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Als ich wieder auf der Straße war, fühlte ich mich doch erleichtert.

Es stimmte, es würde nur ein Kind geboren werden, nichts weiter würde geschehen. Die Sonne würde weiter scheinen, die Vögel weiter jubilieren, die Blumen weiter blühen, das Gras weiter sprießen und der Wind wie immer mit sanfter Brise wehen.

Auf dem Tempelvorplatz war die Ehrengarde der Kinder schenkenden Niangniang gerade dabei, sich wie die Flügel bei einer Wildgans in zwei Reihen aufzustellen, während die Musiker und Opernsänger spielten und sangen, dass die Erde bebte.

Viele Frauen, die sehnsüchtig auf ein Kind warteten, drängten nach vorn, weil sie hofften, diesmal das ersehnte Kind aus der Hand der Niangniang empfangen zu können.

Diese Menschen besangen in höchsten Tönen die Fruchtbarkeit und das Gebären, sehnten sich nach nichts mehr, als nach einem Kind, feierten es überschwänglich; und ich war in Nöten, grämte mich, hatte vor Sorgen keine ruhige Minute mehr, weil jemand von mir schwanger war.

Dafür gab es nur eine Erklärung: Ich hatte es hier nicht mit einem gesellschaftlichen Problem zu tun, das Problem lag bei mir selbst.

Sugitani san, ich entdeckte Nase und seinen Hund hinter der großen Säule rechts am Eingang zur Tempelhaupthalle. Diesmal war es ein großer Schäferhund mit schwarz geflecktem Fell, ein deutlich edlerer Hund als sein erster, der auf der Straße sein Leben für ihn gelassen hatte.

Warum hatte ein wunderschöner Schäferhund von so edler Abstammung einen Pennbruder zum Gefährten gewählt? Das bleibt wohl ein Geheimnis. Aber wenn man’s sich recht überlegt, ist es nicht verwunderlich.

Nordost-Gaomi ist wie alle jüngst erschlossenen Gebiete: Die eigenen Methoden sind mit den fremdländischen bis zur Unkenntlichkeit vermengt. Denn trägt der Fluss die gute Tonerde und den schlechten Sand nicht zusammen zum Meer? Schön und hässlich sind schwer zu unterscheiden, ob ja oder nein, richtig oder falsch, lässt sich nicht mehr trennen.

Es gibt hier viele Neureiche, die der Mode hinterherjagen. Gerade reich geworden, wollen sie am liebsten ein Tigerbaby anschaffen und als Haustier halten; wenn sie pleite sind, möchten sie die eigene Frau verkaufen, um damit ihre Schulden zu tilgen. Auf der Straße sieht man viele streunende Hunde, Hunde die auf der Flucht sind, viele reinrassige, aus einer berühmten Zucht stammende, ungemein teure Tiere, die noch vor kurzem einer wohlhabenden Familie gehörten.

Es ist die gleiche Situation wie Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts, als nach dem Ausbruch der russischen Revolution viele vornehme weißrussische Damen, darunter zahlreiche Adlige, in Harbin sesshaft wurden, um wohl oder übel eine Bäckerei aufzumachen, sich als Bardame oder Prostituierte zu verdingen oder einen Kuli aus der Unterschicht zu heiraten. Deswegen kamen damals in Harbin etliche russisch-chinesische Mischlingsbabys zur Welt, und Nases tief liegende Augen und seine große Nase haben wahrscheinlich mit dieser Epoche zu tun.

Dass der schwarz gescheckte Schäferhund zum Gefährten Chen Nases geworden ist, ist also durchaus verständlich, weil sie sich beide ähneln. Das ging mir durch den Kopf, als ich die beiden aus einiger Entfernung von der Seite beobachtete. Er hatte seine zwei Krücken neben sich aufgestellt, vor sich ein rotes Stück Stoff ausgebreitet, auf dem wohl etwas stand wie: Schwerbeschädigter bittet um eine kleine Spende.

Von Zeit zu Zeit beugte sich eine mit Perlen und Edelsteinen behängte Dame zu ihm herab und legte einen Schein oder ein paar Münzen in die vor ihm stehende Blechschüssel. Jede Spende begleitete der gescheckte Hund, indem er den Kopf hob und mit sprechenden Augen und freundlichem Ton dreimal bellte. Nicht mehr und nicht weniger, genau dreimal »Wau«. Die Wohltäterin war gerührt, manch eine gab dann ein zweites Mal Geld.

Ich war schon nicht mehr darauf aus, ihn mir für viel Geld zu kaufen, damit er Augenbraue zum Abort überredete. Ich ging zu ihm, weil ich neugierig geworden war und wissen wollte, welche Schriftzeichen er auf seinen roten Stofffetzen geschrieben hatte. Eine Schriftstellermarotte würde ich sagen.

Die Schriftzeichen auf dem roten Stoff besagten:

Ich bin Li Tieguai von den Acht Unsterblichen,

der Li mit dem Eisenkrückstock,

ich geleite den im Jahr 2005

Jadehund-Geborenen hinab in die Welt.

Weil ich die Königinmutter des Westens

in Gestalt des Eisenkrückstock-Li bin,

schickt mich meine Tante Niangniang

hierher, damit ich um Almosen bitte,

damit ihr durch Wohltaten

positive Ursachen setzen könnt.24

Eine Gabe soll euch mit einem Kind

in der Wiege gelohnt sein,

das einst hoch zu Ross

der beste Kandidat bei den

Staatsprüfungen sein wird.

Ich glaube, dass Wang Leber sich die Verse auf dem Stofflappen ausgedacht, aber Chen Nase sie geschrieben hat. Er hatte die Hosenbeine hochgekrempelt, seine beiden Beine lugten wie zwei braun gewordene Schlangenauberginen daraus hervor.

Mir fiel eine Geschichte ein, die Mutter uns immer erzählt hatte:

»Als Eisenkrücken-Li zum Unsterblichen geworden war, hatten sie zu Hause kein Holz zum Feuermachen. Seine Frau fragte: Womit soll ich Feuer machen? Er sagte: Nimm mein Bein zum Feuermachen. Dann streckte er ein Bein in den Ofen und entfachte damit das Feuer. Das Feuer im Ofen prasselte, der Dampf entwich aus dem Topf und der Reis im Topf wurde gar. Da kam seine Schwägerin zur Tür herein, erschrak heftig und rief: O weh, Bruder, pass auf! Dein Bein wird ganz braun! So kam es, dass er ganz braun verbrannte Beine hat

Mutter ermahnte uns jedes Mal, wenn sie mit dieser Geschichte fertig war: »Wenn ihr etwas Göttliches, Zaubermächtiges seht, seid still und sagt keinen Ton. Ihr dürft nicht laut werden und kein Aufhebens davon machen.«

Chen Nase trug eine rostrote Daunenfederjacke, die von Ölspritzern fleckig war. Die Spritzer funkelten im Sonnenlicht, so dass es aussah, als trüge er eine Rüstung.

