14

Alle Eltern der damals zur Welt gebrachten Süßkartoffelkinder konnten, wenn sie bei der Kommune die Meldebescheinigung beantragten, einen Liter Sojaöl und Bezugsmarken für zwei Meter Tuch bekommen. Und diejenigen mit Zwillingen bekamen die doppelte Menge. Mit vor Dankbarkeit feuchten Augen blickten die Menschen auf das goldgelbe Sojaöl und kneteten die Tuchmarken, denen ein lieblicher Sojabohnengeruch entströmte, zwischen den Fingern. »Die neue Gesellschaft ist eben doch die bessere!«, mochten die Volksmassen denken. »Nun können wir sogar etwas dafür bekommen, wenn wir ein Kind gebären. Jetzt schätzt unser Land seine Menschen! Es wartet darauf, sie einzusetzen! Denn unserem Land mangelt es an Menschen«, sagte meine Mutter.

Aus Dankbarkeit fassten alle den stillen Entschluss, viele Kinder zu bekommen und dem Staat so die empfangenen Wohltaten zurückzugeben. Mein Mitschüler Xiao Unterlippe hatte bereits drei kleine Schwestern bekommen – sein Vater Xiao Oberlippe war Verwalter des Brigadekornspeichers –, doch obwohl seine kleinste Schwester noch die Brust bekam, wölbte sich der Bauch seiner Mutter schon über dem nächsten Baby. Wenn ich mich vom Kühehüten auf den Heimweg machte, kam mir sein Vater regelmäßig auf einem ramponierten Fahrrad auf der kleinen Brücke entgegen. Er war groß und dick, das Fahrrad ächzte unter seinem Gewicht, als bräche es jeden Moment entzwei. Die Leute im Dorf trieben mit ihm Schabernack: »Oberlippe, wie alt bist du denn jetzt? Kannst du nicht auch mal eine Nacht auslassen?« Er lachte immer nur: »Wir klagen nicht, wenn wir Kinder für unser Land machen, da lassen wir keine Nacht aus.«

Ende 1965 fühlte sich die Führung durch den sprunghaften Anstieg der Bevölkerung unter Druck gesetzt. Das Neue China erlebte seine erste Kampagne zur Geburtenplanung. Die Regierung ließ die Parole verbreiten:

Ein Kind ist gut, zwei Kinder sind korrekt, drei Kinder schlecht.

Als das Team der Filmvorführer unseres Kreises wieder in unser Dorf kam, gab es vor dem Hauptfilm eine Diaschau, mit der für die Geburtenplanung geworben wurde. Als auf der Leinwand die Schaubilder mit den riesig vergrößerten Geschlechtsorganen des Mannes und der Frau zu sehen waren, brach unter den Zuschauern ein seltsames Gejohle und wildes Gelächter aus. Die Halbwüchsigen unter uns hatten keinen blauen Dunst, grölten und lachten aber einfach mit. Viele der jungen Leute rückten dicht zusammen und hielten sich heimlich an den Händen. So eine Propaganda für Verhütungsmethoden war das reinste Fertilitätsprogramm, besser als jedes Aphrodisiakum. Schauspieler und Opernsänger des Kreistheaters teilten sich in ungefähr zwanzig kleine Gruppen auf, die in jedes winzige Dorf reisten und dort eine kurze Oper mit dem Namen »Den halben Himmel stemmen die Frauen« vorführten, die der diskriminierenden Missachtung der Frauen den Kampf ansagte.

Gugu war inzwischen Leiterin der frauenärztlichen Abteilung der Kommunekrankenstation geworden, dazu hatte sie die stellvertretende Leitung der Gruppe für geregelte Familienplanung übernommen. Gruppenleiter war der Kommuneparteisekretär Qin Shan, der aber nur seinen Namen zur Verfügung stellte und ansonsten passiv blieb. Somit war meine Tante nicht nur ausführendes Organ der Geburtenkontrolle, also diejenige, die die Politik tatsächlich durchsetzte, sondern auch Leiterin der Kommunearbeit für Familienplanung und Organisatorin der Kampagnen.

Damals begann sie Speck anzusetzen. Die von jedermann bewunderten strahlend weißen Zähne waren gelb geworden, weil sie nicht mehr regelmäßig geputzt wurden. Ihre Stimme hatte etwas Rauchiges, sie hörte sich immer ein bisschen an wie ein Mann. Wir hörten sie regelmäßig laut durchs Megaphon dröhnen. Meistens begann die Durchsage mit dem Satz:

Ich sage nur: Schuster bleib bei deinen Leisten! Man soll nur von dem Handwerk reden, dessen Meister man auch ist. Jeder redet doch immer nur über den eigenen Beruf. Und ich spreche heute über die Geburtenplanung.

In dieser Zeit sanken ihr Ansehen und ihre Glaubwürdigkeit bei den Leuten. Selbst die Frauen in unserem Dorf, die ihr viel Gutes zu verdanken hatten, begannen schlecht über sie zu reden. Ihr unermüdliches Herumreiten auf der Familienplanung verfehlte seinen Erfolg gründlich. Selbst ihre Nachbarn und Freunde, die Leute aus dem Dorf wollten davon nichts wissen.

Die Kreisoperntruppe kam mit einer Aufführung zu uns, worin die weibliche Hauptrolle mit hoher Stimme sang:

Eine neue Epoche ist angebrochen! Mann und Frau sind gleich.

Wang Bein, Lebers Vater, der unten im Publikum saß, kommentierte böse: »Völliger Schwachsinn! Was ist denn da gleich? Wer wagt so etwas zu behaupten?«

Unten vor der Bühne reagierte das Publikum mit Krach und bösen Beschimpfungen. Man schmiss mit Backsteinen und Dachziegeln. Als es Ziegel auf die Bühne regnete, schützten die Schauspieler den Kopf mit den Armen und nahmen die Beine in die Hand. Wang Bein hatte an jenem Tag einen Viertelliter Schnaps intus. Der brachte ihn so in Fahrt, dass er völlig über die Stränge schlug. Er bahnte sich seinen Weg durch die Zuschauer, sprang auf die Bühne und hielt mit Händen und Füßen wild gestikulierend eine kurze Rede:

»Ihr bestimmt schon über Himmel und Erde, und nun meint ihr, ihr könnt noch bestimmen, wann und wie das Volk seine Kinder bekommt? Wenn ihr was draufhabt, dann spannt eine Leine von links nach rechts über die Bühne und befestigt Unterwäsche, Schminke und Puder der Frauen dran.«

Die Leute im Publikum begannen laut zu lachen. Das brachte Wang Bein nur noch mehr in Fahrt. Er hob einen Dachziegel von der Bühne auf, zielte genau auf die hell leuchtende Gaslampe, die in der Mitte des Bühnenvorhangs an einem Querbalken angebracht war, und traf. Es klirrte, und sie erlosch. Auf und unterhalb der Bühne herrschte pechschwarze Nacht. Dafür musste Wang Bein einen halben Monat lang ins Untersuchungsgefängnis. Als er entlassen wurde, rebellierte er immer noch. Er rempelte die Leute an: »Hey, schneidet mir den Schwanz ab, wenn ihr Mumm in den Knochen habt!«

In früheren Jahren hatte es ein großes Hallo gegeben, wenn meine Tante nach Hause kam. Die Leute öffneten die Türen, grüßten sie, umarmten sie, aber nun gingen ihr alle aus dem Weg. Meine Mutter fragte besorgt: »Diese Sache mit der Geburtenregelung, Schwägerin, hast du dir die selbst ausgedacht oder haben die da oben dir das aufs Auge gedrückt?«

»Was heißt hier selber ausgedacht?« Gugu kam richtig in Rage: »Das ist ein Appell der Partei an das Volk! Eine Anordnung vom Vorsitzenden Mao. Das ist Staatspolitik! Der Vorsitzende Mao lehrt uns: Die Menschheit darf nicht unkontrolliert wachsen, sie soll Selbstbeschränkung üben und sich nur geplant vermehren.«

Meine Mutter schüttelte verständnislos den Kopf: »Seit Urzeiten und bis heute ist es vom Himmel bestimmt und ein unerschütterliches Recht, Kinder zu bekommen. Schon während der Han-Dynastie verfügte der Kaiser, dass die Mädchen des Volkes mit dreizehn heiraten sollten. Wenn sie nicht heirateten, fragte man beim Vater und beim großen Bruder nach. Denn woher sollte das Land seine Soldaten nehmen, wenn die Mädchen keine Kinder mehr bekamen? Tagtäglich hören wir in der Propaganda, dass die Amerikaner uns angreifen wollen. Tagtäglich spornen wir uns an, Taiwan zurückzugewinnen. Woher sollen denn die Soldaten kommen, wenn die Frauen keine Kinder mehr kriegen dürfen? Wer kämpft denn gegen die Amerikaner in den von ihnen angezettelten Invasionskriegen, wenn wir keine Soldaten mehr haben? Und wer soll Taiwan befreien?«

»Schwägerin, hör auf, mich mit diesen abgedroschenen Binsenwahrheiten vollzuquatschen. Der Vorsitzende Mao weiß besser Bescheid als du. Mach dir da keine Sorgen! Der Vorsitzende sagt: Die Größe der Bevölkerung ist in jedem Fall zu kontrollieren. Und er sagt: Ohne Organisation keine Disziplin. Wenn es so weitergeht, löscht sich die Menschheit früher aus, als es sein muss, denke ich.«

Meine Mutter antwortete: »Der Vorsitzende Mao sagt auch:

Wenn es viele Menschen sind, ist die Kraft groß; wenn es viele sind, wird man besser mit aller Unbill fertig, denn der Mensch ist ein lebender Schatz. Erst durch den Menschen erschaffen wir die Welt. Und er sagt: Wenn wir nicht zulassen, dass es vom Himmel regnet, ist das falsch. Wenn wir die Frauen keine eigenen Kinder großziehen lassen, ist das auch falsch.«

Meine Tante wusste nicht mehr, ob sie nun lachen oder weinen sollte: »Schwägerin, du bist dabei, Maos Worte aus dem kleinen roten Buch zu verfälschen. In der Vergangenheit wurde man geköpft, wenn man ein kaiserliches Dekret verkehrt wiedergab. Es stimmt nicht, dass wir den Leuten das Kinderkriegen verbieten, sie sollen nur weniger – nämlich nur noch nach Plan – Kinder bekommen.«

»Wie viele Kinder jemand in seinem Leben bekommt, ist vorausbestimmt und der Wille des Himmels, und da willst du noch einen Plan erstellen? Für mich seid ihr wie Blinde, die sich eine Kerze anzünden, pure Verschwendung!«, konterte meine Mutter.

