meldebescheinigung zu beantragen und sich da niederzulassen, wo der Wohnsitz registriert wurde? Das ist Firlefanz von gestern! Heute bleibst du da, wo es dir passt.«

Wang Leber fuhr fort: »Wo deine Tante wohnt, da wohnt auch Qin Strom. Seine hartnäckige Liebesverblendung bezüglich Gugu ist einmalig auf der Welt. Und in der Unterwelt!«

Kleiner Löwe hielt ein hübsches Tonkind in den Armen, eines ohne Schlitzaugen mit hohem Nasenrücken, es ähnelte einem europäisch-chinesischen Mischlingsbaby:

»Dieses Kind möchte ich.«

Ich musterte es. Ich hatte ein vages Gefühl, genauer gesagt ein Déjà-vu! Ich kannte es. Woher kannte ich das Mädchen? Wer war es? Himmel! Es war Galles Tochter Chen Augenbraue! Gugu und Kleiner Löwe hatten die Kleine ein halbes Jahr bei sich gehabt, dann hatten sie die kleine Augenbraue ihrem Vater Nase zurückgeben müssen.

Ich erinnerte mich deutlich an den Abend, an dem Chen Nase zu uns kam und seine Tochter zurückverlangte. Es ging auf das Chinesische Neujahr zu, wir feierten gerade das Herdgottfest. Überall waren Böller gezündet worden und die Luft hing voller Rauchschwaden und Salpetergeruch.

Kleiner Löwes Antrag auf Familiennachzug war vom Militär bereits bewilligt worden, so dass sie die Kommunekrankenstation verlassen durfte. Nach dem Neujahrsfest wollte ich zusammen mit ihr und Yanyan im Zug nach Peking reisen. In einer großen Wohneinheit der Armee war ein Appartement mit zwei Zimmern frei geworden, das unser neues Heim werden sollte. Mein Vater hatte es abgelehnt mitzukommen. Er hatte seinerzeit auch nicht meinem großen Bruder in die Kreisstadt folgen, sondern auf seinem Grund und Boden bleiben wollen. Nur gut, dass mein Bruder auf Kreis- und Dorfebene arbeitete, da würde er sich jederzeit um Vater kümmern können.

Nach Wang Galles Tod hatte Chen Nase zu trinken begonnen. Oft rannte er in volltrunkenem Zustand weinend und lachend durch die Straßen. Zuerst bedauerte man ihn noch. Mit der Zeit wurde es den Leuten aber zu viel.

Als man Galle polizeilich hatte suchen lassen, um sie wie einen Schwerverbrecher festzunehmen, hatten die Dörfler Lohnzulagen aus Nases Bankguthaben erhalten. Nachdem sie gestorben war, hatten die meisten ihm sein Geld zurückgegeben. Die Kommune hatte ihm danach auch keine Lebenshaltungskosten mehr von seinem Bankguthaben abgezogen, so dass er, großzügig geschätzt, mindestens dreißigtausend Yuan besitzen musste, genug, um sich einige Jahre über Wasser zu halten.

Er hatte den kleinen Säugling Augenbraue, den Gugu und ihre Gehilfin auf die Krankenstation getragen und um dessen Überleben sie erfolgreich gekämpft hatten, so gut wie vergessen, hatte er doch Galle, als er sie schwängerte, dem für sie lebensbedrohlichen Risiko zum zweiten Mal ausgesetzt, um seiner Familie vielleicht doch noch einen männlichen Nachkommen zu bescheren. Als er gesehen hatte, dass alle Mühen umsonst gewesen waren, dass sein zweites Kind, das seine Frau unter diesen wahnsinnigen Umständen zur Welt gebracht hatte, wieder nur ein Mädchen war, hatte er unter Schluchzen wie toll mit beiden Händen auf seinen Gehirnkasten eingetrommelt: »Mit mir ist es aus! Jetzt sterben wir Chens aus!«

Den Vornamen Augenbraue hatte Gugu für seine zweite Tochter ausgesucht. Weil sie ein so hübsch geschnittenes Gesicht hatte und weil sie eine Schwester hatte, die Ohr hieß. Gugu hatte bestimmt: »Augenbraue! So soll sie heißen.«

Kleiner Löwe hatte in die Hände geklatscht und voller Bewunderung gerufen: »Was für ein wunderschöner Name!«

Gugu und Kleiner Löwe hatten Augenbraue adoptieren wollen, aber weil sie Schwierigkeiten hatten, das Kind ins Melderegister eintragen zu lassen, war es auch schwierig mit dem Antrag auf Adoption geworden. Deswegen besaß Augenbraue bis zu dem Zeitpunkt, an dem Chen Nase sie von uns zu Haus wegholte, keine Meldebestätigung im Melderegister. Sie war ein schwarz geborenes Kind ohne Registereintrag, sie gehörte zu den illegitimen Kindern der Chinesischen Volksrepublik.