Es war Mai, laue Lüfte brachten die Wärme zurück. Die Weizenfelder wurden jetzt gedüngt und bewässert. Man hörte von fern das Fröschequaken aus dem Teich und von nah das Quaken aus der Froschfarm, die Paarungszeit hatte begonnen. Die jungen Mädchen trugen wieder dünne Seidenkleider und man konnte heimliche Blicke auf ihre Körper werfen.

Nur Chen Nase war immer noch dick angezogen. Wenn ich ihn anschaute, wurde mir heiß, er jedoch saß zusammengekauert da und zitterte. Sein Gesicht hatte einen dunklen Kupferton, seine Glatze glänzte im Sonnenlicht wie poliert.

Ich verstand nicht, warum er einen schmutzigen Mundschutz trug. Vielleicht um seine auffällige Nase zu verstecken? Jetzt hatten sich unsere Blicke getroffen. Aus dem Augenwinkel hatte er mir einen Blick zugeworfen und war meinem ängstlichen Blick begegnet.

Sofort wich ich ihm aus und betrachtete seinen Hund. Sein Hund beobachtete mich auch, mit dem gleichen abweisenden, verschwommenen Blick wie sein Herr. An seiner linken Vorderpfote fehlte ein Stück, als wäre es von einer scharfen Maschine abgetrennt worden.

Ich hatte begriffen, die beiden waren Leidensgenossen. Ich hatte auch begriffen, dass ich ihm lediglich Geld in seinen Napf legen konnte und mich dann schnell entfernen musste.

Ich hatte nur einen Hundert-Yuan-Schein bei mir, davon wollte ich zu Mittag und zu Abend essen gehen. Aber ich tat sie ihm, ohne zu zögern, in seinen Blechnapf. Er reagierte nicht, der Hund aber bellte wie gewohnt seine drei Waus.

Seufzend ging ich weg. Ich war an die zwanzig Schritte gegangen, da konnte ich es mir nicht verkneifen, zurückzublicken. Wie würde er mit der großen Banknote umgehen? In seinem Napf waren fast nur Ein-Yuan-Scheine und Münzen und alle waren schon abgegriffen, mein großer, rosafarbener Schein aber stach daraus sehr hervor. Ich dachte bei mir: Keiner gibt ihm so freigiebig derart viel Geld! Ich war mir sicher, dass er dem frischen Schein besondere Beachtung schenken würde.

Sugitani san, ich muss schon sagen, ich war genau wie der, über den das berühmte Wort sagt:

Mit dem Herzen eines gemeinen Schurken

die Gesinnung eines Edlen prüfen.

Was musste ich sehen? War ich wütend! Ein vielleicht fünfzehnjähriger dunkelhäutiger, dicklicher Junge sprang hinter der Säule hervor, bückte sich nach der Blechschale, griff sich meine Banknote und war blitzschnell im Gedränge untergetaucht. Ehe ich es recht begriffen hatte, war er schon zwanzig Meter weiter die kleine Gasse neben dem Tempel Richtung Chinesisch-Amerikanische Mutter-und-Kind-Klinik entlanggerannt. Der Junge hatte geschielt. Er kam mir bekannt vor, irgendwo war er mir bestimmt schon mal begegnet.

Da fiel es mir wieder ein. Es gab keinen Zweifel. Im Jahr unserer Rückkehr, als diese Klinik eröffnet wurde, hatte ein kleiner Junge meiner Tante die weiß eingepackte Pappschachtel mit dem dünnen Frosch in die Hand gedrückt Meine Tante war damals vor Schreck in Ohnmacht gefallen.

Chen Nase hatte keinerlei Reaktion gezeigt. Sein Hund hatte den Jungen zwar angeknurrt und dabei den Kopf gehoben und zu seinem Herrn geschaut. Aber dann hatte er den Kopf auf die Pfoten gelegt und war still gewesen. Alles war wieder friedlich.

Ich war innerlich aufgewühlt, wegen Nase, wegen seines Hundes und auch meinetwegen. Denn es war schließlich mein Geld gewesen. Ich erzählte die Sache ein paar Passanten vor dem Tempel, um mir Luft zu machen. Aber jeder hatte mit sich selbst zu tun. Der Diebstahl hatte eben stattgefunden, wie ein springender Funke kurz geblinkt und keine Spuren hinterlassen.

Dieser Lump, der hier in Nordost-Gaomi unsere ländliche Unbescholtenheit kaputtmachte, würde mir nicht ungeschoren davonkommen. Wessen missratene Nachkommenschaft war das? Frauen drangsalieren und Menschen mit Handicap ausrauben! Das waren Untaten, die den Himmel beleidigten!

Ich hatte auch sofort erkannt, wie geübt der Junge war. Er hatte sicher nicht zum ersten Mal aus Nases Bettelschale gestohlen. Ich rannte los in die Richtung, in die er verschwunden war. Da vorne war er! Fünfzig Meter von mir entfernt. Er rannte nicht mehr. Er machte einen Luftsprung und riss einen Zweig von der Trauerweide ab, einen mit gänsekükengelben, zarten Blättchen, mit dem er durch die Luft hieb und auf den Boden schlug. Er schaute sich gar nicht um. Er wusste ja, dass die beiden Lahmen, Mensch wie Hund, ihn nicht verfolgen würden. Na warte, Freundchen, dich schnapp ich mir!

Er bog in den großen Bauernmarkt am Fluss ein. Die Überdachungen der Marktstände waren aus blass türkisfarbenem, durchscheinendem PVC. Unter den Dächern war das Licht gedämpft, und die Leute in den Gängen zwischen den Ständen bewegten sich wie Fische im blaugrünen Wasser.