Und es traf haargenau ein, was meine Mutter gesagt hatte. Gugu und ihre Leute hatten Energie und Geld umsonst investiert. Dazu hatten sie für ihr Verhalten überall nur Beschimpfungen geerntet, und sie waren übel in Verruf gekommen. Anfangs verteilten sie kostenlose Präservative an die örtlichen Leiterinnen des chinesischen Frauenverbands, damit diese sie an die Frauen in gebärfähigem Alter weitergaben und deren Männer aufforderten, sie beim Verkehr überzuziehen. Aber die Präservative landeten entweder in den Schweineställen oder bei den Kindern, die sie aufpusteten und anmalten und mit ihnen wie mit Luftballons spielten. Die Tante und ihre Helferinnen gingen hausieren und verschenkten Antibabypillen, aber die Frauen störten sich an den Nebenwirkungen der Pillen und weigerten sich, sie einzunehmen. Wenn sie gezwungen wurden, sie auf der Stelle hinunterzuschlucken, versuchten sie, kaum dass sie wieder allein waren, sie hochzuwürgen und auszuspucken, indem sie sich den Finger oder ein Stäbchen in den Hals steckten.

Die Sterilisation der Männer mittels Durchtrennen der Samenleiter kam da gerade zur rechten Zeit in Gebrauch. Es war damals Thema Nummer eins bei uns im Dorf. Alle erzählten, dass es meine Tante und Huang Qiuya waren, die diese Methode gemeinsam entwickelt hätten. Von Huang Qiuya käme der theoretische Teil der Erfindung, von meiner Tante der klinische Teil und die Praxis. Der Wichtigtuer Xiao Unterlippe sagte uns:

»Diese beiden unbemannten Weiber sind doch völlig psychopatisch, die haben dieses ganze Zeug für die Kinderlosigkeit doch nur entwickelt, weil sie es nicht ertragen, andere Paare glücklich verheiratet zu sehen.«

Er behauptete, sie hätten erst einmal an Ferkeln Versuche gemacht, dann diese an Ebern wiederholt und zuletzt an zehn toten Häftlingen laboriert. Nachdem das Experiment geglückt sei, hätten sie die toten Häftlinge gegen lebende mit lebenslänglichen Haftstrafen ausgetauscht. Wir wussten natürlich bald, dass Xiao Unterlippe geflunkert hatte.

Die Tante hörten wir in jenen Tagen regelmäßig durch das Megaphon schreien:

»Kader unserer Brigaden! Bitte beachten Sie! Infolge der Achten Sitzung des Leitungskollektivs zur Kommune-Geburtenregelung ist es Pflicht, dass Männer mit Frauen, die schon drei Kinder zur Welt gebracht haben, oder Männer, die mehr als drei Kinder haben, sich in unserer Krankenstation einer Sterilisation unterziehen. Nach dem Eingriff bekommen die Männer zwanzig Yuan für Lebensmittel zur Stärkung und eine Woche vollbezahlten Urlaub, die Arbeitspunkte werden trotzdem eingetragen.«

Die Männer, die die Durchsage gehört hatten, standen zusammen und schimpften:

»Da, fick deine Mutter! Sauschneider gibt’s, Leute, die Bullen kastrieren, Leute, die Pferde- und Mulihengste legen. Aber hat man je von einem Berufszweig gehört, der sich auf das Kastrieren von Männern verlegt hat? Wir wollen ja schließlich nicht als Eunuchen in den Dienst bei Hof! Wir lassen uns nicht betrügen!«

Als die Kader aus der Geburtenplanung erklärten, die Sterilisation sei nur ein klitzekleiner Eingriff, wobei nur die ...

... da protestierten die Männer sofort mit bösem Blick:

»Ihr redet alles schön! Aber wir befürchten, wenn wir einmal auf eurem Tisch liegen und die Narkose verpasst bekommen haben, dann geht ihr uns nicht nur an die Eier. Wir trauen euch zu, dass ihr uns den Schwanz auch noch mit abschneidet. Dann müssen wir wie die alten Muttchen in der Hocke pissen!«

Die Sterilisation der Männer, die den Frauen ungemein genützt hätte, die nur einen einfachen, kurzen operativen Eingriff darstellte, der zudem keine großen Nachwirkungen oder Folgekrankheiten befürchten ließ, wurde über die Maßen boykottiert. Die Tante hatte mit ihren Helferinnen alles vorbereitet, aber niemand kam. Die Kommandostelle der Kreisgeburtenregelung rief täglich an und verlangte Zahlen. Sie war mit Gugu sehr unzufrieden. Die Kommuneparteikader hielten extra eine Sitzung ab, auf der zweierlei beschlossen wurde:

1. Beim Sterilisieren der Männer müssen die Führungskader mit gutem Beispiel vorangehen. Dies muss unter den Kadern und Arbeitenden publik gemacht werden. Im Dorf müssen allen voran die Brigadekader den Anfang machen. Erst dann wird man es in der Bevölkerung propagieren.

2. Diejenigen, die dagegen sind, dass Männer sterilisiert werden, und die Gerüchte streuen, sollen die Keule der proletarischen Diktatur zu spüren bekommen. Genügen sie den Anforderungen für eine Sterilisation, sperren sich aber dagegen, entzieht ihnen die Brigade als erstes die Arbeitserlaubnis. Fügen sie sich dann immer noch nicht, kürzt man ihnen die Reisration. Wenn sich Kader wehren, wird ihre Stelle gestrichen und ihnen ihre Position aberkannt. Wenn es sich um Angestellte des öffentlichen Dienstes handelt, werden sie entlassen. Wenn Parteimitglieder sich wehren, werden sie aus der Partei ausgeschlossen.

Der Kommuneparteisekretär Qin Shan sprach höchstpersönlich durch das Megaphon zu den Leuten:

»Die Geburtenplanung ist eng verknüpft mit unserer Volkswirtschaft, dem Lebensunterhalt für unser Volk. Die den Kommunen direkt unterstellten Abteilungen und die einzelnen Brigaden sind zuerst an der Reihe. Die Kader und Parteimitglieder, die für eine Sterilisation in Frage kommen, müssen den Anfang machen und sich operieren lassen. Sie müssen den Massen mit gutem Beispiel vorangehen.«

Qin Shans Ton schlug plötzlich um. Mit einer Plauderstimme wie beim Familienplausch erzählte er:

»Genossen, ich erzähl mal, wie es bei mir läuft. Meiner Frau haben sie, weil sie krank war, schon vor Jahren die Gebärmutter entfernt. Aber weil ich euch Männern die Angst vor diesem Eingriff nehmen will, habe ich mich dazu entschlossen, morgen Vormittag zu unserer Krankenstation zu gehen, um mich sterilisieren zu lassen.«

Während seiner Rede verlangte er auch vom chinesischen Jugendverband, dem gesamtchinesischen Frauenverband und den Schulen, diesen Eingriff beim Mann mit Feuereifer zu propagieren, damit eine mächtige Sterilisationswelle anrollen könne.

Wie bei allen bisherigen Kampagnen schrieb unsere Lehrerin Xue einen Sprechgesang, dessen Rhythmus mit dem Schlagholz unterstrichen wurde. Wir lernten ihn auswendig, so dass wir ihn in Höchstgeschwindigkeit hersagen konnten. Dann wurden Vierergruppen gebildet. Jeder bekam eine Flüstertüte aus Pappe oder Blech. Wir stiegen auf die Dächer der Häuser, kletterten auf die Bäume ins Geäst und begannen, lauthals zu schreien:

»Genossen, macht euch keinen Kopf, in der Kommune fangt damit an! Was wir jetzt mit euch vorhaben, ist einfach, kommt auch nicht dem Sauschneider gleich!

Ein kleiner Schnitt, nur fünfzehn Millimeter lang, nach einer Viertelstund schon wieder fit vom Bett er sprang.

