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Der Hochzeitstag wurde festgesetzt.
Alles wurde nach Gugus Vorstellungen abgewickelt. Ich fühlte mich wie ein fauliges Stück Holz, das auf dem Wasser treibt. Ein Schubs und ich bewegte mich.
Mit dem Gang zur Amtsstube der Kommune, um die Heirat eintragen zu lassen und die Heiratsurkunde zu beantragen, unternahmen Kleiner Löwe und ich zum zweiten Mal etwas allein.
Beim ersten Mal hatten wir uns im Wohnheim getroffen. Auch das war ein Sonnabendvormittag gewesen.
Gugu hatte uns ins Zimmer geschoben, die Tür geschlossen und war weggegangen. Im Zimmer gab es zwei Betten, zwischen den Betten ein Nachtschränkchen mit drei Schubladen, worauf sich völlig verstaubte Zeitungen und ein paar Bücher über Frauenheilkunde türmten. Vor dem Fenster sah man ein paar prächtige Sonnenblumen. Sie standen in voller Blüte, Bienen hatten sich darauf niedergelassen und sammelten fleißig Nektar. Kleiner Löwe hatte mir ein Glas Wasser eingegossen und sich dann auf die Kante ihres Bettes gesetzt. Ich saß auf Gugus Bettkante. Im Zimmer roch es nach parfümierter Seife. Die Waschschüssel auf dem Ständer Marke Red Lantern war noch halbvoll mit Seifenwasser, Gugus Bett war unordentlich, die Decke nicht zusammengelegt.
»Gugu ist wohl überstürzt zur Arbeit los?«
»Ja.«
»Es kommt mir vor wie ein Traum.«
»Mir geht es genauso.«
»Weißt du, was mit Leber ist? Der hat dir fast sechshundert Briefe geschrieben.«
»Das hat Gugu mir mal gesagt.«
»Was denkst du darüber?«
»Weiß nicht.«
»Ich war schon mal verheiratet. Eine kleine Tochter habe ich auch. Ist dir das nicht unangenehm?«
»Nein.«
»Sprich doch erst mal mit deiner Familie darüber!«
»Ich habe keine Familie.«
Ich brachte sie mit dem Fahrrad zur Kommuneverwaltung. Die Straße war gerade mit Ziegelschotter ausgebessert worden, das Fahrrad ruckelte hin und her; es war schwer, die Spur zu halten. Sie saß auf dem Gepäckträger, die Schulter an meinen Rücken gelehnt. Ich spürte ihr Gewicht.
Es gibt Leute, die lassen sich prima auf dem Gepäckträger mitnehmen, bei anderen ist es furchtbar anstrengend. Wang Renmei gehörte zu der ersten, Kleiner Löwe zur zweiten Sorte.
Ich mühte mich ab und trat mit aller Kraft in die Pedalen. Dann riss die Kette. Ich bekam einen Wahnsinnsschreck, denn ich dachte sofort: Ein schlechtes Omen! Würde ich auch mit ihr nicht immer zusammenbleiben und würde unsere Beziehung unglücklich zerreißen? Wie eine Schlange lag die Kette auf der Erde. Ich klaubte sie auf und blickte mich hilfesuchend um.
Zu beiden Seiten der Straße wuchs Mais, ein paar Frauen waren damit beschäftigt, die Pflanzen mit einem Insektenschutzmittel zu besprühen. Die Spritzflaschen machten beim Pumpen laute Geräusche, es hörte sich an wie Fliegeralarm. Die Frauen hatten eine Plastikplane um die Schultern gelegt, einen Mundschutz vor dem Gesicht und ein Kopftuch umgebunden. Was für eine grausige Arbeit.
Wie die Wölkchen so aus dem grasgrünen Mais nach oben aufstiegen, war man fast versucht, in dieser Szenerie eine gewisse Poesie zu entdecken, kamen einem doch glatt auf Wolken reitende und durch Nebel driftende Unsterbliche in den Sinn.
Ich musste an Wang Renmei denken. Sie war mutig gewesen. Sie traute sich sogar, Schlangen zu fangen. Sie griff sie am Schwanz, so wie ich die Fahrradkette aufgeklaubt hatte. Sie hatte auch eine Zeitlang diese Insektenschutzmittel spritzen müssen. Denn nachdem sie die Verlobung und den Ehevertrag mit Xiao Unterlippe wieder rückgängig gemacht hatte, war sie von der Schule entlassen worden. Ihr Haar roch nach der Arbeit stark nach Pestiziden, aber sie lachte nur und sagte, so spare sie das Haarewaschen. Kopfläuse und Mücken würden nun einen großen Bogen um sie machen. Beim Haarewaschen hielt ich ihr den Krug und goss ihr von hinten das Wasser übers Haar. Sie hielt den Kopf über die Schüssel gebeugt, schluckte Wasser und lachte. Als ich fragte, worüber sie denn lache, lachte sie noch mehr, so heftig, dass die Waschschüssel zu Boden fiel.
Während ich an sie dachte, hatte ich sofort wieder Gewissensbisse, so schuldig fühlte ich mich. Ich schielte zu Kleiner Löwe hinüber. Sie hatte sich extra hübsch gemacht: Sie trug eine brandneue rotkarierte, kurzärmlige Bluse mit Hemdblusenkragen und ihr Handgelenk schmückte eine blitzende Quarzuhr. Sie besaß einen üppigen Körper in der Blüte der Jahre! Außerdem hatte sie eine Gesichtscreme mit Perlenpuder aufgelegt, deren feinen Duft ich noch in der Nase hatte. Die Pickel auf ihrem Gesicht stachen nicht mehr so ins Auge.