Das Angebot war überreichlich; in vielen, vielen Reihen gab es einen Stand neben dem anderen. Der Markt war fast wie eine große Markthalle. Die Gemüsestände boten verschiedenste Sorten an, deren Namen ich nicht einmal kenne, obwohl ich aus einer Bauernfamilie stamme. Wenn ich an die Mangelwirtschaft von vor dreißig Jahren zurückdenke, entfährt mir ein Stoßseufzer, so froh bin ich, dass es damit vorbei ist. Der Junge kannte hier jeden Winkel und kam rasch vorwärts. Er rannte ungehindert zu den Fischständen. Ich beschleunigte meinen Schritt, um ihm auf den Fersen zu bleiben, und konnte gleichzeitig meinen Blick von den Fischen, Schildkröten, Shrimps und Krebsen in den Auslagen der Stände zu beiden Seiten des Gangs nicht losreißen.

Die wie kleine Ferkel in einer Reihe liegenden, silbern glänzenden Lachse waren aus Russland importiert. Die großen Vogelspinnen ähnelnden Wollhandkrabben, die ihre Krebsscheren weit aufgesperrt hatten, kamen aus Hokkaido. Es gab südamerikanische Hummer, australische Abalone und natürlich noch Unmengen von einheimischen Schwarzen Graskarpfen, Seebrassen, Gelben Adlerfischen, Goldenen Dorschbarschen. Das kräftig orangefarbene Fleisch der bereits filetierten Lachse lag auf weißem zerstoßenen Eis. Von den Fischbratereien duftete es wie immer köstlich nach gebratenen Meerestieren.

Der Junge kaufte an einem Stand, der gegrillten Tintenfisch verkaufte, einen Spieß Tintenfischfleisch und zückte meinen großen Schein, um damit zu bezahlen. Er bekam einen Schwung Scheine als Wechselgeld zurück. Dann reckte er den Hals, um die Tintenfischstücke in seinen Mund zu befördern. Er glich dabei dem Schwertschlucker auf dem Vorplatz des Niangniang-Tempels. Als er gewandt einen von dunkelroter Soße triefenden Tintenfischtentakel vom Spieß herunter schnappte, machte ich einen Satz auf ihn zu und packte ihn von hinten im Nacken.

Ich rief laut: »Wo rennst du hin, Langfinger?«

Er ging sofort in die Knie, befreite sich aus meinem Griff. Ich packte ihn flink am Handgelenk, aber er fuchtelte sofort wild mit dem Arm und ging mit dem vor Soße triefenden und mit Tintenfisch bestückten Metallspieß auf mich los.

Ich zog meine Hand zurück. Er wand sich wie ein Schlammpeitzger, wie ein Aal und war fort. Ich preschte vor und bekam ihn an der Schulter zu fassen. Er warf sich mit Wucht herum, sein lumpiges T-Shirt war ratsch! entzwei und gab den Blick frei auf seinen öligen, dunklen Körper. Der stramme Junge mit entblößtem Oberkörper wie Makrelenhaut weinte laut. Seine Augen blieben trocken, aber er stieß ein lautes Wolfsgeheul aus, wobei er meinen Bauch mit dem Tintenfischspieß bajonettierte. Ich versuchte auszuweichen, schaffte es nicht, kriegte den Spieß in die Schulter. Zuerst tat es nicht weh. Aber dann spürte ich plötzlich einen scharfen Schmerz, dunkles Blut floss in Strömen aus der Wunde.

Ich presste meine rechte Hand auf die Verletzung und schrie laut: »Ein Dieb! Er hat einen Schwerbeschädigten beklaut!«

Der Langfinger brüllte wie ein Schwein, das abgestochen wird, und stürzte sich auf mich. Ein grauenvoller Blick, Sugitani san, ich hatte entsetzliche Angst und wich zurück, um irgendwo in Deckung zu gehen. Ich schrie ihn an, er stach zu und brüllte: »Du musst mir mein Hemd ersetzen! Du ersetzt mir mein Hemd!«

Er füllte sein Geschrei mit zahllosen Kraftausdrücken, die ich niemals niederschreiben könnte.

Sugitani san, dass meine Heimat Gaomi solche Nachkommenschaft hervorbringt, dafür schäme ich mich aufrichtig. Im Eifer des Gefechts griff ich mir eine Holztafel, auf der ein Fischhändler Angaben über Fischsorten, Herkunftsort und Preise vermerkt hatte, die ich als Schild benutzte, um die Angriffe des Diebs abzuwehren.

Seine Spießattacken wurden immer brutaler, jeder Stoß war voller Mordlust. Auf mein »Tafelschild« gingen die Stiche in schneller Folge nieder, meine Rechte war blutüberströmt, weil ich sie nicht schnell genug in Sicherheit gebracht hatte.

Sugitani san, mit der Zeit verlor ich die Konzentration. In meinem Kopf herrschte Chaos, ich war nur noch damit beschäftigt, zurück und seitlich auszuweichen. Oft stolperte ich, weil ich mit der Ferse einen Fischkorb traf oder an ein Brett schlug; fast wäre ich auf den Kopf gefallen.

Wäre ich tatsächlich gestürzt, Sugitani san, hätte ich Ihnen jetzt nicht mehr schreiben können. Wenn ich wirklich der Länge nach hingeschlagen wäre, hätte mich dieser Junge, der wie ein Leopard kämpfte, zweifellos erstochen, oder ich wäre lebensbedrohlich verletzt ins Krankenhaus auf die Unfallstation gekommen.

Ich muss ja zugeben, Sugitani san, dass ich an jenem Tag völlig verängstigt war, ich hatte richtige Panik. Meine Charakterschwäche kam deutlich zum Vorschein. Verzweifelt hielt ich nach beiden Seiten Ausschau, weil ich hoffte, dass mir die Fischverkäufer helfen, dass sie mich aus der Gefahr befreien und retten würden, aber sie schauten nur müßig zu, die Hände in den Hosentaschen. Andere machten sich einen Spaß, feuerten mich an und klatschten in die Hände.

Sugitani san, ich war nicht mehr als ein Stück Müll, fürchtete den Tod und klammerte mich ans Leben. Ich verspürte absolut keinen Kampfgeist. Da lasse ich mich doch von einem nicht mal Fünfzehnjährigen so in die Enge treiben, dass ich nur noch weg will, höre mit einem Ohr immerfort mein eigenes lautes Weinen und Flehen, wie das Jaulen eines Hundes, der eine harte Tracht Prügel bekommt.

»Zu Hilfe! Zu Hilfe!«, schrie ich in einem fort.