Er schwitzte und er blutete nicht, und fing am selben Tag noch zu arbeiten an.«

In diesem ungewöhnlichen Frühling nahm die Kommune, so sagte mir meine Tante, an 648 Männern eine Sterilisation vor. Bei ihr persönlich kamen 310 unters Messer. Sie erzählte, man brauche den Massen eigentlich nur die Gründe ordentlich zu erklären und die politische Strategie festzulegen. Wenn die leitenden Kader den Anfang machten und Schritt für Schritt alles glatt laufe, könne man auch mit dem Verständnis der Leute rechnen. Sie würden dann mitziehen. Sie habe auf diese Weise viele Eingriffe gemacht. Der Großteil der Männer sei gemeinsam mit dem leitenden Kader seines Dorfes gekommen, der als gutes Beispiel den Anfang gemacht habe. Wirklich frech gewesen seien nur zwei, die hätten Schwierigkeiten gemacht. Da habe man dann geringfügige Zwangsmaßnahmen ergriffen, und gut war’s. Der eine sei unser Kutscher Wang Bein gewesen, der andere der Verwalter unseres Brigadekornspeichers, Xiao Oberlippe. Wang Bein habe sich auf seine guten Familienverhältnisse verlassen, deswegen habe er sich reaktionär, noch dazu arrogant und aggressiv verhalten.

Kaum aus der Untersuchungshaft wieder auf freiem Fuß, schwang er laute Reden, wer es wage, ihn zur Sterilisation zu zwingen, dem werde er den blanken Stahl hineinstoßen und triefend rot wieder herausziehen!

Mein Freund Wang Leber war verliebt in Gugus Assistentin Shizi und deswegen gefühlsmäßig auf Gugus Seite. Er wollte seinen Vater zur Sterilisation überreden, erntete aber nur zwei Backpfeifen. Leber floh eilends aus dem Haus, Wang Bein rannte mit der großen Kutscherpeitsche hinter ihm her. Er verfolgte ihn bis zum Teich am Dorfrand. Da standen Vater und Sohn hüben und drüben, zwischen ihnen das Wasser, und schrien sich an. Wang Bein brüllte:

»Du verfickter Hundesohn! Seinen eigenen Vater zur Sterilisation überreden wollen!«

Sein Sohn schrie zurück:

»Wenn du meinst, dass ich einen verfickten Hund zum Vater habe, dann ist das wohl so!«

Wang Bein merkte, dass er sich mit seinem Schmähruf selbst beschimpft hatte, und rannte los um den Teich, immer seinem Sohn hinterher. Sie rannten und rannten, Runde um Runde, wie in einem Kollergang. Ein ganzer Haufen Schaulustiger versammelte sich, der Öl ins Feuer goss, Zunder auflud, Wind zufächelte, damit die Flammen höher schlagen konnten. Die Folge waren unaufhörliche Lachsalven.

Wang Leber hatte den scharfen Säbel heimlich von zu Haus fortgeschafft und beim Dorfparteizellensekretär Yuan Gesicht abgegeben. Er erklärte ihm, die Mordwaffe habe sein Vater schon mal vorbereitet, damit er den, der es wage, ihn zum Sterilisieren zu schleppen, einen Kopf kürzer machen könne. Yuan Gesicht wagte nicht, nachlässig zu verfahren, und nahm den Säbel mit zur Kommune, wo er meiner Tante und Parteisekretär Qin davon berichtete. Qin knallte wütend mit der Handfläche auf den Tisch.

»Damit hat er sich strafbar gemacht! Zuwiderhandlung gegen die Politik der Geburtenplanung ist Konterrevolution!«

Meine Tante meinte:

»Wenn wir den nicht erledigen, können wir das nicht im großen Stil durchziehen.«

»Auf jeden Fall. Denn alle im Dorf, die zu sterilen Männern werden sollen, schauen auf Wang Bein«, pflichtete Yuan Gesicht ihr bei und wies seine Leute an: »Nehmt diesen typischen Fall von einem Negativ-Beispiel fest!«

Der alte Ning, Beamter für öffentliche Sicherheit im Kommunebüro, der immer ein Sturmgewehr um die Lenden trug, trat, Gewehr bei Fuß, sofort vor. So rückte der Dorfparteisekretär mit Nings Unterstützung zusammen mit der Vorsitzenden des chinesischen Frauenverbandes und dem Feldwebel der Volksmilizionäre mit seinen vier Milizionären aus, um den Hof des Wang Bein zu stürmen.

Wangs Frau, die mit einem kleinen Mädchen an der Brust im Schatten der Bäume Strohmatten flocht, ließ, sowie sie den bedrohlichen Ansturm bemerkte, die Arbeit fallen, warf sich zu Boden und weinte in höchsten Tönen.

Leber saß unter der Traufe und sagte keinen Ton, Galle kauerte auf der Schwelle und betrachte ihr zierliches Gesichtchen in einem kleinen Spiegel, als Yuan Gesicht schrie:

»Wang Bein, komm raus! Wir werden nun andere Saiten mit dir aufziehen. Wenn der süße Schnaps ausgetrunken ist, folgt die bittere Medizin des Gesetzes. Kommunepolizist Ning ist auch mitgekommen. Du magst uns einmal noch entkommen sein, doch beim zweiten Mal gibt es kein Entrinnen mehr. Ein richtiger Kerl macht so was entschlossen, sauber, auf einen Streich. Was soll dieses Rumgeeiere?«

»Fang Lianhua! Hör auf zu brüllen und ruf deinen Mann heraus«, riet die Vorsitzende des Frauenverbands der Frau des Wang Bein.

Nichts tat sich. Yuan Gesicht blickte vielsagend zum Polizisten hinüber, ein Wink und die vier Bullen stürmten mit Seilen bewaffnet das Haus. Zu gleicher Zeit warf Leber, der unter der Traufe stand, dem Polizisten Ning einen Blick zu und zeigte auf den Schweinepferch, wo es in der Ecke rumorte. Obwohl er ein kurzes und ein langes Bein hatte, war Ning fix zu Fuß, ein paar Riesenschritte und er stand mit gezücktem Gewehr vor dem Pferch, um zu brüllen: »Wang Bein, komm raus!«

Den Kopf voller Spinnweben kam dieser herausgekrochen. Die Bullen umzingelten ihn mit den Seilen. Bebend vor Wut, rieb er sich das schweißnasse Gesicht.

»Hinkebein, was krakeelst du da? Kriegst du es mit deiner kaputten Flinte wieder nicht gebacken, dass einer wie ich dich fürchtet?«

»Ich wollte dir gar keine Angst einjagen, mach kein Theater und komm brav mit, dann passiert dir auch nichts.«

»Ach? Und wenn ich nicht mitspiele, was machen wir dann? Willst du mich jetzt erschießen, oder was? Wenn du nicht zu feige bist«, er zeigte auf seinen Hosenstall, »dann feuer hier rein. Da ist es mir lieber, du kastrierst mich mit der Knarre, als dass ich mir von diesen zwei alten Weibern mit dem Messerchen dran rumschnippeln lasse.«

»Wang Bein, hör auf, so ein Blech zu reden, Sterilisation beim Mann bedeutet diese Röhre zubinden, mehr nicht«, rief die Vorsitzende des Frauenverbandes.

»Dir gehört die Möse zugenäht, dass du’s weißt!« Wang Bein zeigte mit dem Finger auf ihren Schritt.

Der Polizist schwenkte sein Sturmgewehr: »Marsch jetzt! Fesselt ihn!«

»Woll’n mal sehn, wer hier wagt, mich anzurühren!«Bein griff sich einen Spaten und hielt die Klinge mit funkelnden Augen in Richtung der Bullen. »Nur zu, noch einen Schritt näher und ich hau euch den Schädel weg!«

Genau in diesem Moment erhob sich das Püppchen Galle mit seinem kleinen Spiegel in der Hand von der Schwelle. Dreizehn Jahre alt war die Kleine damals und maß gerade mal siebzig Zentimeter. Aber trotz ihrer zurückgebliebenen Körpergröße war sie wunderhübsch und ebenmäßig gewachsen, wie eine Schönheit aus dem Zwergenland. Mit dem Spieglein leitete sie – bar jeder Bosheit – einen blendenden Sonnenstrahl direkt in das Gesicht ihres Vaters, wobei sie mit ihrem unschuldigen, engelsgleichen Stimmchen ein helles Lachen erklingen ließ.

Die vier Bullen witterten ihre Gelegenheit sofort, sprangen vor und packten den vom Sonnenlicht Geblendeten, entrissen ihm den Spaten und fesselten ihm blitzschnell die Hände auf dem Rücken.

Bein heulte, als man ihn band, laut auf, wie ein abgestochenes Schwein. Es war ein so herzzerreißendes Gebrüll, dass die Schaulustigen, die auf die Mauer seines Hofes geklettert waren und die sein Haupttor umlagerten, von Traurigkeit ergriffen wurden. Der Milizionär mit dem Seil in der Hand war nicht darauf vorbereitet, wurde unsicher. Was tun?

Yuan Gesicht musterte Bein.