Wie viele solcher schwarzen Kinder damals in China zur Welt kamen, darüber gibt es keine statistischen Erhebungen, aber es wird sich um eine astronomische Zahl gehandelt haben.

Bei der vierten großen Volkszählung 1990 löste man das Problem der fehlenden Meldebestätigung der schwarz geborenen Kinder so: Man setzte ein Zwangsgeld fest für die überzähligen Kinder, wie sie auch genannt werden – eine astronomisch hohe Summe, die da eingenommen werden sollte! Wie viel Geld genau im Staatssäckel landete, ließ sich damals und lässt sich heute nicht nachvollziehen, denn es gibt darüber keine ordnungsgemäßen Belege.

Welche Anzahl an schwarz geborenen Kindern die Volksmassen in den gerade vergangenen fünfzehn Jahren in die Welt setzten, steht in den Sternen. Es ist wohl anzunehmen, dass es sich erneut um eine gigantische Zahl handelt. Das Zwangsgeld, das man jetzt in solchen Fällen verhängt, ist noch fünfzehnmal höher als das von vor circa zwanzig Jahren. Wenn die nächste allgemeine staatliche Volkszählung wieder die schwarz geborenen Kinder ermittelt und die Regierung dann wieder ein Zwangsgeld gegen die Eltern verhängt, und wenn die Eltern dann in der Lage sein sollten, dieses in Gänze zu zahlen, dann ...

Shizis Mutterinstinkte waren damals vollends erwacht. Sie hatte Augenbraue im Arm gehalten, hatte sie geherzt, ihr stundenlang zugeschaut.

Ich bin mir nicht sicher, aber ich glaube, sie hat sogar versucht, Augenbraue die Brust zu geben. Ich habe damals nämlich bemerkt, dass ihre Brustwarzen sich verändert hatten. Ob sie auch tatsächlich Milch für die kleine Augenbraue hatte, ist ungewiss.

Allerdings hat es derlei Wunder immer mal wieder gegeben. Als ich noch klein war, sah ich ein Theaterstück, das die Geschichte einer Familie erzählte, die plötzlich in Not geraten war. Vater und Mutter waren gestorben, übrig geblieben waren nur die achtzehnjährige Schwester und der in Windeln gewickelte kleine Bruder. In ihrer großen Not hatte die Schwester dem kleinen Bruder ihre jungfräuliche Brust gegeben und wenige Tage später war tatsächlich Milch geflossen.

Derartige Vorfälle sind in der heutigen Zeit natürlich schwer nachvollziehbar.

»Wie soll das angehen, dass die große Schwester schon achtzehn ist, aber der kleine Bruder noch gestillt wird?« Meine Mutter hat auf solche Fragen immer geantwortet: »In früheren Zeiten passierte es öfters, dass Schwiegermutter und Schwiegertochter zu ein und derselben Zeit das Wochenbett hüteten.«

Trotzdem ist es aber gerade heute wieder wahrscheinlich und möglich geworden. Eine Kommilitonin meiner Tochter hat kürzlich eine kleine Schwester bekommen. Ihr Vater besitzt eine Kohlemine und bergeweise Geld. Die Bauern rackern sich als Bergmänner unter Todesgefahr in seiner Grube für ihn ab. Er wohnt in Peking und hat auch in Shanghai, Los Angeles, San Francisco, Melbourne und Toronto Nobelvillen, in denen er mit seinen Zweit- und Drittfrauen Kinder in die Welt setzt. – Ich merke, ich muss mich am Riemen reißen, damit ich nicht abschweife.

Ich erinnere mich wieder an unser Herdgottfest damals. Ich gab gerade eine Portion Teigtäschchen in den Wok mit sprudelndem Wasser, meine Tochter Yanyan klatschte in ihre Händchen und sang:

Eine Schar dicker weißer Gänschen

hopsen mit Gespritz in den Fluss,

und wenn die Flut

dreimal gestiegen ist,

strecken sie die Schwänzchen

lustig in die Höh’.