Der Junge hatte längst aufgehört zu weinen und zu brüllen – er hatte sowieso nicht wirklich geweint –, er stierte mich nur mit seinen Kulleraugen an. Man sah fast kein Weiß neben seinen Pupillen, denn sie waren wie zwei fette Kaulquappen. Er biss sich auf die Unterlippe und musterte mich, blieb einen Augenblick stehen und trieb mich dann wieder vor sich her. »Zu Hilfe!«, schrie ich und hielt meinen Schild hoch. Mein Arm war schon wieder getroffen worden. Das Blut lief in Strömen. Er preschte erneut auf mich zu, startete diese Angriffe wieder und wieder, und ich schrie »Zu Hilfe!« und wich erbärmlich feige zurück. Bis aus dem Markt hinaus. Bis in die Sonne.

Ich warf die Tafel fort und rannte, was ich konnte. Während ich rannte, schrie ich weiter um Hilfe.

Sugitani san, meine Erbärmlichkeit ist mir so peinlich, dass ich sie Ihnen gar nicht schildern mag. Aber ich könnte den Vorfall außer Ihnen keinem sonst erzählen. Ich rannte, ohne auf den Weg zu achten. Hörte von beiden Seiten so lautes Menschengeschrei, dass ich meinte, taub zu werden. Ich rannte in die kleine Straße mit den Garküchen. Auf einer Straßenseite befand sich ein kleines Restaurant. Davor parkte eine silbergraue Limousine. Ich sah ein schwarzes Ladenschild vor dem Restaurant hängen, auf dem zwei seltsame Zeichen in roter Schrift geschrieben waren:

雌雉

»Fasan.«

Vor dem Restaurant saßen zwei Frauen, eine große, korpulente und eine kleine, zierliche, die erschreckt von ihren Stühlen hochfuhren. Sie waren meine letzte Rettung, und ich stürzte auf sie zu, stolperte und schlug vornüber mit dem Gesicht auf die Straße. Meine Lippen platzten auf und zwischen den Schneidezähnen lief das Blut hinunter. Ich war über eine Eisenkette gestolpert, die zwischen zwei Pfosten gespannt war. Einen der Pfosten hatte ich dabei umgestoßen. Die beiden Frauen beugten sich sofort über mich, zogen mich an den Armen hoch und halfen mir aufzustehen. Ich spürte, dass sie mir ungezählte Backpfeifen gaben, dass ich überall von ihrer Spucke getroffen wurde.

Der Junge, der hinter mir her gewesen war, war mir nicht gefolgt. Ich hatte Glück, Sugitani san, aber ich hatte trotzdem Pech. Denn die beiden Frauen vom Restaurant »Fasan« ließen mich jetzt nicht mehr weg. Sie beharrten darauf, dass der Eisenpfosten, den ich umgeworfen hatte, auf ihr Auto gefallen sei und es verbeult habe.

Sugitani san, ich habe gesehen, dass es an dem Auto tatsächlich einen stecknadelkopfgroßen Kratzer gab, besser gesagt einen weißen Punkt, der aber nie und nimmer durch den Kettenpfosten entstanden sein konnte.

Sie ließen mich nicht gehen und beschimpften mich auf schmähliche Art und Weise, so dass sich um uns in kürzester Zeit viele Gaffer versammelt hatten. Besonders die kleinere der beiden war brutal und glich darin dem Jungen, der mich mit dem Spieß attackiert hatte. Sie rammte mir ihren Finger mehrmals so ins Gesicht, als wolle sie mich blenden. Jede meiner Erklärungen ging in einer lautstarken Schmährede von zwanzig Sätzen unter. Teurer Freund, ich kniete mit beiden Händen vor dem Gesicht am Boden und war so verzweifelt wie niemals zuvor.

Der Grund, warum ich und Kleiner Löwe uns entschlossen hatten, Peking zu verlassen und wieder nach Hause zu ziehen, war nämlich, dass uns in Peking auf der Huguo-Tempel-Straße etwas Ähnliches zugestoßen war. Es hatte sich auch vor einem Restaurant ereignet. Es liegt gegenüber dem Pekinger Volkstheater, und sein Name ist ganz ähnlich, nämlich »Wildfasan«.

Als wir uns die Plakate des Theaters angeschaut hatten, waren wir auch über eine Kette gestolpert, die zwischen zwei rotweiß gestrichenen Pfosten aufgehängt gewesen war. Der Pfosten war genauso und ebenfalls deutlich entfernt vom Heck eines weißen Autos umgefallen. Aber eines der beiden vor dem Restaurant »Wildfasan« sitzenden jungen Mädchen mit blond gefärbtem Haar, einem Mäusegesicht und Lippen so schmal wie Messers Schneide war auf uns zugestürzt, weil es an dem Pkw einen stecknadelkopfgroßen weißen Punkt entdeckt hatte, der angeblich durch den umgefallenen Kettenpfosten entstanden war. Es hatte uns mit Händen und Füßen in einer abfälligen Art und Weise beschimpft, die mit widerlichen Kraftausdrücken im Pekinger Dialekt gespickt war. Sie sei schließlich in Peking groß geworden und habe schon alle möglichen Leute erlebt, aber ... »Ihr Bauerntölpel vom Land, ihr Weichschildkröten aus euren dreckigen Tümpeln, ihr steckt doch mit dem Kopf alle Tage im Dreck. Was habt ihr in unserer Hauptstadt zu suchen? Ihr blamiert uns Chinesen hier. Wir schämen uns für euch!« Das zweite, korpulente, streng nach Hämorridensalbe riechende größere der beiden Mädchen war vorgestürzt und hatte mir kurzum einen Faustschlag auf die Nase verpasst. Die im Rund um uns stehenden Gaffer, die Glatzköpfe und die barbäuchigen Alten hatten sofort begonnen, die beiden Frauen anzufeuern, sie spielten bei diesem Theater den Chor. Die alteingesessenen Pekinger hielten wie Pech und Schwefel zusammen, prahlten mit ihrem Status und ihrer großstädtischen Herkunft und nötigten uns, zu bezahlen und um Verzeihung zu bitten.

Sugitani san, ich Weichei habe bezahlt und mich entschuldigt.

Lieber Freund, wieder zu Hause haben wir beide wie die Schlosshunde geweint und beschlossen, Peking den Rücken zu kehren und wieder nach Gaomi zu ziehen. Weil wir gedacht haben, hier in Gaomi ist unsere Heimat und hier drangsaliert uns keiner.