»Bist du eigentlich noch ein Kerl? Dass du dich vor einer kleinen OP so fürchtest! Wo ich’s dir doch schon vorgemacht habe! Hat keinerlei Einfluss auf gar nichts in deinem Leben! Kannst deine Frau zu meiner Frau schicken, um sie zu fragen!«

»Freund, hör verdammt noch mal auf damit.« Jetzt weinte Wang Bein . »Ich komm ja schon mit euch mit.«

Meine Tante sagte: »Bei uns in der Kommuneverwaltung haben wir mit der Missgeburt Xiao Oberlippe den typischen Fall von einem Negativbeispiel. Wie der immer darauf herumreitet, wie viele Krankentragen er im Untergrundkrankenhaus der Achten Route-Armee geschleppt hat! Wohl bis zum Umfallen ... Als die Kommuneparteikader sich berieten und beschlossen, seinen Arbeitsplatz zu streichen und ihn in sein Dorf zurückzuschicken, damit er wieder als Bauer arbeitete, kam er von sich aus auf einem kaputten Fahrrad zur Krankenstation geradelt. Ich solle ihm die OP machen, so kam er an. Der ist ein Zoten reißender Lustmolch, ein Herumtreiber. Auf dem Operationstisch ärgerte er Shizi mit dämlichen Fragen: ›Kleine, ich versteh nicht, was passiert denn eigentlich mit meinem Sperma? Wo man doch sagt: Ist der Kanal mit Sperma erst mal voll, läuft’s auch von selber raus. Was passiert, wenn ihr die Samenleiter zubindet? Platzt mir dann der Bauch?‹ Mit schamrotem Gesicht blickte Shizi mich an, aber ich sagte nur: ›Rasieren!‹ Der kriegte bei der Rasur doch tatsächlich eine Erektion. Die Kleine hatte so was niemals zuvor gesehen, schmiss das Skalpell fort und nahm Reißaus. Ich sagte nur, ›Anständige Gedanken sind Voraussetzung.‹ – ›Habe ich! Was kann ich dafür, wenn der steif wird?‹, meinte er dickfellig. ›Nun gut‹, sage ich, nehme einen Gummihammer, ziele und haue einmal nachlässig drauf. War sofort wieder schlaff, das Ding. Und ich schwöre beim Himmel, dass ich Wang Bein genau wie Xiao Oberlippe sehr sorgfältig operierte. Die OPs waren hundertprozentig geglückt. Trotzdem leidet Wang Bein seitdem unter Lendenschmerzen und kann nicht mehr aufrecht gehen, er sagt, ich habe ihm seine Nerven durchtrennt, und Xiao Oberlippe kam wieder und wieder zur Krankenstation und beschwerte sich. Bis zur Kreisregierung hoch ging er damit. Er beschuldigte mich, ich hätte ihn zu einem impotenten Mann gemacht ... Diese Halunken! Bei Wang Bein sind es vielleicht psychosomatische Beschwerden. Aber Oberlippe lügt. Keine Frage, der lügt wie gedruckt. Ich will nicht wissen, wie viele junge Mädchen der während der Kulturrevolution, als er eine Zeitlang so eine Art Boss bei den Roten Garden war, ins Bett und damit ins Unglück gezerrt hat. Wäre er nicht sterilisiert gewesen, hätte er Bedenken gehabt, ein Mädchen zu schwängern. Er hätte Scham verspürt, Konsequenzen gefürchtet, die solch ein Tabubruch nach sich zieht. Aber so ... war doch nichts zu bedenken.«



15

Die Kampf- und Kritiksitzung, bei der es Kreisparteisekretär Yang Lin an den Kragen gehen sollte, war überfüllt. Xiao Oberlippe, Leiter des Revolutionskomitees, hatte sich deshalb etwas Besonderes einfallen lassen und das Ganze ans Nordufer unseres Kiaolai-Flusses in das Rückhaltegebiet verlegt.

Es war tiefster Winter und der Fluss von einer mächtigen Eisdecke überzogen. Soweit das Auge blickte: eine kristallene Welt.

Ich war der erste, der erfuhr, dass die Massenkritikversammlung hier abgehalten werden sollte, nur deshalb, weil ich den Unterricht oft schwänzte und immer zum Spielen hierherkam. Als ich an jenem Tag dabei war, unten am Schleusentor zum Rückhaltebecken ein Loch zum Angeln ins Eis zu hauen, hörte ich von oben Stimmen. Ich konnte Xiao Oberlippe sprechen hören. Dessen lautes Organ hätte ich auch unter zehntausend Leuten noch herausgehört.

»Diese scheißverlassene Nordpollandschaft! Wenn wir hier die große Massenkritikversammlung veranstalten, errichten wir das Podium über dem Schleusentor des Rückhaltebeckens.«

Beim Fluss hatte sich ursprünglich eine riesige Senke befunden. Später hatte man, um problemlos stromabwärts schippern zu können, am Flussdeich des Kiaolai-Flusses Schleusentore für das Rückhaltebecken gebaut und immer, wenn der Fluss im Sommer und Herbst Hochwasser führte und Überschwemmungen drohten, die Schleusentore geöffnet und die Senke in einen See verwandelt. Damals waren wir in Nordost-Gaomi darüber sehr ungehalten, denn unser Boden war, obgleich Senke, doch Ackerland. Er war zwar nur für Mohrenhirse gut gewesen, aber die war auf ihm immer gut gediehen. Die kleinen Leute und Bauern hatten gegen den Staat nichts ausrichten können. Es war zwecklos gewesen, sich zu widersetzen.

Immer, wenn ich den Unterricht schwänzte, und ich schwänzte oft die Schule, rannte ich zur Schleuse, um den brodelnden, in die Tiefe stürzenden Wassermassen bei ihrem Durchtritt durch die zwölf Schächte zuzuschauen. War das Hochwasser endlich vorüber, war aus dem Rückhaltebecken ein weites Meer geworden, ein sieben oder acht Quadratkilometer umfassender See mit vielen Schrimps und Fischen. Die Angler kamen in Scharen, und es gab auch zahlreiche Fischverkäufer. Zuerst schlugen sie ihre Stände auf den Schleusenmauern auf. Als da nichts mehr frei war, nutzten sie das Ostufer des Rückhaltebeckens und standen einer neben dem anderen mit den Fischern unter den Weiden längs des Ufers. In Hochzeiten waren es oft tausend Meter Fischstände in einer Reihe. Eigentlich war der Wochenmarkt vor der Kommuneverwaltung angesiedelt, aber seit hier ein Fischmarkt abgehalten wurde, zogen immer mehr Marktstände mit anderen Waren hierher um. Die Gemüseverkäufer, die Eierverkäufer und die Erdnussröster waren schon da. Auch die Rumtreiber, Taschendiebe, Schurken und Bettler waren mitgekommen. Die bewaffnete Volkswehr, die die Kommune zusammengestellt hatte, war einige Male vor Ort gewesen und hatte die fliegenden Händler und das Pack vertrieben. Dann herrschte jedes Mal Chaos. Jeder rannte, was er konnte, wenn die Milizionäre kamen. Doch kaum waren sie wieder abgezogen, trauten sich alle wieder hervor und versammelten sich aufs Neue. So bestand der Fischmarkt unerlaubt, aber geduldet, fort.

Ich für meine Person liebe es, mir Fische anzusehen. Ich sah dort Schuppenkarpfen, Spiegelkarpfen, Silberkarpfen, Karauschen, Welse, Schlangenkopffische, Kiemenschlitzaale. Und Süßwasserkrebse, Schlammpeitzger und Süßwassermuscheln guckte ich mir auch an. Ich erblickte einen wohl über fünfzig Kilo schweren Riesenfisch mit einem Bauch, so weiß und rund wie der einer Schwangeren. Der Alte, der ihn verkaufte, kauerte neben dem Fisch, als gelte es, einen Flussgott zu beschützen. Ich kannte die Fischhändler, die ihre Augen und Ohren immer überall hatten, gut. Sie waren alle meine Kumpel. Warum sie immer als erste und besonders gut informiert über alles waren? Der Grund war, dass der Steuereintreiber des Kommunesteueramts zwar regelmäßig vorbeikam, ihnen aber nur selten ein paar Fische abnahm. Doch es gab Aushilfskräfte in der Kommune, die sich als Steuereinnehmer ausgaben und versuchten, sich an den Fischhändlern zu bereichern. Den fünfzig Kilo schweren Riesenfisch hätten zwei solche Brüder in blauen Uniformen, die Fluppen in den Mundwinkeln, die schwarzen Aktenmappen unterm Arm, dem Alten auch um ein Haar abgenommen. Wäre die Tochter des Fischverkäufers nicht plötzlich herbeigestürzt und hätte laut weinend Krach geschlagen! Hätte Qin Strom die beiden nicht als Betrüger entlarvt! Kein Zweifel, der Fisch wäre weggetragen worden!