Kleiner Löwe stand mit der brabbelnden Augenbraue auf dem Arm daneben.

Da kam Chen Nase in seiner schweinsledernen Jacke, eine Schirmmütze mit zwei Ohrenklappen auf dem Kopf, quer über die Straße angelaufen und zu uns ins Haus. Die kleine Ohr folgte ihm, eine Hand fest an seinem Jackenzipfel. Sie trug eine wattierte Jacke, aus der sie schon herausgewachsen war. Aus den viel zu kurzen Ärmeln lugten ihre vor Kälte roten Hände hervor. Ihr Haar stand wirr vom Kopf ab, die Nase lief, wahrscheinlich hatte sie eine Erkältung.

»Ihr kommt gerade richtig.« Ich wendete die Teigtäschchen. »Setzt euch, wir essen zusammen Teigtäschchen.«

Chen Nase ließ sich auf unserer Türschwelle nieder. Der Feuerschein leuchtete flackernd auf seinem Gesicht, seine Riesennase sah aus wie aus einem Stück gefrorenem Rettich geschnitzt.

Ohr stand neben ihm, eine Hand auf seiner Schulter, und schaute mit großen Augen ängstlich umher. Neugierig beäugte sie abwechselnd die schwimmenden Teigtäschchen im Wok, Shizi mit dem Baby auf dem Arm und Yanyan, deren Blick sie einlud, mit ihr zu plaudern. Yanyan gab ihr ein Stück Schokolade ab. Ohr legte den Kopf schief und sah ihren Vater forschend an, um dann zu uns aufzuschauen.

»Nimm es ruhig! Wenn Yanyan es dir gibt, dann nimm es«, forderte ich sie auf.

Sie streckte zaghaft ein Händchen aus.

Nase herrschte sie scharf an: »Chen Ohr!«

Erschrocken zog sie die Hand wieder zurück und fing an zu weinen.

»Nase, nicht doch! Sie ist ein Kind!«

Ich ging ins Schlafzimmer und holte einen Riegel Schokolade, den ich Ohr in die Tasche ihrer wattierten Jacke steckte.

Nase stand auf und sagte zu Shizi: »Gib mir mein Kind.«

Sie schaute ihn ungläubig an: »War es nicht so, dass du sie gar nicht wolltest?«

»Wer erdreistet sich zu sagen, ich will mein Kind nicht?« Er fing vor Wut an zu keuchen. »Es ist mein eigen Fleisch und Blut! Wie könnte ich es nicht wollen?«

»Der Spruch passt nicht zu dir! Als sie geboren wurde, war sie wie ein krankes Kätzchen. Ich habe sie gepflegt, so dass sie überlebte.«

»Ihr habt Galle auf dem Fluss gejagt. Deswegen hatte sie eine Frühgeburt«, entgegnete Nase. »Sie wäre nicht gestorben, wenn ihr uns nicht gejagt hättet. Ihr steht bei mir mit einem Leben in der Schuld!«

»Völliger Schwachsinn!«, konterte Kleiner Löwe. »So wie Galle gebaut war, durfte sie eigentlich gar nicht schwanger werden. Du denkst doch an nichts anderes als an einen Stammhalter. Ihr Leben ist dir immer ziemlich egal gewesen. Galle ist durch deine Hand gestorben.«

»Das sagst ausgerechnet du?« Nase fing an zu brüllen. »Das sagst du nicht ungestraft. Ihr werdet jedenfalls kein Neujahrsfest mehr haben!«

Nase griff sich neben dem Herd einen Knoblauchstößel und zielte damit auf unsern Wok.

»Nase!«, rief ich. »Hast du sie noch alle? Wir sind von klein auf immer beste Freunde gewesen.«

»Wo gibt’s schon Freunde in der heutigen Zeit? Als Galle sich bei deinem Schwiegervater verstecken musste, hast du sie wahrscheinlich bei deiner Tante verpfiffen?«

»Das hat mit ihm nichts zu tun«, warf Kleiner Löwe sofort ein. »Das hat Xiao Oberlippe uns verraten.«

»Mir ist scheißegal, wer wen verraten hat. Du gibst mir heute mein Kind zurück.«

»Ich denk nicht im Traum dran! Ich lass doch das Kind nicht unter deinen Händen sterben. Du bist für die Vaterrolle ungeeignet!«