Wer hätte annehmen können, dass diese zwei Frauen hier an Boshaftigkeit und Brutalität den Pekingerinnen in nichts nachstanden?

Ich kann nicht begreifen, lieber Freund, wie Menschen es fertigbringen, so unglaublich brutal zu sein, Sugitani san. Und, o Schreck! Nun war auch noch dieser leopardengleiche Junge wieder im Anmarsch. Die Tintenfischstücke hatte er inzwischen aufgegessen. Wenn er jetzt mit dem Spieß zustach, würde er noch schärfer und tiefer stechen. Ich wusste plötzlich, dass er der Sohn der Kleineren und dass die Korpulente seine Tante war. Nackter Überlebenswille zwang mich auf die Beine. Ich wollte weg.

Wegrennen war ja schon immer meine Stärke gewesen. Die langen Jahre des Lebens im Überfluss hatten mich vergessen lassen, dass ich ein wirklich guter Rennläufer war. In der lebensbedrohlichen Lage, in der ich jetzt steckte, konnte mein läuferisches Talent mir wieder von Nutzen sein. Die Frau wollte mich noch aufhalten, der Junge schrie schon aus Leibeskräften, da brüllte ich los wie ein Hund, den man in die Enge getrieben hat. Mein Anblick, der ganze Körper blutüberströmt, mit eingeschlagenen Zähnen und blutendem Mund, hatte sie wohl doch erschreckt – ich bin mir sicher, denn in dem Moment, als ich aufschrie, sah ich ihre versteinerten Gesichter. Wenn Frauen einen solchen Gesichtsausdruck haben, werde ich immer weich und mein Herz fließt über vor Mitleid.

Ich machte mir ihre Bestürzung zunutze und sprang mit einem Riesensatz über den schmalen Spalt zwischen zwei Autos hinweg. Und jetzt lauf, Wan Fuß, Wan Renner! – der fünfundfünfzigjährige Kleine Renner hatte sein altes Tempo wiedererlangt und stob davon. Ich rannte wie der Blitz durch die kleine Straße mit ihrem Duft nach Brathühnchen, Fisch, gebratenem Hammelfleisch und vielen anderen mir unbekannten Gerüchen. Ich spürte, wie meine Beine leicht wie Heu wurden, beim Auftreten schien der Boden unter mir hochzuschnellen und dem nachfolgenden Schritt noch mehr Kraft mitzugeben. Ich war wie ein Reh, wie eine Antilope, wie Superman, der auf dem Mond gelandet und schwerelos wie eine Schwalbe ist. Ich spürte, dass ich ein Ross war, ein edler Achal-Tekkiner, ein Himmelspferd, ein Blüter, der mit seinen Hufen fliegende Schwalben zu treffen vermag, unbeschwert, losgelassen.

Dieses Achal-Tekkiner-Gefühl war allerdings von kurzer Dauer, nur ein kurzes Traumbild. In Wirklichkeit keuchte ich schwer, ich schnaufte, als müsste ich Feuer spucken, mein Herz bummerte bis in mein Trommelfell, die Brust wollte mir zerreißen, der Kopf zerspringen, vor den Augen wurde mir sekundenweise schwarz, und meine Adern waren so prall, dass sie dem Druck fast nicht standhielten. Der Überlebenstrieb holte aus meinem Körper kurz vor dem Kollaps die letzten Kraftreserven heraus; es war ein Überlebenskampf, der seinem Namen alle Ehre machte. Ich hörte dicht neben mir ein donnergleiches Brüllen. Von vorn kam ein vollbärtiger junger Mann im schwarzen Sun-Yat-Sen-Anzug25, er hatte grünblaue Augen wie zwei Glühwürmchen, die nachts in den Bergen die Straße überqueren. Gerade, als die schneeweißen Finger seiner Hand mich festhalten wollten, spie ich einen Mundvoll mit Blut vermischte Spucke aus, der sein gepflegtes Gesicht augenblicklich verfärbte. Ich hörte seinen Schmerzensschrei, dann hielt er die Hände vors Gesicht und ging in die Knie. Sugitani san, es tut mir aufrichtig leid, ich weiß, dass sein Versuch mich aufzuhalten, sicher eine ehrenvolle Tat war und von seiner Tugend zeugt. Ich dagegen verhielt mich wie ein Tintenfisch, wenn er in Gefahr ist. Dass ich ihn beschmutzte, seine Augen mit meinem Auswurf verletzte, ist mir zutiefst unangenehm. Wäre ich ein wirklicher Ehrenmann, so hätte ich doch das Rückgrat besessen, jedes spitze Messer hinter mir zu ignorieren; ich hätte ruhig angehalten und mich bei ihm entschuldigt.

Aber ich bin kein Ehrenmann, Sugitani san, ich bin des Umgangs mit Ihnen nicht würdig.

Am Straßenrand standen noch ein paar edle, biedere Naturen, die mich anriefen, aber nicht auf mich zukamen. Ihnen war wohl der Mut vergangen, als sie mich Blut spucken sahen. Sie warfen ihre halb ausgetrunkenen Coca-Cola-Dosen auf mich, das sojasoßenfarbene amerikanische Kult-Getränk schäumte golden, ich schüttelte es ab ...

Teurer Freund, alles, was geschieht, geht irgendwann zu Ende, wie gut oder wie schlimm die Sache auch sein mag, sie wird einen Ausgang haben.

Diese Verfolgungsjagd, die sich in ihr Gegenteil verkehrt hatte und zur Flucht auf Leben und Tod geworden war, fand ihr Ende, als ich schließlich auch den allerletzten Funken Kraft aufgebraucht hatte und bewusstlos vor dem Eingang der Chinesisch-Amerikanischen Mutter-und-Kind-Klinik zusammenbrach. Im Moment meines Zusammenbruchs kam ein wie Lapislazuli glitzernder, blauer Ferrari von der zwischen Bäumen im Grünen gelegenen Klinik und verließ durch den von Blumenduft geschwängerten Garten das Krankenhausgelände. Mein Kollaps hatte bei den Leuten im Auto zweifellos einen sehr unschönen Eindruck hinterlassen, blutüberströmt am ganzen Körper, wie ich war, glich ich einem vom Himmel gefallenen Hundekadaver. Zuerst waren sie wohl erschrocken, dann dachten sie daran, dass so ein Vorfall Unglück bringen könnte.