Qin Strom war der mit der Mittelscheitelfrisur in der blauen Schüleruniform aus Gabardine, mit dem Füller Marke HERO DOCTOR und dem Zweifarbenkuli Marke NEUES CHINA in der Brusttasche. Er sah haargenau aus wie ein Bettelstudent aus der Zeit der Vierten-Mai-Bewegung. Ein fahler Teint, ein kummervolles Gesicht mit wässrigen Augen, als wenn er jeden Moment in Tränen ausbräche. Dabei war er ein herausragender Redner, sprach problemlos chinesische Hochsprache, jeder seiner Sätze perfekt, als entstammte er dem Bühnentext eines Schauspiels – dass ich mich letztlich für das Schreiben eines Theaterstücks entschieden habe, ist unter seinem Einfluss geschehen. Er lief immer mit einer Henkeltasse aus Emaille herum, bedruckt mit einem roten fünfzackigen Stern und dem Schriftzeichen 奖 für »Auszeichnung«. Liebenswürdig sprach er an den Ständen die Fischverkäufer an:

»Genossen! Ich habe meine Arbeitsfähigkeit eingebüßt! Vielleicht denkt ihr, ach was, dieser junge Spund ist doch nicht arbeitsunfähig! Aber Genossen, ich sage euch, ihr seht nur mein Äußeres, dabei bin ich schwer herzkrank. Man hat mir mit einem Dolch ins Herz gestochen. Bei der geringsten Anstrengung platzen die Narben wieder auf. Und wenn das passiert, blute ich aus allen sieben Körperöffnungen, so lange, bis ich verblutet bin. Genosse, bitteschön, schenk mir einen Fisch. Keinen großen! So unbescheiden will ich nicht sein: einen kleinen, deinen allerkleinsten!«

Er schaffte es immer, sich Fisch oder Garnelen zu erbetteln. Mit der Beute verschwand er ans Wasser, machte sie mit einem kleinen Messer kochfertig, suchte einen windgeschützten Ort, wo er zusammengesuchtes Holz aufschichtete, zwei Backsteine darüberlegte, um sodann seinen Henkeltopf mit dem Fisch darauf zu stellen und das Feuer zu entfachen. Oft stand ich hinter ihm, wenn er Fisch kochte. Es duftete so köstlich aus seiner Henkeltasse, dass mir das Wasser im Munde zusammenlief und ich ihn in den Tiefen meines Herzens um sein Leben beneidete.

Er war der leibliche kleine Bruder unseres Kommuneparteisekretärs Qin Shan. Früher war er mal der begabteste, aber eigenwilligste Schüler der ersten Kreismittelschule gewesen. Dass der kleine Bruder unseres Kommuneparteisekretärs am Fluss bei den Marktschreiern bettelte, musste wohl einen schwerwiegenden Grund haben! Man munkelte, er wäre schon immer hoffnungslos in meine Tante verliebt gewesen. Und dass man ihn so gereizt habe, dass er sich die Pistole seines Bruders gegriffen habe, ihm der Selbstmord aber missglückt sei. Und dass er nach dem Verheilen seiner Verletzungen wie verwandelt gewesen sei.

Zuerst verlachten ihn die Fischverkäufer, aber nachdem er den Riesenfisch des alten Han gerettet hatte, sahen sie ihn mit anderen Augen. Ich fühlte mich magisch von ihm angezogen. Ich wollte so gern wissen, was in ihm vorging. Ich fühlte auch Mitleid, wenn ich in seine tränenfeuchten Augen blickte.

Eines Abends folgte ich ihm, als er, nachdem die Marktleute mit ihren Ständen abgezogen waren, mit seinem langen Schatten im Schlepptau der untergehenden Sonne entgegenging. Ich tat es heimlich, weil ich sein Geheimnis erfahren wollte. Ich wollte auf keinen Fall von ihm entdeckt werden. Aber er spürte, dass ich ihm folgte, hielt inne, wandte sich nach mir um und verbeugte sich ehrerbietig.

»Verehrter Freund, ich bitte Sie doch, das zu unterlassen!«

Ich machte ihn nach und sagte im selben gekünstelten Tonfall: »Verehrter Freund! Ich habe nichts getan.«

Bemitleidenswert, jämmerlich war er, als er mir antwortete: »Ich möchte sagen, bitte folgen Sie mir nicht!«

Ich wieder: »Du gehst hier, und ich gehe hier auch. Ich folge dir nicht.«

Er schüttelte den Kopf und murmelte: »Bitte hab doch Mitleid mit einem Unglückseligen wie mir!«

Er drehte sich um und setzte seinen Weg fort. Ich folgte ihm immer noch ... Er begann zu rennen, mit Riesenschritten, die Knie hob er hoch bis zum Bauch und lief leicht wie eine Feder mit schwankendem Körper, wie eine Anziehpuppe aus Papier. Ich strengte mich nicht weiter an und hatte ihn schon bald eingeholt. Schnaufend, außer Atem, mit einem Gesicht wie aus goldenem Totenpapier bettelte er tränenüberströmt:

»Freund, ich flehe Sie an, lassen Sie mich laufen! Ich bin ein Stück Müll, ein ehemals Schwerverletzter ...«

Ich war gerührt, blieb stehen und folgte ihm nicht mehr, hörte aber noch eine Weile zu, wie seiner Kehle wimmernde Laute entfuhren. Dabei hatte ich nur etwas über sein Leben erfahren wollen, wohin er nachts zum Schlafen ging, mehr nicht.

Damals war ich ein Teenager von dreizehn, vierzehn Jahren mit staksigen, langen Beinen und Riesenschuhen, bereits Größe 40. Meine Mutter hatte mit meinen großen Füßen ihren Kummer. Unser Sportlehrer Chen hatte früher einmal auf Provinzebene Leichtathletik betrieben. Er hatte damals zur Mannschaft von Shandong gehört, ein echter Spitzenathlet, aber ein Rechter. Wie ein Pferdehändler auf dem Maultiermarkt hatte er mir in Beine und Füße gekniffen und war zu dem Schluss gekommen, dass bei mir die Substanz gut sei und er mich besonders fördern wolle. Er lehrte mich die Beine richtig heben, in großen Schritten laufen, dabei ausgewogen atmen und die eigenen Kräfte einteilen. Ich erreichte von allen Grund- und Mittelschülern bei uns im Kreis über dreitausend Meter den dritten Platz. Wegen dieses guten Ergebnisses wurde es bei uns im Dorf geduldet, es war sozusagen inoffiziell erlaubt, dass ich regelmäßig den Unterricht schwänzte und als Training zum Fischmarkt rannte.

Nachdem ich Qin Strom hinterhergerannt war, wurden wir beide Freunde. Wenn wir uns sahen, nickte er mir jedes Mal aufmerksam zu. Er war zwölf, dreizehn Jahre älter als ich. Es war ein bisschen, als suche ein älterer Mann einen Eleven als Freund, damit er sein Altern vergisst. Außer ihm gab es auf dem Markt noch zwei andere Bettler, einen breitschultrigen Typen mit großen Pranken, namens Gao Men, der wohl Riesenkräfte hatte. Und einen anderen, der Lu Huahua hieß und an Gelbsucht litt. Warum er diesen mädchenhaften Vornamen Huahua trug, kann ich nicht sagen. Eines Tages sah ich zu, wie die beiden Bettler Qin Strom mit vereinten Kräften brutal zusammenschlugen, der eine mit einer Weidenrute, der andere mit einem kaputten Schuh. Qin Strom wehrte sich nicht, sondern sagte nur immer:

»Schlagt mich nur tot, meine guten Freunde. Ich danke es euch. Aber esst keine Frösche. Frösche sind die Freunde der Menschen. Sie sind nicht genießbar, zudem voller Parasiten. Werden sie trotzdem genossen, erkrankt der Mensch an Wahnsinn.«

Ich bemerkte das Lagerfeuer unter der Weide. Weißer Qualm stieg empor, auf dem Feuer brieten Frösche, die noch nicht gar waren. Neben dem Feuer sah ich die Knochen und die Haut von ein paar anderen Fröschen, die einen ekelerregenden Geruch verströmten. Ich begriff: Qin Strom bekam Prügel, weil er die beiden davon abhalten wollte, Frösche zu essen. Mir kamen die Tränen, als ich ihnen beim Prügeln zusah. Während der großen Hungersnot hatten viele Leute Frösche gegessen. In unserer Familie war das tabu gewesen. Wir hatten uns vor den Froschessern immer sehr geekelt. In unserer Sippe wäre man lieber verhungert. In diesem Punkt waren wir beide Seelenverwandte. Ich griff mir einen rotglühenden Ast aus dem Feuer und hieb Gao Men auf den Hintern, Lu Hua piekte ich damit in den Hals. Dann rannte ich, was ich konnte, immer am Ufer entlang. Ich hielt einen ausreichenden Abstand zu ihnen und neckte sie, damit sie mir weiter hinterherrannten. Als sie mir nicht mehr folgten und stehenblieben, begann ich sie zu beschimpfen und mit Tonscherben nach ihnen zu werfen.

Am Tag der Massenkritikversammlung waren alle Bewohner der vierundzwanzig Dörfer unserer Kommune Schub um Schub, bewehrt mit roten Fahnen, Trommeln, Becken und Hausrat, mit dem man Krach machen konnte, auf dem zugefrorenen Rückhaltebecken zusammengekommen. Manche hatten die Straße genommen, manche waren direkt über den Fluss gelaufen, die Bösewichte aus ihren Dörfern eskortierend, um sie vorzuführen, bevor unser als Machthaber, der den kapitalistischen Weg geht verschrienes Kreisoberhaupt Yang Lin der Massenkritik unterzogen werden würde. Denn die dorfeigenen Bösewichte sollten als Vorgruppe herhalten. Auf dem Fluss gingen wir über das spiegelglatte Eis, manch einer kam auf selbstgebauten Gleitboards. Mein Lehrer Chen, dem ich wegen der Bevorzugung meiner Person so viel verdanke, marschierte barfuß in kaputten Strohsandalen, über das ganze Gesicht grinsend, seinem bitter dreinblickenden Schulleiter hinterher, der wie er einen spitzen Papierhut trug. Xiao Unterlippe trieb sie mit einem Speer in der Hand vorwärts. Sein Vater war damals gerade Leiter des Kommunerevolutionskomitees und Truppführer der Roten Garden an unserer Schule geworden. Das Paar weiße Warrior-Sportschuhe, das er trug, hatte er meinem Lehrer von den Füßen gestreift. Die Schreckschusspistole, die einen doppelten Knall abgab – sie war Staatseigentum, dennoch baumelte sie jetzt um Xiao Unterlippes Lenden – hätte ich gern gehabt. Was hätte ich darum gegeben! Andauernd zog er sie hervor, feuerte einen Schuss ab, lud Schießpulver nach und feuerte wieder ohrenbetäubend gen Himmel: Bum, bum machte es. Dabei zischte weißer Mündungsqualm in die Höhe und füllte die Luft mit wohlriechendem Salpeter- und Schwefelgeruch.