»Ihr verdammten Scheißweiber! Waschlappen! Ihr doppeltgeschwänzten Zwitter, Monster, ihr! Die es nicht zuwege bringen, selber Kinder zu kriegen! Deswegen sollen dann andere auch keine haben! Weil ihr selber keine kriegen könnt! Deswegen vergreift ihr euch an den Kindern anderer Leute und nehmt ihnen ihre Kinder weg!«

»Nase, halt dein Drecksmaul! Was fällt dir ein!« Ich kochte vor Zorn. »Uns das Herdgottfest verderben und unser Haus verwüsten wollen? Nur zu! Schmeiß den Stößel in den Wok!«

»Du glaubst doch nicht etwa, ich trau mich nicht?«

»Schmeiß ihn rein!«

»Wenn ihr mir nicht sofort mein Kind wiedergebt, bin ich zu allem fähig, Mord und Totschlag und Brandstiftung!«

Vater, der die ganze Zeit über im Schlafzimmer geblieben war und sich nicht gemuckst hatte, kam heraus und sagte: »Mein Junge, so wahr ich hier – bei meinem Bart – der Älteste bin, so wahr ich mit deinem Vater seit langen Jahren immer gute Freundschaft pflege, ich sage dir jetzt eins: Leg den Stößel weg!«

»Dann sag ihm, er soll mir mein Kind wiedergeben.«

»Es ist dein Kind. Keiner kann dir dein Kind wegnehmen«, erklärte mein Vater. »Aber du musst mit den beiden alles in Ruhe besprechen. Denn wären sie nicht gewesen, wäre dein Kind längst seiner Mutter gefolgt.«

Chen Nase schmiss den Stößel auf den Boden, setzte sich wieder auf die Türschwelle und begann laut zu weinen. Ohr klopfte ihm die Schulter und rief tränenüberströmt: »Papa! Du sollst nicht weinen!«

Als ich das mit ansah, musste ich schlucken und spürte, wie auch mir die Augen feucht wurden: »Kleiner Löwe, ich denke, wie sollten ihm sein Kind wiedergeben.«

»Glaubt bloß nicht, dass ich das tue! Wie ein Findelkind habe ich Augenbraue aufgelesen und zu mir genommen!«

»Ihr seid gemein und böse! Es ist Unrecht, mir mein Kind nicht wiederzugeben«, lamentierte Nase.

»Hol deine Tante«, wies mich mein Vater an.

»Nicht nötig. Bin schon da!«, rief Gugu von draußen.

Ich stürzte sofort vor die Tür, um sie wie einen Retter in der Not hereinzuholen.

»Nase, steh auf! Das hätte noch gefehlt, dass du den Stößel in den Wok wirfst! Das hätte ich mit eigenen Augen sehen wollen!«, herrschte meine Tante ihn an.

Brav erhob sich Nase sofort.

»Nase, weißt du, welches Verbrechen du begangen hast?«, fragte Gugu ihn in messerscharfem Ton.

»Welches Verbrechen habe ich begangen?«

»Du hast dich des Verbrechens der Kindesaussetzung schuldig gemacht. Wir haben die kleine Augenbraue mitgenommen. Wir haben sie mit Reisschleim und Milchpulver gefüttert und haben sie gerettet. Über ein halbes Jahr ist vergangen und du hast dich hier nicht ein einziges Mal blicken lassen. Diese Tochter hast du gezeugt. Da besteht kein Zweifel. Aber bist du ihr auch ein Vater gewesen?«

Nase brummelte: »Sie gehört sowieso mir.«

»Gehört dir?«, fragte Kleiner Löwe barsch. »Frag sie doch mal, ob ihr das recht ist. Wenn sie es möchte, kannst du sie mitnehmen!«

»Ich werde besser nicht mit dir reden, denn mit dir kann man nicht vernünftig reden.« Dann sagte Chen Nase, Gugu zugewandt: »Ich habe einen Fehler gemacht. Ich sehe es ein und werde mich bessern. Bitte gib mir meine Tochter zurück!«

»Kein Problem«, erwiderte Gugu sofort. »Aber zuerst gehst du zur Kommune, bezahlst das Bußgeld und beantragst für dein Kind einen Eintrag im Melderegister.«

»Wie hoch ist das Bußgeld?«, fragte Nase.

»Fünftausendachthundert Yuan«, antwortete Gugu.