Je reicher die Leute, desto abergläubischer sind sie, das weiß ich. Sie glauben mehr noch als die Armen an das Schicksal, hängen viel mehr am Leben als jene. Das ist normal. Die Armen geben sich immer schnell auf, nach dem Motto: Einen angestoßenen Krug kann man auch gleich fortwerfen, er ist wertlos. Die Reichen dagegen hüten ihren Wohlstand wie eine nicht mit Gold aufzuwiegende blauweiße Porzellanvase.

Wenn ich da plötzlich vor ihrem Auto bewusstlos umfalle, erschrickt der Ferrari wie ein kleines Füllen, steigt und wirbelt mit den kleinen Vorderhufen in der Luft und lässt mit großen Augen sein ängstliches Wiehern hören. Es tut mir hundertprozentig leid. Wirklich sehr leid.

Mein Körper zuckte, ich wollte nach vorn kriechen, für den Ferrari den Weg frei machen. Aber wie ein präpariertes Insekt, das am Schwanz mit einer Nadel aufgespießt ist, konnte ich mich nicht fortbewegen.

Ich musste an meine Kinderjahre zurückdenken, ja sogar noch als junge Männer hatten wir dieses böse Spiel gespielt: Wir hatten dunkle oder grüne Motten gefangen, sie am Hinterteil durchbohrt und an die Wand gepinnt. Hatten wir keine Stecknadeln, suchten wir uns Dornen. Dann beobachteten wir ihren Todeskampf, wie sie versuchten, vom Fleck zu kommen, wie sie kämpften und ihr Körper ihnen nicht mehr gehorchte. Ich hatte damals keine Spur von Mitleid, es hatte mir Spaß gemacht, ihnen zuzuschauen.

Verglichen mit dem Insekt bin ich riesenhaft, so riesig, dass es mich nicht vollständig erfassen kann. Für einen kleinen Käfer bin ich eine geheime Macht, die alle Nöte und Katastrophen verursacht. Er ahnt nichts von meiner mörderischen, barbarischen Hand, er spürt nur die Stecknadel, den Dorn.

Jetzt habe ich am eigenen Leib die gleiche Not erfahren, wie sie die von mir ermordeten Käfer erlitten. Ihr Käfer und Fliegen und Motten, es tut mir so leid, wirklich leid. I am sorry!

Ich sah, wie ein Mann hinter dem Steuerrad die Hupe betätigte. Einen angenehmen Ton hatte sie. Das hieß doch, dass der Fahrer ein kultivierter, geduldiger Mensch sein musste; kein gewöhnlicher Neureicher. Bei einem solchen würde sich die Hupe wie Fliegeralarm anhören. Der würde die Autoscheibe runterkurbeln, den Kopf rausstrecken und mir eine Salve schmutziger Schimpfwörter entgegenfeuern. Für diesen Ferrari fahrenden Gutmenschen wollte ich gern schnellstmöglich vorwärts kriechen, ihm den Weg freimachen, doch mein Körper gehorchte mir nicht.

Der Fahrer hatte nun keine Geduld mehr und stieg aus. Er trug mandelfarbene Freizeitkleidung mit einem orangefarbenen Karomuster an Kragen und Manschetten.

Plötzlich schoss mir eine Erinnerung durch den Kopf: Als ich noch in Peking gearbeitet habe, hat mir einmal ein Kenner internationaler Marken erzählt, wie der chinesische Name dieser Marke heißt. Aber ich habe ihn vergessen. Ich kann mir die Namen bekannter Marken nicht merken. Man könnte sagen, dass ich dagegen eine innere Abwehr habe. Es ist die Verachtung der Minderwertigen für die Leute aus der Oberschicht. Im Grunde nur eine Art und Weise, seinen Neid zum Ausdruck zu bringen. Wie wenn man die gute chinesische Hefenudel vor dem Brot lobt und die Sojabohnenpaste vor dem Käse.

Der Mann beschimpfte mich nicht, er trat auch nicht nach mir, er befahl nur dem Pförtner am Hauptausgang: »Schafft ihn schnell zur Seite.«

Nachdem er seine Anweisungen gegeben hatte, musste er blinzeln, streckte den Hals, hielt die Nase in die Sonne, um sodann einen lauten Nieser zu tun.

Längst Vergangenes bestürmte mich, wieder hatte ich ihn an seiner Art zu niesen erkannt. Unterlippe, mein Mitschüler aus der Grundschule, der ein hoher Kader gewesen war und heute ein Vermögen besaß. Angeblich hatte er als Schwarzhändler Kohlen verschoben, zu einer Zeit, als der Schwarzhandel mit Kohlen blühte. Er hatte die erste Fuhre Geld damit eingefahren, weil er durch seine politische Arbeit als Kader gute Beziehungen besaß. Dann hatte er Geld gescheffelt, bis weit mehr als eine Milliarde Yuan zusammengekommen waren.

Ich habe einmal ein Interview mit ihm gelesen. Darin berichtete er unter anderem davon, dass wir als kleine Kinder Kohlen gegessen hätten. Ich weiß noch sehr genau, dass er selbst keine Kohlen gegessen hat. Er hat uns dabei zugesehen, wie wir Kohlen aßen, und die Kohlen in seiner Hand nur intensiv betrachtet.

Lieber Freund, wie finden Sie das? Ist das peinlich, so auf der Wahrheit herumzureiten? Dagegen ist bei mir wohl kein Kraut gewachsen.

Ein Mitarbeiter des Wachdienstes schaffte es alleine nicht, mich wegzutragen. Zwei Leute mussten mir unter die Arme greifen, die mich im Grunde nicht unfreundlich unter der großen Reklametafel rechts vom Hauptkliniktor ablegten. Sie richteten mich etwas auf und lehnten mich an die Wand. Ich sah, wie mein Mitschüler Unterlippe in seinen Ferrari stieg und ihn vorsichtig über die Bremsschwelle an der Ausfahrt lenkte.

Wie nicht anders zu erwarten, saß Xiaobi mit ihrem schulterlangen Haar und dem hübschen Gesicht im Fond des Wagens. Auf ihrem Arm hielt sie einen rosigen Säugling.

Die Leute, die mich gejagt hatten, waren nun auch zur Stelle und umringten mich. Die beiden Frauen, der Junge, der junge Mann, den ich mit meinem dunklen Blut bespuckt hatte, und auch die Männer, die mich mit der Cola beworfen hatten. Sie standen da und schauten mich an. Vor mir setzte sich aus zig Gesichtern ein zwielichtiges Gemälde zusammen. Der Junge wollte mich erneut mit seinem Tintenfischspieß stechen, wurde aber von der etwas jüngeren Frau zurückgehalten. Einer, der ein bisschen wie ein Professor aussah, streckte seinen langen, schlanken Finger heraus und hielt ihn mir unter die Nase. Ich wusste, dass er prüfte, ob ich noch atmete. Ich hielt die Luft an. Das riet mir mein Selbsterhaltungstrieb.

