Verehrter Yoshito Sugitani san!
Heute ist Neujahrstag, der erste Tag im chinesischen neuen Jahr, das wir nach unserem Bauernkalender feiern. Gestern in den frühen Abendstunden begann es zu schneien, und bis jetzt hat es nicht aufgehört. Draußen ist schon alles von einer blütenweißen Schicht überzogen, von der Straße her schallt fröhliches Kinderlachen, denn die Kinder spielen dort im Schnee. Auf unserer großen Pappel vor dem Haus sitzen zwei Elstern. Ihr Keckern verheißt uns Glück.
Wie ist mir schwer ums Herz, seit ich Ihren Brief zu Ende gelesen habe, verehrter Yoshito Sugitani san. Mir wäre es nicht in den Sinn gekommen, dass Sie wegen meiner Briefe an schwerer Schlaflosigkeit leiden könnten, dass sie Ihnen körperlich so zusetzen würden. Mich rührt Ihre Anteilnahme zutiefst. Lieber Freund, Sie schreiben, dass Ihnen die Tränen kamen, als Sie lesen mussten, wie Wang Renmei starb. So ging es mir auch! Mir liefen die Tränen in Strömen über die Backen, als ich es Ihnen schilderte. Ich beklage mich gar nicht über Gugu. Ich finde nicht, dass es ihr Fehler war, auch wenn sie sich auf ihre alten Tage wie ein Beichtkind ständig Selbstvorwürfe macht und meint, ihre Hände seien voller Blut. Es ist Vergangenheit, ist Historie geworden. Die Geschichte vermerkt das Ergebnis und ignoriert den Weg dorthin. So ist es auch mit der chinesischen Großen Mauer oder den ägyptischen Pyramiden. Man bewundert die großartige Leistung, übersieht aber die unzähligen Menschen, die dafür ihr Leben ließen. In den letzten fast dreißig Jahren haben es die Chinesen mit Hilfe extremer Methoden schließlich geschafft, die Bevölkerungsexplosion zu begrenzen. Nicht nur, um die Entwicklung der eigenen Nation zu forcieren, sondern um einen Beitrag zur Bevölkerungsentwicklung der gesamten Menschheit zu leisten. Denn wir alle möchten diesen kleinen Planeten weiter bewohnen. Die Ressourcen sind verschwindend gering und, einmal verschwendet, nie wiederzugewinnen. Von dieser Warte aus betrachtet, ist die Kritik des Westens an der chinesischen Bevölkerungspolitik unangebracht.
In den letzten zwei Jahren hat sich mein Heimatort sprunghaft verändert. Der neue Parteisekretär ist ein junger Typ von nicht mal vierzig Jahren, der seinen Doktor in den USA gemacht hat – ein imposanter Mann mit großen Visionen. Man hört, dass er das Gebiet an beiden Ufern des Kiaolai wirtschaftlich erschließen will. Etliche Großprojekte sind bereits von Ingenieuren in Angriff genommen worden. Nur wenige Jahre werden vergehen, und die Landschaft zu beiden Seiten des Flusses, die Sie bei Ihrem letzten Besuch gesehen haben, wird ausgelöscht sein. Ob diese auf uns zukommenden Veränderungen nun positiv oder negativ zu bewerten sind, darüber maße ich mir kein Urteil an.
Diesem Brief füge ich auch gleich das dritte Paket mit Berichten über meine Tante bei – ich mag sie nicht mehr Briefe nennen, da sie so zahlreich geworden sind. Es ist mir zu peinlich. Natürlich schreibe ich weiter, denn Ihr Lob, Sugitani san, treibt mich an.
Wir Dörfler laden Sie, Herr Sugitani san, hiermit noch einmal herzlichst ein, unser Gast zu sein und uns zu besuchen, sobald es Ihre Zeit erlaubt. Wir werden Sie wie einen alten Freund ohne steife Höflichkeitsrituale herzlich bei uns aufnehmen.
Noch eins: ich und meine Frau werden bald in Rente gehen und das zum Anlass nehmen, wieder heim in unser Dorf zu ziehen. Von Anfang an haben wir uns in Peking wie Fremde gefühlt. Kürzlich beschimpften sich zwei Frauen, die angeblich wie Schwestern in einem unserer engen Pekinger Hutongs zusammen aufwuchsen, grundlos ganze zwei Stunden in voller Lautstärke. Das bestärkte uns in unserem Entschluss, in die Heimat zurückzukehren. Dort werden die Menschen hoffentlich nicht derart verletzend miteinander umgehen, und dort ist man der Literatur dann hoffentlich näher.
Kaulquappe
Peking, am Neujahrsmorgen 2004