»So viel? Ich habe nicht so viel Geld!«

»Du hast kein Geld? Dann schlag dir das mit dem Kind aus dem Kopf.«

»Fünftausendachthundert Yuan habe ich nicht, mein Leben kann ich anbieten.«

»Dein Leben kannst du behalten. Genauso wie du dein Geld behalten kannst zum Saufen, zum Fleischessen und für den Puff.«

»So was habe ich nie getan.« Aus Scham und Wut brüllte Chen Nase jetzt wieder. »Ich werde euch anzeigen! Wenn ich bei der Kommune damit nicht durchkomme, gehe ich vors Kreisgericht. Wenn ich beim Kreis den Prozess nicht gewinne, geh ich vors Provinzgericht. Wenn ich da nicht gewinne, klage ich vor dem Obersten Volksgerichtshof der Volksrepublik China!«

»Und wenn es beim Obersten Gerichtshof auch nicht klappt?« Gugu lachte kalt. »Dann gehst du zum Internationalen Gerichtshof der UNO nach Den Haag!«

»Zur UNO, klar. Zur UNO kann ich auch gehen.«

»Du hast es ja echt drauf«, sagte Gugu, »und jetzt verzieh dich! Wenn du den Prozess gewonnen hast, kannst du ja wiederkommen und dein Kind abholen. Aber lass dir gesagt sein, selbst wenn du den Prozess gewinnst, möchte ich deine schriftliche Zusicherung, dass du für dein Kind gut sorgen wirst. Außerdem wirst du mir und Löwe, jedem von uns beiden, fünftausend Yuan für die bisher geleistete Arbeit zahlen müssen.«

Zum Fest des Herdgottes hatte er Augenbraue noch nicht mitnehmen können. Aber gleich am Tag nach dem Lampionfest am 15. des ersten Mondmonats, als das Chinesische Neujahr vorüber war, kam er, brachte den Beleg über die bezahlte Geldbuße und holte sein Kind ab. Je fünftausend Yuan für geleistete Arbeit war natürlich nur in der Wut dahergeredet gewesen. Gugu verlangte nicht, dass er dafür bezahlte.

Löwe weinte so heftig, dass sie sich am ganzen Körper verkrampfte, als hätte man ihr das eigen Fleisch und Blut entrissen. Gugu ermahnte sie schroff: »Was heulst du? Wenn du so gern Kinder willst, dann krieg doch selber eins!«

Löwes Weinen wollte kein Ende nehmen.

Gugu nahm sie bei der Schulter und sagte in einem Ton, in dem ich sie zuvor nie hatte sprechen hören: »Kind, mein Leben ist gelaufen. Aber ihr habt noch alles vor euch! Hör zu, die Arbeit ist jetzt zweitrangig. Jetzt wirst du erst mal ein Baby bekommen, das du dann zu mir bringst und mir in die Arme legst!«

Als wir dann in Peking wohnten, versuchten wir’s, denn wir wünschten uns so sehr ein Kind. Aber unglücklicherweise hatte Chen Nase recht gehabt. Löwe konnte keine Kinder bekommen.

Sie war lieb zu meiner Tochter, aber sie war in all ihren Träumen und Gedanken immer bei Chen Augenbraue.

Deshalb hatte sie jetzt dieses coole Mischlingstonkind mit der hohen Nase und den Klimperaugen ausgesucht. Es hatte den gleichen Gesichtsausdruck wie Augenbraue. Ich konnte Kleiner Löwe gut verstehen. Sie sprach zu Wang Leber, aber eigentlich galt der Satz mir: »Dieses Kind möchte ich.«

»Wie viel kostet es?«, fragte ich Leber.

»Was willst du damit sagen, Renner?« Leber war empört. »Bin ich in deinen Augen so wenig wert, dass du ...«

»Nun krieg das mal nicht in den falschen Hals, Leber«, beeilte ich mich zu antworten. »Ein Tonkind muss man ehrlich aus ganzem Herzen am roten Faden mit nach Haus nehmen. Wenn ich nicht bezahlen wollte, könnte ich meinen ehrlichen Willen nicht unter Beweis stellen.«

Leber widersprach: »Erst das Geld führt zur Unehrlichkeit«, und dann leiser: »Das, was du für Geld kaufst, ist nur ein Stück Lehm. Ein Kind gibt es für Geld aber nicht zu kaufen.«

»Ist ja gut«, sagte ich, »wir wohnen im Uferviertel, Block 9, Nr. 902. Wir freuen uns sehr, wenn du uns besuchen kommst.«

»Ich komm vorbei. Ich wünsche euch, dass ihr mir bald von einem freudigen Ereignis berichtet!«

Ich lachte etwas müde und nahm Abschied. Kleiner Löwe zog ich hinter mir her ins Gedränge.