Als die Kulturrevolution begonnen hatte, wäre ich auch gern den Roten Garden beigetreten. Doch Xiao Unterlippe hatte mich nicht haben wollen. Er hatte gesagt, ich, der Zögling des rechtsabweichlerischen Lehrers Chen sei ein schwarzer Schandfleck. Und mein Großonkel, der mit den Japanern unter einer Decke gesteckt habe, sei ein Verräter gewesen ... Ein falscher Held des Volkes. Meine Tante sei ein Spitzel der Kuomintang, Verlobte eines Landesverräters und die Geliebte von einem, der den kapitalistischen Weg gehe.

Um mich an ihm zu rächen, klaubte ich einen Haufen Hundescheiße auf, wickelte ihn in ein paar Blätter und verbarg den Haufen in meiner Hand. Als ich vor ihm stand, rief ich: »Unterlippe, was ist mit deiner Zunge? Die ist ja ganz schwarz!«

Er tappte in die Falle und sperrte sein Maul auf, während ich ihm mit der Scheiße das Maul stopfte. Dann rannte ich, was ich konnte. Er konnte mich nicht einholen. Außer Lehrer Chen konnte mich keiner an der Schule einholen.

Als ich Unterlippe in den Schuhen meines Lehrers, mit dem Speer und der Schreckschusspistole um die Lenden erblickt hatte – diese Memme, mit den Sachen anderer Leute auftrumpfen und sich wer weiß was drauf einbilden –, spürte ich einen brennenden Hass, mit Eifersucht gepaart: Jetzt würde ich ihn fertigmachen! Ich wusste, dass er eine Wahnsinnsangst vor Schlangen hatte. Wo aber sollte ich eine hernehmen, jetzt um diese Jahreszeit? Also griff ich mir einen gammligen, alten Strick, den ich unter den Maulbeerbäumen am Ufer gefunden hatte, wurschtelte ihn mit den Händen zurecht, verbarg ihn hinter meinem Rücken und näherte mich unbemerkt Unterlippe. Schnell warf ich ihm den Strick um den Hals, wand ihn einmal herum und schrie dabei: »Vorsicht, Giftschlange!«

Er gab einen sonderbaren Schrei von sich, schmiss den scharfen Speer fort und griff sich hastig an den Hals, um sich von der Schlange zu befreien. Als er merkte, dass das, was von ihm herabfiel, nur ein Strick war, kam er wieder zu sich. Zähneknirschend hob er den Speer auf und sagte grollend:

»Kleiner Renner, du Konterrevolutionär! Ich mach dich kalt!«

Dabei zielte er mit dem Speer auf mich und stürzte vor, um mich zu bajonettieren.

Ich rannte.

Er hinter mir her.

Beim Rennen auf dem Eis hatte ich Schwierigkeiten mit meiner Lauftechnik, ich spürte einen bedrohlichen, kalten Windzug im Rücken. Gleich würde der Speer meinen Rücken durchbohren ... Ich wusste, dass dieser fiese Kerl ihn auf dem Schleifrad messerscharf gewetzt hatte, dass sein Herz schwarz wie die Hölle, seine Hand tödlich war. Seit Unterlippe die scharfe Waffe besaß, war seine Mordlust noch gewachsen. Grundlos bohrte er, wo er gerade war, seinen Speer in Bäume, er benutzte aus Hirsestroh gefertigte Puppen in Menschengröße als Zielscheiben. Es war nicht lange her, dass er einen Eber, der dabei war, eine Sau zu belegen, totgestochen hatte. Ich rannte und schaute im Laufen hinter mich, sah seine nach oben abstehenden Haare, seinen starr auf mich gerichteten Blick. Wenn er mich jetzt einholte, würde ich mein Leben aushauchen.

Ich rannte, umrundete Hindernisse, schlüpfte zwischen den Menschentrauben hindurch, rannte wieder, fiel hin, rollte, kroch weiter, fast hätte mich sein böser Speer getroffen. Doch daneben! Der Speer bohrte sich ins Eis. Eissplitter flogen auf. Unterlippe fiel hin. Ich rappelte mich auf, rannte weiter. Er rappelte sich auf, verfolgte mich wieder, rempelte Leute an, Frauen, Männer.

Verdorbene Blagen! Was schubst ihr so?

Zu Hilfe! Zu Hilfe!

Mörder!

Einer, der im Rhythmus der zur Bühne marschierenden Bösewichte die Trommel schlug, kam, von mir angerempelt, aus dem Takt – den Bösewichten fielen die spitzen Papierhüte vom Kopf –, ich umrundete Nases Vater Chen Stirn, seine Mutter Alina, Backes Vater Yuan Gesicht – auch er war zu einem Machthaber, der den kapitalistischen Weg geht abgestempelt worden –, und ich preschte an Wang Bein vorbei. Ich sah Mutters Gesicht, hörte ihr lautes Schreien, sah meinen Freund Leber, hörte ein dumpfes Geräusch, dann Unterlippes schmerzverzerrten Aufschrei – später sollte ich erfahren, dass Leber ihm schnell ein Bein gestellt hatte, so dass er vornüber hingeschlagen war und mit den Zähnen ins Eis gebissen hatte. Die Lippen waren aufgeschlagen. Glück hatte er, dass er seine Schneidezähne behalten hatte. Unterlippe rappelte sich wieder auf, wollte es Leber heimzahlen, doch Wang Bein konnte ihn einschüchtern.

»Unterlippe, du Bastard! Wag es, meinem Sohn ein Haar zu krümmen, und ich kratze die deine zwei Augäpfel aus den Augenhöhlen! Wir sind seit drei Generationen Lohnbauern. Auch wenn andere dich fürchten, ich fürchte dich nicht!«

Der Versammlungsort war von Menschen überflutet. Auf dem Rückhaltebecken hatte man eine aus Brettern und Schilfmatten ansehnlich zurechtgezimmerte Bühne aufgestellt. In jenen Zeiten war es in den Kommunen üblich, einen Arbeitstrupp aus handwerklich versierten Männern durchzufüttern, Topleute, die allein zum Bühnenbau oder Tafelbau für die Kampagnen eingesetzt wurden. Auf der Bühne flatterten an die fünfzig rote Flaggen an Fahnenstangen, querformatige Spruchbänder waren aufgehängt, und in den Ecken rechts und links hatte man zwei große Pfosten aufgestellt und vier riesige Lautsprecher daran befestigt. Während die Teilnehmer sich versammelten, ertönte aus den Lautsprechern das Maobibel-Lied:

Wahrheiten des Marxismus gibt es viele,

aber schließlich trifft ein Satz den Kern,

der lautet: Rebellion ist gerechtfertigt!

Rebellion ist gerechtfertigt!

Es war ja so viel los. Wirklich aufregend war das alles. Ich befand mich mitten in der Menge und drängelte mich mit nach vorn. Ich wollte unbedingt einen Platz neben der Bühne ergattern. Die von mir weggeboxten Leute traten ohne einen Funken Höflichkeit mit den Füßen nach mir, hieben mir mit geballter Faust auf den Kopf, keilten mit den Ellenbogen nach mir aus. Nass bis auf die Haut, mit grünen und blauen Flecken am ganzen Körper, hatte ich schließlich meine Kräfte verpulvert. Ich war aber keinen Schritt weiter in Richtung Bühne gekommen, sondern befand mich weiter hinten als zuvor. Ich hörte, wie es unter der Eisoberfläche widerhallte. Mich beschlich eine ungute Vorahnung, als ein Mann mit einer Stimme wie ein Erpel durchs Megaphon brüllte:

»Die Kritik- und Kampfversammlung beginnt! Ich bitte die Armen und die Mittelbauern um Ruhe! Die ersten Reihen sollen sich setzen. Hinsetzen! Hinsetzen!«

Ich verschwand ans Westufer des Rückhaltebeckens. Dort gab es drei Kornspeicher, die auch als Schleusenraum dienen konnten. Ich kam von der rückwärtigen Seite der Speicher, zog mich an den Fugenritzen der Mauer hoch, klammerte mich mit den Händen an der Traufe fest, um mich dann wie eine Steppenweihe im Gaukelflug über die Mauer aufs Dach hinaufzuschwingen. Ich robbte die Dachziegelreihen hoch, kletterte leise auf den First und machte den Hals lang, um mich umzublicken. So weit das Auge reichte, sah ich Abertausende von Menschen und unzählige rote Flaggen. Das Rot füllte meine Augen, und das Eis auf der Wasseroberfläche blendete. Auf der Bühne knieten mit gesenkten Häuptern wohl an die fünfzig Leute. Ich wusste, dass es die Rinder- und Schlangenteufel aus der Kommune waren, die gleich der Massenkritik unterzogen würden. Xiao Oberlippe schrie mit berstender Stimme ins Megaphon. Dieser verkommene Verwalter unseres Brigadekornspeichers hätte sich bestimmt nicht träumen lassen, dass er es, verdammt noch mal, zum Kommandanten bringen würde. Aber seit Beginn der Kulturrevolution führte er die Leute in die Rebellion, denn er hatte eine Truppe mit dem Namen »Sturmrebellen« gegründet und sich selbst zu deren Kommandanten berufen.