Es waren noch eineinhalb Kilometer bis zur Kommuneverwaltung, die wir wohl oder übel zu Fuß gehen mussten.
Vor dem Kommuneschlachthof trafen wir auf Chen Nase mit seiner Tochter Ohr auf dem Rücken.
Sowie er uns sah, froren seine Gesichtszüge ein. Ich wäre am liebsten im Erdboden versunken, als ich seinen Blick sah, so sehr schämte ich mich. Er drehte sich weg, er wollte mich nicht grüßen.
»Chen Nase«, rief ich noch.
»Huch, ich denke gerade, welch hohes Tier kommt denn hier vorbei!« Wie spitze Pfeile trafen mich seine Worte. Kleiner Löwe warf er einen bitterbösen Blick zu.
»Die haben dich laufen lassen?«
»Das Kind hat hohes Fieber, es ist krank. Wenn’s nach mir geht, hätte ich auch drin bleiben können, meinetwegen für den Rest meiner Tage, zu Essen gab’s genug. Was soll’s.«
Kleiner Löwe trat besorgt hinzu und befühlte Chen Ohrs Stirn.
Chen Nase drehte sich weg und wich ihr aus.
»Bring sie schnell ins Krankenhaus, sie hat fast vierzig Grad Fieber«, rief Kleiner Löwe ihm zu.
»Das ist doch kein Krankenhaus, was ihr da habt! Das ist ein Schlachthof!«
»Ich weiß, dass du uns hasst, aber wir können nichts dagegen tun!«
»Wie bitte? Ich hör wohl nicht richtig? Ihr tut viel zu viel!«
»Chen Nase, bitte trag es nicht auf dem Rücken des Kindes aus. Komm, lass uns ins Krankenhaus gehen. Ich bringe dich hin.«
»Nein danke, Mädel«, gab er kalt lachend zurück, »ich will euch nicht aufhalten. Ich komme allein zurecht.«
»Nase, wie kann ich es dir erklären?«
»Spar dir deine Worte, Renner! Ich hatte ursprünglich angenommen, dass du ein Mensch bist. Nun weiß ich, du bist es nicht.«
»Denk, was du willst«, sagte ich, »aber bitte bring dein Kind ins Krankenhaus!« Mit diesen Worten steckte ich ihm ein paar Geldscheine in die Jackentasche.
Er machte eine Hand frei, holte die Scheine wieder hervor und schmiss sie zu Boden: »Dein Geld stinkt nach Blut!«
Dann ging er mit seiner Tochter auf dem Rücken.
Ich schaute ihm atemlos nach, wie er sich immer weiter entfernte. Dann bückte ich mich, um das Geld wieder aufzusammeln, und steckte es in die Tasche.
»Er ist euch gegenüber sehr voreingenommen.« Mein Blick streifte Shizi, als ich das sagte.
»Pah! Der! Der soll die Schuld mal schön bei sich selber suchen!«, antwortete sie empört. »Was meint der wohl, wie wir uns dabei fühlen? Und wir haben niemanden, dem wir unser Herz ausschütten könnten!«
Um eine Heiratsurkunde zu beantragen, braucht man als Soldat ein Empfehlungsschreiben der Truppe. Aber der Amtsdiener Lu Mazi, der unsere Dorfverwaltung leitete, lachte uns an: »Ihr braucht das nicht. Eure Tante hat mir schon Bescheid gegeben. Sie sagte: ›Mein Sohn Wan Renner tut bei euch in der Truppe Dienst, seit vorletztem Jahr ist er bei euch in der Truppe. Er ist ein helles Köpfchen. Was der anpackt, gelingt ihm sofort. Hilf ihm ein bisschen, ja?‹«
Als ich die Heirat im Familienmelderegister eintragen lassen wollte und meinen Fingerabdruck hinterlassen sollte, zauderte ich einen Augenblick, denn ich erinnerte mich daran, wie ich hier mit Renmei die Ehe anmeldete und eintragen ließ.
Es waren noch das gleiche Eheregister, die gleiche Amtsstube, der gleiche Beamte. Als ich damals den hellroten Fingerabdruck machte, rief Renmei freudestrahlend aus: »Stark! Eine Schnecke im Fingerabdruck!12«
Lu Mazi sah mich an, dann Shizi. Mit einem Scheißlächeln sagte er spitz: »Wan Fuß, du Schlawiner! Hast du ein Glück bei den Frauen! Schnappst uns hier die schönste Frau aus unserer ganzen Kommune vor der Nase weg!« Dann klopfte er mit dem Finger auf die Stelle, wo der Fingerabdruck hingehörte: »Drück den Finger drauf. Wer wird denn da noch überlegen!«
Seine Worte hörten sich an, als mache er sich über mich lustig – kein Zweifel, er verhöhnte mich. Verdammter Mist, sollte er doch. Mir war alles scheißegal. Ich sagte mir: Ich drück jetzt den Finger drauf und denke nicht mehr darüber nach. Aus und fertig! Und mein Leben? Ach, was soll’s. So ein Menschenleben geht schnell vorüber, und es ist sowieso vieles im Leben von der Vorsehung bestimmt. Ich tue besser daran, jetzt mit dem Strom zu schwimmen, statt mein Boot flussaufwärts zu staken. Außerdem bin ich bis hierher aufs Standesamt mitgegangen. Wenn ich jetzt meinen Fingerabdruck nicht mache, reite ich Shizi doch böse rein. Eine Frau habe ich schon auf dem Gewissen. Die zweite darf ich nicht auch noch ins Verderben stürzen.