Wir betraten die große Halle des Niangniang-Tempels.

Der gusseiserne Räucherdreifuß vor der Tempelhalle war in weißen Qualm gehüllt, intensiver Sandelholzduft erfüllte den Hof. Auf den Tischen mit den Kerzenständern neben dem Räucherdreifuß brannten dicht an dicht zahllose rote Kerzen, die Flammen flackerten und Wachs tränte an den Kerzen herunter.

Viele Frauen, darunter hochbetagte wie verdorrtes Holz, hübsche wie Hibiskusblüten, die einen schäbig gekleidet, andere mit Gold und Jade behängt, drängten sich auf dem Hof und in der Halle. Hier gab es die unterschiedlichsten Frauen, die alle eines gemeinsam hatten: Sie machten andächtige Gesichter mit einem Schimmer der Hoffnung, während sie, ihr Tonkind auf dem Arm, Räucherwerk und rote Kerzen entzündeten.

Die große Tempelhalle ragte weit in den Himmel empor. Neunundvierzig weiße Stufen führten zur ihr hinauf. Ich hob den Kopf und schaute mir die geschwungenen Dachvorsprünge an sowie die Inschriftentafel unter der Traufe, auf der vier goldene Schriftzeichen prangten, jedes eine Elle hoch:

德 育 群 嬰

»Tugend folgt Kindersegen«. Windspiele mit Glöckchen schmückten die Dachvorsprünge, jeder Windzug schickte ein Bimmeln der Glöckchen in den Tempelhof.

Treppauf, treppab waren Frauen mit ihren Niwawa-Tonkindern auf dem Arm unterwegs. Ich war Zuschauer in einem Heer von Frauen, als Außenstehender betrachtete ich alles eingehend.

Eine Zunahme der Fruchtbarkeit: wie erhaben und wie irdisch, unheilig. Wie ernst und wie zügellos ausschweifend!

Ich konnte nichts dafür, dass ich mich unversehens meiner Kinderzeit erinnerte; hatte ich doch damals mit eigenen Augen dabei zugesehen, wie die Roten Garden unserer ersten Kreismittelschule, und zwar die Einsatzgruppe zur Durchsetzung der Kampagne Die Vier Alten zerschlagen und die Vier Neuen aufbauen, den Niangniang-Tempel und die Gottheiten darin brutal zerstörten. Die Jungen und Mädchen aus den Reihen dieser Einsatztruppe der Roten Garden zerrten die Kinder schenkende Himmelsmuttergöttin Niangniang aus dem Tempel und warfen sie in den Fluss. Dann riefen sie Parolen wie:

Geburtenplanung, die ist gut,

mal sehen ob Niangniang schwimmen tut!

Die alten Weiber aus unserem Dorf, alle mit schlohweißen Haaren, knieten in Reih und Glied am Ufer und flüsterten Gebete. Ob sie darum beteten, dass die Göttin diese unverschämten Kinder bestrafte? Oder dass sie der Menschheit ihre wüsten Beleidigungen vergeben sollte? Ich habe es nicht erfahren. Ein Sprichwort bei uns sagt:

Auf dreißig Jahre ostwärts folgen dreißig Jahre westwärts, so ändert der Gelbe Fluss seinen Lauf beständig.

An der gleichen Stelle, an der einst der alte Tempel gestanden hatte, wurde der neue errichtet, noch imposanter als der ursprüngliche. In der großen Tempelhalle schimmerte wieder golden die Statue der Göttin. Man trug unsere alten Traditionen weiter, und gleichzeitig kamen neue Moden auf: So wurde man einerseits den spirituellen Bedürfnissen der Volksmassen gerecht und weckte andererseits sogar das Interesse der Touristen aus aller Welt. Die Gegenüberstellung von Kosten und Nutzen ergab eine positive Bilanz. Es scheint in China tatsächlich zu stimmen, dass sich der Bau eines Tempels mehr rentiert als der einer Fabrik. Meine alten Nachbarn und Freunde leben alle für diesen Tempel und von diesem Tempel.