Als ich noch ein Kind war, hatte ein Großvater aus unserm Dorf, der aus der Mandschurei zurückgekehrt war, erzählt, dass man sich am besten flach auf den Boden legt, den Atem anhält und sich tot stellt, wenn man im Wald auf einen Tiger oder Bären trifft. Die Raubtiere seien Helden, die sich in der Regel entsprechend verhielten, und ein Held würde niemanden töten, der um Gnade wimmert, und Raubtiere fräßen auch kein Aas.

Mein Trick zeigte enorme Wirkung. Der Professor hielt verstört inne. Er gab keinen Ton von sich und machte auf dem Absatz kehrt. Seine Reaktion war wohl die, dass er den Schaulustigen, die mich umringten, mitteilte: »Der ist bereits tot.« Auch wenn ich in seinen Augen wahrscheinlich ein Dieb war, der anderer Leute Hab und Gut geraubt hatte, geben die Gesetze unseres Staates auch Bürgern mit besonderem Gerechtigkeitssinn nicht das Recht, auf offener Straße und alle Mann ran einen Strauchdieb zu exekutieren. Deswegen entfernten sich alle hastig und Hals über Kopf, um ja nicht noch mehr Wirbel zu verursachen. Auch die beiden Frauen griffen sich den Jungen und machten sich eilig aus dem Staub.

Ich atmete tief durch und ließ die Luft bedächtig wieder ausströmen; hatte ich doch gerade die Erfahrung gemacht, welche Ehrfurcht der Tod genießt und wie respekteinflößend ein Leichnam ist.

Die beiden Männer vom Wachdienst hatten vermutlich die Polizei gerufen, denn sie kamen herbei, um mit den Beamten zu reden, als das Polizeifahrzeug mit Blaulicht und Martinshorn herangerauscht kam. Drei Polizisten stellten sich vor mir auf und befragten mich. Sie waren blutjung, ihre gelben Zähne verrieten, dass sie aus unserem Nordost-Gaomi stammten. Ich hatte sofort dieses taube Gefühl in der Nase und konnte die Tränen nicht mehr zurückhalten. Dann heulte ich vor ihnen wie ein kleines Kind, das draußen ungerecht und gemein behandelt worden ist, nach Hause kommt und es seinen Eltern erzählt. Einer der drei Polizisten mit einem kleinen Grützbeutel zwischen den Augenbrauen befragte mich etwas interessierter. Die beiden, die noch mitgekommen waren, beguckten sich nur die Reklametafel der Klinik.

Als ich zu Ende gesprochen hatte, sagte der Augenbrauengrützbeutel: »Wie können wir sicher sein, dass du uns die Wahrheit erzählst?«

Ich sagte sofort: »Ihr könnt Chen Nase fragen.«

Der lange Spund unter den Dreien wandte seinen Blick von der Klinikreklame nicht ab, sagte aber zu mir: »Wie fühlst du dich? Sollen wir dich ins Krankenhaus bringen?«

Ich bewegte meine Beine. Sie taten wieder ihren Dienst. Warf einen Blick auf die Verletzungen an meinen Armen. Sie bluteten nicht mehr.

Der Augenbrauengrützbeutel sagte: »Wenn es nicht zu viele Umstände bereitet, fahren wir auf die Wache und nehmen es dort zu Protokoll. Wenn du Unannehmlichkeiten fürchtest, dann fährst du jetzt nach Haus und erholst dich.«

Ich erwiderte: »Ach, dem Vorfall wird jetzt nicht auf den Grund gegangen? Die Sache wird als erledigt betrachtet?«

Der Augenbrauengrützbeutel sagte: »Gevatter, wir können dem Fall natürlich nachgehen, aber du musst uns Beweise und Zeugen liefern. Sollen etwa Chen Nase und der Fischverkäufer als Zeugen aussagen? Kannst du garantieren, dass die beiden Frauen mit dem Jungen nicht eine falsche Gegenbeschuldigung vorbringen? Der Junge ist der Neffe von Zhang Faust aus Dongfeng, ein Krimineller, der nicht ohne ist. Der Junge ist auch kriminell, aber er ist noch ein Kind. Den kriegen wir nicht zu packen.«

»Alles klar. Dann hat sich das erledigt. Hatte halt Pech.«

»Aus Fehlern wird man klug! Geh nicht so viel vor die Tür! Bleib zu Haus und spiel mit deinen Enkeln! Genieß das Glück im Kreis der Familie, das ist besser, nicht wahr?«

»Ich danke euch. Ich habe das Benzin unseres Staates verschwendet, die Abnutzung des Polizeiautos beschleunigt und euch Umstände bereitet.«

»Willst du uns verhöhnen?«

»Nein, auf keinen Fall. Das ist meine ehrliche Meinung. Es tut mir sehr leid!«

Augenbrauengrützbeutel und der lange Lulatsch wollten aufbrechen. Der dritte im Bunde, der mit dem breiten Mund, stand immer noch wie angewurzelt vor der Kliniktafel.

Der Augenbrauengrützbeutel sagte: »Wang, Kumpel, reiß dich los, komm jetzt! Siehst ein Baby und kriegst die Füße nicht mehr hoch!«

Breitmaul kräuselte die Lippen und sagte: »Einfach süß, die Kleinen! Einfach nur süß!«

Augenbrauengrützbeutel sagte: »Dann halt dich mal ran! Sei fleißig und bestell dein Feld!«

Breitmaul sagte: »Das ist wie bei versalzenem Boden. Da wächst kein Korn.«

Der dritte meinte: »Nun beschwer dich mal nicht über deine Frau. Du musst dich auch testen lassen. Vielleicht liegt es an dir?«

Breitmaul entgegnete sofort: »Das glaub ich nicht.«

Sie diskutierten weiter, während sie zum Auto gingen. Ich blieb unter der Tafel sitzen. Ich war deprimiert und entnervt. Wäre ich mit ihnen auf die Wache gefahren und hätte alles zu Protokoll gegeben, hätte es nichts geändert. Die beiden Frauen waren tatsächlich zwei der drei Töchter von Zhang Faust. Meine Tante war ihre Todfeindin. Nun verstand ich, warum der Junge sie mit dem Frosch erschreckt hatte. Seine Mutter und seine Tante hatten ihm wohl eingeredet, dass er so den Tod seiner Großmutter rächen könnte. Natürlich muss gesagt werden, dass man Gugu wegen dieses Verbrechens nicht beschuldigen darf. Aber solchen Leuten kann man mit Vernunft ja nicht kommen. Also gut, Pech gehabt!