Er trug eine verblichene, mit dunklen Flicken gestopfte Militäruniform mit einer roten Armbinde. Spärlicher Haarwuchs umkränzte seine im Sonnenlicht gleißende Glatze. Er imitierte Gestik und Tonfall, die wir von gewichtigen Persönlichkeiten aus Filmen kennen: langgezogene Laute, eine Hand in die Taille gestützt, die andere wild gestikulierend, der Körper in ständig wechselnden, raumgreifenden Posen. Seine Stimme wurde in ohrenbetäubender Lautstärke durch Hochfrequenzlautsprecher übertragen. Wie tosend gegen Stein klatschende Meeresfluten dröhnte das Brüllen der Massen vom Platz zu mir herüber. Offenbar kam es zu Störungen, denn wenn es auf der einen Seite still wurde, donnerte es von der anderen Seite. Ich sorgte mich um meine Mutter und die anderen alten Leute aus unserem Dorf. Also suchte ich mit den Augen das Eis nach ihnen ab, aber es reflektierte die Sonnenstrahlen so stark, dass ich nichts sehen konnte. Der Eiswind blies mir durch meine zerlumpte Steppjacke bis auf die Haut. Ich fror erbärmlich.

Auf einen Wink von Xiao Oberlippe griffen sich zehn, zwanzig Muskelpakete mit roten Armbinden, auf denen »Kontrollposten« stand, einen Knüppel, sprangen von der Bühne in die Menge und ließen die Knüppel tanzen, um die Ordnung zu wahren. An die Knüppelspitzen waren rote Stoffstreifen geknotet, die wie Flammen tanzten. Ein Junge bekam einen Schlag auf den Kopf, griff aufgebracht nach dem Knüppel, diskutierte lautstark mit dem Kontrollposten, bekam aber einen Faustschlag vor die Brust. Die Kontrollposten hatten Gesichter wie Stein. Bar jeden Gefühls schlugen sie zu, der Knüppel machte die Runde, die Menschen warfen sich wie rasend bäuchlings zu Boden. Durch die Lautsprecher schallte Xiao Oberlippes Geschrei.

»Alle setzen! Auf den Boden setzen! Holt die elenden Bösewichte rauf!«

Der Junge, der den Faustschlag auf die Brust bekommen hatte, wurde an den Haaren aus der Menge gleich mit nach oben gezerrt. Da waren unten auf dem Eis alle schlagartig ruhig. Manche knieten, manche saßen. Keiner wagte mehr aufzustehen. Die Kontrollposten stellten sich mit ihren langen Knüppeln gleichmäßig verteilt in der Menge auf. Wie die Vogelscheuchen im Feld!

»Zerrt die Rinder- und Schlangenteufel auf die Bühne!«, brüllte Oberlippe. Die Kontrollposten mit den Steingesichtern brachten die Rinder- und Schlangenteufel immer zu zweit auf die Bühne, einer packte sie von rechts, einer von links unterm Arm, so dass ihre Füße den Boden nicht mehr berührten.

Ich sah meine Tante.

Gugu gehorchte nicht. Als der Kontrollposten ihr den Kopf auf den Boden drückte und nur eben die Hand lockerte, kam sie geschwind wieder hoch. Ihr Widerstand machte ihn nur brutaler, er zwang sie nieder, prügelte sie, dass sie bäuchlings auf dem Boden zu liegen kam, während ein anderer Kontrolleur den Fuß auf ihren Rücken stellte und darauf stehen blieb. Da sprang so ein Parolenschreier aus der Menge auf die Bühne und brüllte eine Parole. Aber sehr spärlich tönte die Antwort. Das missfiel ihm, und er machte sich gleich wieder davon. Im selben Moment ertönte gellendes Weinen. Es war meine Mutter.

»Himmel, bewahre meine arme Schwägerin! Ihr Bestien, ihr sündigen, elenden, ihr seid schlimmer als Tiere!«

Unterlippe gab den Befehl, die Rinder- und Schlangenteufel wieder hinunterzubringen, damit er meine Tante allein auf der Bühne hatte. Der Kontrollposten stand immer noch mit einem Fuß auf ihrem Rücken und machte ein furchtloses Heldengesicht. Seine Pose sah aus wie eine Illustration der damals üblichen Parolen – »den Klassenfeind zu Boden werfen und einen Fuß auf ihn setzen«. Meine Tante bewegte sich nicht mehr. Ich befürchtete, sie sei bereits tot. Das Weinen meiner Mutter war verstummt. Ich hatte Angst, auch sie sei tot.

Die von der Bühne hinuntergetriebenen Rinder- und Schlangenteufel drängten sich um die große Pappel. Ein paar Aufseher bewachten sie mit gezückten Gewehren. Wie die Bösewichte da mit hängenden Köpfen auf dem Boden hockten, sahen sie aus wie eine Tonskulpturengruppe. Huang Qiuya saß mit dem Rücken zur Mauer, den Hinterkopf angelehnt. Man hatte ihr die Haare mit einer Schere auf einer Seite bis zum Scheitel abgeschnitten, es sah grässlich aus. Ich hatte aufgeschnappt, dass meine Tante in der Anfangsphase der Kampagne eine der Gründerinnen des »Henry Norman Bethune Kampftrupps« unseres Krankenhauses gewesen war. Und dass sie sich sehr heißblütig am Kampf beteiligt habe, auch gegen ihren alten Krankenhausdirektor, der sie einmal in Schutz genommen hatte, und noch gemeiner gegen Huang Qiuya. Ich kann schon verstehen, dass meine Tante dies aus Selbstschutz getan hatte. Wie jemand, der im Dunklen durch die Nacht reisen muss und lauthals singt, dessen Herz sich aber zur gleichen Zeit ängstlich zusammenkrampft. Ihr alter Direktor war ein warmherziger Mensch gewesen. Er hatte der Erniedrigung nicht standgehalten und sich im Brunnen ertränkt.

Huang Qiuya brachte nun, vielleicht aus Rache, vielleicht, weil sie sich genötigt fühlte, manches über meine Tante und Wang Xiaoti an den Tag und lieferte Beweise für geheime Kontakte, die beide unterhalten hätten. Sie sagte, dass Wan Herz nachts im Traum laut »Wang Xiaoti« gerufen habe und dass sie sie eines Nachts, als sie Nachtschicht gehabt habe und darum erst spät ins Wohnheim zurückgekommen sei, nicht angetroffen habe. Wohin eine trübsinnige, alleinstehende Frau denn mitten in der Nacht wohl zu laufen hätte? Auf der Suche nach ihr habe sie sie am Ufer des Kiaolai-Flusses im Weidenwald stehen und drei rote Rauchsignale abschießen sehen. Kurz danach sei aus großer Höhe das Brummen von Flugzeugmotoren zu hören gewesen. Nach einiger Zeit habe sich jemand heimlich ins Wohnheim geschlichen. Der Gestalt nach sei es zweifellos Wan Herz gewesen. Dem Krankenhausdirektor habe sie darüber sofort Bericht erstattet, der jedoch sei wie Wan Herz ein »Machthaber, der den kapitalistischen Weg geht«, und er habe nichts verlauten lassen. Wan Herz sei zweifelsohne eine Spionin der Kuomintang.

Diese Geschichte hätte schon gereicht, um meine Tante unter die Erde zu bringen, aber Huang Qiuya hatte noch eine weitere in petto und berichtete, meine Tante sei oft in die Kreisstadt gefahren, weil sie eine Affäre mit dem Kapitalisten Yang Lin habe, und sie sei von ihm auch schwanger geworden, die Abtreibung habe sie, Huang, eigenhändig vorgenommen.

Die Massen sind erfinderisch, wenn’s ums Ausschmücken und Dazuerfinden geht, sie verfügen über eine überbordende, bösartige Phantasie. Huang Qiuya hatte zwei große Verbrechen meiner Tante aufgedeckt und damit die Sensationslust der Massen befriedigt. Die Massen hatten ihren Hunger nach Sensationen umso mehr gestillt, weil Gugu nichts von alledem zugegeben, sondern beständig Widerstand geleistet hatte. Die Tage, an denen man bei uns in Nordost-Gaomi diese Kritik- und Kampfversammlungen abhielt, wurden zu berühmten Schandtagen. Jedes Mal stritt meine Tante unablässig und lauthals alle Vorwürfe ab.

Ich verfolgte alles vom Dach aus; ich befand mich oberhalb von Huang Qiuya und hatte deshalb ihren geschorenen »Yin und Yang-Kopf« im Blick. Ich verspürte Hass, Mitleid, Verstörung, Horror und Trauer. Ich nahm einen Ziegel vom Dach und zielte damit auf ihren Kopf. Ich hätte nur die Hand öffnen müssen, und der Ziegel wäre hinunter auf ihren Kopf gefallen. Aber ich kam ins Grübeln, schließlich tat ich es nicht.

Viele Jahre später erzählte ich meiner Tante davon.