Ich schaute zur Skulptur der Göttin Niangniang auf. Sie hatte ein Antlitz wie der Vollmond und sturmwolkenschwarzes Haar, schmale Augenbrauen, die seitlich fast bis zum Haaransatz reichten, dazu einen gütigen Blick. Sie war mit einem langen weißen Gewand bekleidet, um den Hals trug sie eine Key¯ura, ein Collier aus Edelstein- und Perlenketten, wie der Buddha es trägt. In der Rechten hielt sie einen langstieligen Palmblattfächer, der mit der Oberkante ihre Schulter berührte, mit der Linken streichelte sie den Kopf eines auf einem Fisch reitenden Bübchens. Links und rechts von ihr drängten sich zwölf Knaben in verschiedenen Posen. Sie hatten lebendige Gesichtszüge, sprühten im ausgelassenen Spiel vor Lebenslust, dass es eine Freude war, sie anzuschauen.

Ich dachte bei mir, dass bei uns in Nordost-Gaomi nur zwei Künstler in der Lage waren, solche Knabenskulpturen zu erschaffen, und das waren Hao Große Hand und Qin Strom. Wenn man Wang Leber Glauben schenken konnte, dann entsprachen diese Skulpturen eher dem Stil von Qin Strom. Denn beim Anschauen, und dieser Gedanke kam mir wie ein Verbrechen vor, fielen mir unwillkürlich die Gesichtszüge meiner Tante ein. Gestalt und Gesicht der Niangniang im weißen Gewand glichen denen meiner Tante in jungen Jahren.

Vor der Statue knieten auf den Gebetskissen neun Frauen. Sie knieten lange und regungslos, ohne aufzustehen, machten wieder und wieder Kotau, die Hände zur Niangniang aufschauend, betend erhoben, in stille Gebete versunken.

Auch der Marmorboden hinter den Gebetskissen war mit knienden Frauen besetzt. Die Frauen auf den Gebetskissen und auch die auf dem Boden knienden hatten alle ihr Tonkind vor sich gestellt, damit die Niangniang es sehen konnte.

Auch Kleiner Löwe kniete am Boden. Sie beugte ihr Haupt zum Kotau, mit aufrichtigem Respekt; wenn ihr Kopf den Boden berührte, hörte man den Schädel auf den Boden pochen. Ihre Augen waren voller Tränen; denn wie liebte sie die Kinder!

Aber ich wusste, dass ihr Wunschtraum, ein Kind zu gebären, unerfüllbar blieb. Im Jahr 1950 geboren, war sie, als wir den Niangniang-Tempel besuchten, 55 Jahre alt. Obwohl ihre Brüste noch üppig waren, war ihre Regelblutung damals bereits versiegt.

Während ich damit beschäftigt war, mir die betenden Leute anzuschauen, gab es bestimmt auch solche, die mich beobachteten. Ich tat es meiner Frau nach und kniete neben ihr vor der Göttin Niangniang nieder. Wer uns betrachtete, mochte denken, dass wir als älteres Ehepaar das Tonkind für unsere Kinder geholt hätten und an deren Stelle um Kindersegen baten.

Waren die Frauen mit ihrem Gebet zu Ende, steckten sie Geldscheine in den roten Gongde-Holzkasten vor der Niangniang-Statue. Diejenigen, die wenig Geld gaben, steckten es hastig hinein, solche, die viel gaben, ließen sich deutlich Zeit, damit andere sie dabei sehen konnten. Nach der Gabe band eine Nonne den Tonkindern ein rotes Band um den Hals.

Zwei Nonnen in grauer Tracht schlugen mit gesenktem Blick und nur einen Spaltbreit geöffneten Augen den Holzfisch. Dabei rezitierten sie heilige Worte. Sie blickten scheinbar nie zur Seite, aber wenn eine Einhundert-Yuan-Banknote im Schlitz des roten Holzkastens verschwand, war der Schlag auf den Holzfisch besonders geräuschvoll.

Wir hatten ursprünglich nicht vorgehabt hierherzukommen und deshalb auch kein Geld bei uns. In ihrer Verlegenheit streifte sich Kleiner Löwe ihren goldenen Ring vom Finger und warf ihn als Spende in den roten Kasten. Der Holzfisch der Nonnen wurde dreimal schnell hintereinander geschlagen und dies sehr laut. Fast so laut wie die Schüsse der Startpistole bei dem Marathonwettkampf, an dem ich als Schuljunge einmal teilgenommen habe.