Nein! Wieso Pech gehabt? Es war eine Prüfung, die mir der Himmel, der Jadekaiser auferlegt hatte. Ich sollte sie gutheißen und mich nicht mucksen. Denn alles geduldig ertragen bringt Frieden und Sicherheit. Ich hatte große Ziele. War ein Schriftsteller, der dabei war, ein Theaterstück zu schreiben. Mit derlei Schicksalsschlägen umzugehen ist ein hervorragendes Material für mein Stück. Große Persönlichkeiten macht ihr Durchhaltevermögen zu dem, was sie sind. Wenn gewöhnliche Menschen Not und Schande nicht mehr ertragen, halten sie immer noch durch.

Wie zum Beispiel Han Xin, der die Schmach ertrug, zwischen den Beinen seines Peinigers hindurchzukriechen, oder Konfuzius, der die Hungersnot in Chen und Cai aushielt, oder Sun Bin, der ertrug, den eigenen Kot hinunterzuschlucken ... Wenn ich mich mit diesen Heiligen und Weisen vergleiche, sind die Schmerzen und Entwürdigungen, die ich ausgehalten habe, nicht der Rede wert.

Sugitani san, als ich unter diesem Aspekt darüber nachdachte, lösten sich die Blockaden in meinem Kopf. Ich konnte wieder durchatmen, klar sehen und langsam wieder zu Kräften kommen.

Kaulquappe, steh auf! Auf dich kommt eine große Aufgabe zu. Steh mutig die Schwierigkeiten durch, klage nicht und verurteile und hasse niemanden.

Ich erhob mich also, obwohl mich meine Wunden schmerzten, ich sehr hungrig war, mir die Knie einknickten, Sterne vor meinen Augen tanzten. Aber ich zwang mich, nicht umzufallen. Zuerst fühlte ich mich beobachtet. Aber keiner guckte. Nicht einmal die beiden Männer vom Wachdienst würdigten mich eines Blickes.

Li Hand hatte wirklich recht gehabt. Als ich an Hand dachte, fielen mir auch sofort Augenbraue und das Baby in ihrem Bauch ein. Aber inzwischen hatte sich meine Einstellung dazu geändert. Während ich das Kind am selben Vormittag noch mit beiden Händen erwürgen wollte, dachte ich nun völlig anders darüber. Als ich einen Blick zurück auf die Kliniktafel warf, wusste ich, dass ich das Kind wollte. Ich war begierig danach, ich brauchte es! Der Himmel schenkte es mir, und die furchtbaren Zwänge hatte ich alle nur seinetwegen durchgestanden.

Sugitani san, die Klinikleitung hatte auf ihrer Reklametafel Fotos von einigen Hundert Säuglingen. Es waren lachende und weinende darunter, welche mit geschlossenen Augen, welche, die blinzelten, welche, die ihre runden Knopfäuglein weit aufsperrten, welche, die eins geöffnet, das andere geschlossen hielten, welche, die nach oben schauten, welche, die geradeaus schauten, welche, die ihre beiden Ärmchen vorstreckten, als ob sie etwas anfassen wollten, welche, die kleine Fäustchen machten, als wenn sie ein bisschen wütend wären, welche, die ein Händchen in den Mund gesteckt hatten, welche, die sich mit beiden Händchen an die Ohren fassten, welche, die mit offenen Augen lachten, welche, die mit geschlossenen Augen lachten, welche, die mit offenen Augen weinten, welche, die mit geschlossenen Augen weinten, welche mit viel schwarzem Haar, welche ohne Haare auf dem Kopf, welche mit weichem, blonden Haar, welche mit seidenweichen, flachsfarbenen Haaren, welche mit lauter Falten, die wie ein Großvater aussahen, welche mit großem Kopf und großen Ohren, welche, die kleinen Ferkelchen ähnelten, welche, die so weiß wie frisch gekochte Klebreisbällchen waren, welche, die schwarz wie Kohlen waren, welche, die die Zähne zeigten, als wären sie wütend, welche, die mit weit geöffnetem Mund weinten, welche die den Mund aufsperrten, weil sie nach der Brustwarze suchten, welche, die den Mund zukniffen und den Kopf wegdrehten, als ob sie nichts mehr trinken wollten, welche, die ihre leuchtend rote Zunge herausstreckten, welche, die nur eine rosa Zungenspitze zeigten, welche mit Grübchen auf beiden Wangen, welche mit nur einem Grübchen auf einer Wange, welche mit tiefliegenden großen Augen, welche mit Schlitzaugen, welche mit ballrunden Köpfchen, welche mit langen Gesichtchen, das Köpfchen wie eine Wintermelone geformt, welche mit gekrauster Stirn wie ein großer Denker, welche mit lebendigem Blick wie ein Schauspieler.

Zusammen waren es einige hundert Babybilder, die alle verschieden waren, alle herzallerliebst und lebensecht. Der Text dieser Reklametafel besagte, dass die Fotos von den Babys stammten, die in der Klinik in den zwei Jahren seit ihrem Bestehen zur Welt gekommen waren. Das war wirklich eine großartige Arbeit, eine edle Arbeit, eine süße, allerliebste Arbeit ...

Sugitani san, ich war wirklich zutiefst gerührt, so sehr, dass mir die Tränen kamen. Ich vernahm mit Augen und Ohren den allerheiligsten Lockruf. Ich spürte die Liebe zum Leben sprudeln, die erhabenste, größte Liebe der Menschheit auf dem ganzen Globus. Vergleicht man sie mit anderen Formen der Liebe, sind jene im Vergleich zu dieser armselig.

Ich hatte das Gefühl, als wäre meine Seele getauft worden, dachte, dass ich die Chance bekommen hatte, meine Verbrechen zu sühnen, dass ich, egal welche Ursachen ich gesetzt hatte, egal welche Wirkung folgen würde, meine Arme ausbreiten und diesen kleinen Säugling, den der Himmel mir schenkte, empfangen wollte.

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