»Ich bin dir dankbar dafür, dass du es nicht getan hast! Sonst wäre mir noch mehr Schuld aufgeladen worden und die Anklage noch schwerer ausgefallen.«

Auf ihre alten Tage meinte sie immer, dass sie Schuld auf sich geladen habe, und zwar eine besonders schwerwiegende Schuld, von der sie niemals frei werden würde. Ich fand, sie sollte die Schuld nicht nur bei sich selbst suchen. In jener Zeit habe doch keiner besser gehandelt als sie, da habe man nehmen können, wen man wollte. Aber meine Tante sagte nur immer: »Kind, du verstehst das nicht.«

Als sie Yang Lin auf die Bühne zwangen und vorführten, nahm der, der mit einem Bein auf dem Rückgrat meiner Tante stand, seinen Fuß weg. Sie zogen sie hoch und stellten sie mit vornüber gebeugtem Oberkörper und nach unten gepresstem Kopf, die Arme auf dem Rücken gefesselt, neben Yang Lin auf. Die Pose glich der Form nach dem Tiger-5 Jet, den dieser Wang Xiaoti geflogen hatte. Ich konnte auf Yang Lins Glatze herabgucken.

Noch vor einem halben Jahr hatte er sich in so göttergleichen, unerreichbaren Sphären bewegt, dass wir uns schon Hoffnungen gemacht hatten, meine Tante könnte sich mit ihm auf ewig verbinden, obschon er doch zwanzig und mehr Jahre älter als sie war. Sie hätte zwar nur den Platz seiner verstorbenen Gattin eingenommen, aber dadurch wäre sie Ehefrau des Parteisekretärs geworden. Mit dem stattlichen monatlichen Sold eines hohen Kaders war er eine Persönlichkeit gewesen, die, Sekretär und Polizist im Gefolge, in einem grasgrünen Jeep aufs Land chauffiert worden war. Jahre später sagte mir Gugu einmal:

»Ich hätte ihn gern geheiratet, obwohl ich mich mit ihm nur ein einziges Mal getroffen hatte, obwohl ich auch seinen Bauch nicht leiden konnte, der aussah wie der einer im achten Monat Schwangeren, obwohl ich auch den strengen Knoblauchgeruch aus seinem Mund nicht mochte und obwohl ich doch sah, dass er eigentlich ein ungebildeter Bauer war. Aber euch, unserer ganzen Sippe zuliebe hätte ich ihn gern geheiratet.«

Gugu erzählte, dass, nachdem sie in die Kreisstadt gefahren war, um sich mit Yang Lin zu treffen, schon anderntags der Kommuneparteisekretär Qin Shan auf der Krankenstation zur Inspektion erschien. Mit einem unterwürfigen Lächeln, sich mit schönen Worten anbiedernd, kam er in Begleitung des Direktors auf die Entbindungsstation. Dieser lakaienhafte Duckmäuser! Gugu sagte, er sei früher ein so stolzer Mann gewesen! Welch dominante Aura er gehabt hätte! Und binnen eines Wimpernschlags hätte er sich so verändert, sich solch eine Visage zugelegt. Das gab Gugu schwer zu denken.

»Allein um diesen kriecherischen Liebediener loszuwerden, hätte ich Yang Lin geheiratet. Wenn nur nicht die Kulturrevolution gekommen wäre!«

Auf die Bühne stieg nun eine kleinwüchsige, dralle Rotgardistin, die ein Paar ausgelatschte Schuhe mit hinaufbrachte. Einen hängte die Yang Lin, den anderen Gugu an den Hals.

Gugu sagte mir später, als Konterrevolutionärin, Spionin oder was immer sonst verunglimpft zu werden, sei nichts gegen die Schmach, sich »ausgetretener Schuh« – leichtes Mädchen – schimpfen zu lassen. Diese Schande habe sie nicht ertragen. Diese völlig aus der Luft gegriffene Erniedrigung!

Gugu riss sich den ausgelatschten Schuh vom Hals und schleuderte ihn mit aller Wucht von sich. Als seien ihm Augen gewachsen, landete er unmittelbar vor Huang Qiuya. Die Rotgardistin machte einen Luftsprung, griff in die Haare meiner Tante und riss sie mit aller Kraft nach unten, Gugu machte den Hals steif und leistete dem Mädchen Widerstand. Es war wie Tauziehen.

»Tante, bitte, bitte nimm den Kopf runter. Sie wird dich skalpieren! Die Dicke ist doch mindestens hundert Pfund schwer! Wie sie deinen Haarschopf mit beiden Händen wringt! Der steht schon stramm von deinem Körper ab.«

Gugu ruckte wie ein stürmisches Pferd, das die Mähne wirft, abrupt mit dem Kopf. Die zwei Haarbüschel, die das Mädchen mit den Händen umkrallt hielt, wurden dabei ausgerissen. Hellrotes Blut triefte vom Kopf meiner Tante.

Bis heute sind ihr davon zwei kupfermünzengroße Narben geblieben.

Blut floss in Strömen über ihre Stirn, floss ihr über die Ohren hinab. Aber sie stand aufrecht und beugte sich nicht. Totenstille unterhalb der Bühne. Ein Esel vor einem Karren machte den Hals lang und brüllte sein schrilles Iah. Ich hatte kein Weinen meiner Mutter mehr gehört. Aschfahle Leere breitete sich in meinem Herzen aus.

Huang Qiuya griff sich den ausgelatschten Schuh vor ihren Füßen, rannte los, hinauf auf die Bühne. Ich nehme an, sie wusste nicht, was dort oben geschehen war, denn sonst wäre sie mit Sicherheit unten geblieben. Oben angekommen, erstarrte sie zur Salzsäule. Sie warf den Schuh fort, murmelte etwas und wich Schritt um Schritt zurück. Xiao Oberlippe hechtete auf die Bühne und brüllte:

»Wan Herz! Wie führst du dich hier auf!«

Er ruderte mit den Armen und feuerte sich selbst beim Parolenschreien an. Er wollte damit die Stimmung wieder in Schwung bringen. Keiner der vielen, die unterhalb der Bühne saßen, stimmte jedoch mit ein. Die Dicke umklammerte immer noch die zwei Haarbüschel samt Kopfhaut. Wie zwei Schlangen baumelten sie in ihren Händen, als sie damit, schreiend wie ein Kleinkind, die Bühne hinabstolperte.

»Stillgestanden!«, brüllte Oberlippe die zurückweichende Huang Qiuya an. Er zeigte mit dem Finger auf den Schuh. »Häng ihr den Schuh um!«

Hellrotes Blut floss über Gugus Ohren, strömte über die Brauen, floss in ihre Augen, floss ihren Hals herunter. Gugu hob die Hand und wischte sich das Blut aus dem Gesicht.

Huang Qiuya bückte sich, hob den Schuh auf und ging zitternd wie Espenlaub auf sie zu. Meine Tante hob den Kopf und blickte ihr in die Augen. Ein monströser Schrei entwich ihr. Dann spuckte sie weißen Schaum und fiel bewusstlos hintenüber.

Wie einen toten Straßenköter zerrten die zuspringenden Rotgardisten sie von der Bühne.

Xiao Oberlippe griff sich Yang Lin am Kragen und trat ihm in die Kniekehlen, damit er sich aufrichtete. Er hing mit schlackernden Armen, krummen Beinen, am ganzen Körper schlaff, in seinem Hemd. Hätte Oberlippe den Griff gelockert, wäre er sofort ohnmächtig zu Boden gegangen.

»Wan Herz widersetzt sich halsstarrig. Ihr bleibt nur noch der Tod. Wenn aus ihr nichts rauszubekommen ist, sei du wenigstens gefügig. Wenn du alles frei preisgibst, werden wir milde mit dir verfahren. Wenn du dich weigerst, sind wir unerbittlich!«, fuhr Xiao Oberlippe ihn an. »Sag schon, wie oft habt ihr beide es miteinander getrieben?«

Yang Ling sagte keinen Ton.

Oberlippe winkte einen Riesenkerl herbei, der Yang Lin an die zwanzig Backpfeifen verpasste. Mit beiden Händen abwechselnd teilte er aus. Es schallte hell bis in die Bäume hinauf. Ein paar kleine weiße Dinger fielen zu Boden. Wahrscheinlich waren es seine Zähne. Er schwankte, drohte hinzufallen, aber der Kerl hielt ihn am Kragen. Er ließ nicht zu, dass er zu Boden ging.

»Nun los! Habt ihrs miteinander getrieben?«

»Haben wir.«

»Wie oft?«

»Einmal ...«

»Sag gefälligst die ganze Wahrheit!«

»Zweimal ...«

»Du lügst mich an!«

»Dreimal, viermal, zehnmal, oft, ich erinnere mich nicht.«

Meine Tante stieß einen Schrei aus, der einem das Blut in den Adern gefrieren ließ. Wie eine Löwin, die sich auf ihre Beute stürzt, sprang sie herbei und fiel über Yang Lin her. Der lag bewusstlos am Boden, während sie ihm das Gesicht zerkratzte. Ein paar kapitale Burschen aus dem Kontrolltrupp brauchten all ihre Kraft, um sie von Yang Lin zu trennen.

Auf dem Eis hörte man ein monströses Geräusch. Die Eisschicht fing an zu bersten. Viele Menschen brachen ein und gingen im Eiswasser unter.

Загрузка...