In den seitlich und hinter der großen Tempelhalle gelegenen Gebetsräumen dieses taoistischen Niangniang-Tempels wurde noch weiteren Verkörperungen der Niangniang19 gehuldigt: der Feen-Niangniang, der Niangniang der Weitsicht, der Enkel schenkenden Niangniang, der Pocken-Niangniang, der Muttermilch spendenden Niangniang, der verborgenen Niangniang, der Fruchtbarkeit auf dem Acker schenkenden Niangniang, der wehenfördernden Niangniang und der Geburtshilfe-Niangniang. In jedem Gebetsraum kniete der Betende nieder und huldigte; in jedem Raum gab es einen Holzfisch, den eine wachhabende Nonne schlug.

Ich sah nach der Sonne und überredete Kleiner Löwe, doch ein anderes Mal wiederzukommen. Sie wollte eigentlich nicht, nickte aber trotzdem mit dem Kopf. Draußen waren seitlich entlang des Wegs, der zum Ausgang führte, viele kleine Zellen aufgereiht, aus deren Türen die Nonnen, wenn wir vorbeigingen, den Kopf herausstreckten und uns zuriefen:

»Wohltäterin, lassen Sie Ihrem Kind ein Langes-Leben-Schloss machen!«

»Wohltäterin, ziehen Sie Ihrem Kind ein Morgenrötehemdchen über!«

»Wohltäterin, ziehen Sie Ihrem Kind ein Paar Wolkenholzpantinen an!«

Wir hatten kein Geld, deswegen konnten wir uns immer nur entschuldigen. Eilig machten wir uns davon.

Als wir wieder auf der Straße waren, war es gerade Mittagszeit. Mein Cousin rief mich auf dem Handy an, um nachzufragen, warum wir so lange auf uns warten ließen.

In der Stadt herrschte geschäftiges Treiben, wie die Ameisen wuselten hier die Menschen durcheinander, es gab viel zu kaufen und anzuschauen, aber wir hatten keine Zeit mehr, die Auslagen zu betrachten und durch die Geschäfte zu bummeln.

Wir schoben uns nun eilig durch das Menschengewühl. Mein Cousin hatte gesagt, er warte östlich des Festtreibens schon mit dem Auto auf uns, er stehe vor der gerade heute ihre Tore öffnenden Mutter-und-Kind-Klinik, die ein chinesisch-amerikanisches Joint Venture sei.

Als wir dort eintrafen, war die Feier zur Einweihung der Klinik schon vorüber. Die Hülsen und Schnüre der Böllerschlangen lagen noch auf dem Bürgersteig und der Straße herum. In der Eingangshalle hatte man an die fünfzehn Körbe mit Blumen aufgestellt, wie ihre Flügel lüftende Phönixe. Sehr reichhaltig war die Blumenpracht. Im Foyer schwebten zwei große Luftballons, an denen Spruchbänder mit Parolen hingen. Die Architektur war bogenförmig, in Blauweiß gehalten, so dass das Gebäude wirkte, als träte man in zwei ausgebreitete Arme ein, kühle und erhabene Arme. Ein demonstrativer Gegensatz zum Niangniang-Tempel, der westlich der Klinik gelegenen war.

Wir entdeckten meinen Cousin, im westlichen Anzug und mit Lederhalbschuhen, und meine Tante zur gleichen Zeit.

Viele Leute hatten sich aus den Blumengestecken in den Körben einfach ein paar Blumen herausgezogen. Gugu war mitten unter den Eröffnungsgästen. Sie hielt einen Rosenstrauß in den Händen, ein Dutzend frischer weißer, roter und gelber Knospen. Obwohl sie uns den Rücken zuwandte, erkannten wir sie gleich. An ihrem Rücken hätten wir sie unter zehntausend haargenau gleich gekleideten Leuten immer sofort erkannt, ohne auch nur genauer hinsehen zu müssen.

Wir entdeckten bei ihr einen jungen Kerl von vielleicht zwölf, dreizehn Jahren, der ihr ein in weißes Papier eingeschlagenes Paket aushändigte, gleich auf dem Absatz kehrtmachte und sich blitzschnell entfernte. Gugu öffnete das weiße Paket und schnellte in die Höhe, wobei sie einen markerschütternden Schrei ausstieß. Ihr schwerer Körper schwankte, sie verlor das Gleichgewicht und fiel hintenüber bewusstlos zu Boden.

Auf dem Fußboden entdeckten wir einen schwarzen, mageren Frosch, der an Gugu vorbei- und davonhüpfte.

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